Wir sind wie Stachelschweine, streben zueinander, um uns an der Gemeinschaft zu wärmen; wenn wir jedoch zu nahe aneinander geraten, bekommen wir die Stacheln unserer Schwächen und Egoismen zu spüren. So die viel zitierte Stachelschweinparabel, mit welcher Arthur Schopenhauer (1788–1860) den Antagonismus von geselliger Ungeselligkeit spöttisch zum Ausdruck bringt.
Gegenwärtig formiert sich in der politischen Arena ein neues Gemeinschaftsbedürfnis, das sich unter anderem aus dem Unbehagen an der wachsenden Pluralität in der Migrationsgesellschaft speist und identitären Bewegungen europaweit Aufschwung verleiht. Auch die Unabhängigkeitsbestrebungen und nationalen Abgrenzungstendenzen, wie sie – allerdings mit sehr unterschiedlichen Kausalitäten und Kontexten – beispielsweise in Großbritannien, Polen und Katalonien die öffentlichen Debatten prägen, sind Ausdruck aktueller Transformationen politischer „Wir“-Konstruktionen.
Der Drang, enger zusammenzurücken, ist nicht neu: In der Politischen Philosophie wird er seit über dreißig Jahren unter dem Leitbegriff „Kommunitarismus“ diskutiert. Demnach deute ein rapider Zerfall von Gemeinschaften auf eine „schwere soziale Erkrankung“ hin. Viele Menschen seien hauptsächlich mit der Emanzipation von den Zwängen beengender Gemeinschaften beschäftigt, ohne zu merken, dass die Mehrzahl der individuellen und gesellschaftlichen Lebensprobleme heute nicht von einem Zuviel an Gemeinschaft ausgehe, sondern von ihrem Verlust und der damit verbundenen Unverbindlichkeit moralischer Standards. Die Zeit sei reif für einen Neubeginn, eine gesellschaftliche Erneuerung, die den Akzent wieder auf das „Wir“, den Gemeinschaftsgeist und die gemeinschaftlichen Werte lege.
Neuvermessung der Spannung zwischen Ich und Wir
Der Kommunitarismus ist Indiz dafür, dass die Zuordnung von Individuum und Gesellschaft einer Neuvermessung bedarf. Politik mit christlichem Anspruch ist dabei in besonderer Weise herausgefordert, Kriterien zu entwickeln, die helfen, die Stachelschweinexistenz eines haltlosen Hin-und-Her-Schwankens zwischen idealisiertem Wir und solipsistischem Individualismus zu vermeiden.
„Ein Mensch ist kein Mensch“, lautet ein bekannter Topos der christlich-humanistischen Diskussion um das Menschenbild. Der Mensch ist ein zoon politikon, animal sociale, Gemeinschaftswesen. Steckt hinter solchen Aussagen ein romantisiertes Ideal von Gemeinschaft? Nein, denn „Ich“ und „Wir“ sind voneinander abhängig. Das Selbstwertgefühl des Menschen hängt davon ab, ob andere sich auf ihn verlassen können. ISondividuelles Streben nach Bedürfniserfüllung allein befriedigt auf Dauer nicht. Die These des Evolutionsforschers Michael Tomasello zu den Ursprüngen menschlichen Denkens und menschlicher Moral lautet, dass der Mensch in der wachsenden Interdependenz mit anderen nur durch die Ausbildung einer „geteilten Intentionalität“ des „Wir“ dazu in der Lage war, die Grundlagen für Moralität zu entwickeln, die uns als „ultrakooperativen Primaten“ einen entscheidenden Evolutionsvorteil ermöglichte. Weil die Werte des Sittlichen in der Gemeinschaft ihren konkreten „Sitz im Leben“ haben und dort gelernt und gelebt werden, kann man Gemeinschaft als die „substantielle Sittlichkeit“ (Hegel) bezeichnen.
Die Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft wurde 1887 von dem Soziologen Ferdinand Tönnies (1855–1936) eingeführt. Solidarische Gemeinschaften seien anthropologisch und sozial vorrangig: „Die Theorie der Gemeinschaft geht von der vollkommenen Einheit menschlicher Willen als einem ursprünglichen oder natürlichen Zustande aus.“ Gesellschaft definiert Tönnies im Unterschied hierzu als Beziehungsfeld „mechanischer Aggregate und Artefakte“, die auf wechselseitigen Vorteil angelegt seien; es herrsche allgemeine Konkurrenz, die durch Konvention oder Vertrag in Grenzen gehalten wird. So hilfreich die Unterscheidungen von Tönnies sind, es lässt sich jedoch kaum übersehen, dass in der Rezeption seines Modells ein romantisch aufgeladenes Gemeinschaftsideal – gerade auch innerhalb des Katholizismus – die Kritikfähigkeit gegenüber kollektivistischen Politikmodellen in den 1920er- und 1930er-Jahren geschwächt hat. Vor diesem Hintergrund waren das verspätete Bekenntnis zu den individuellen Menschenrechten (1963 in der Enzyklika Pacem in terris) und die differenzierte Interpretation des Gemeinwohlprinzips wichtige Lernprozesse. Letzteres wird nicht mehr als Kollektivaggregat verstanden, sondern als Gefüge der Bedingungen für die Entfaltung der Individuen.
Nicht ohne Freiheit
Einheit in Vielheit ist das Leitbild von Gemeinschaft in der christlich-ökumenischen Tradition. Nicht Einheitlichkeit, sondern die wechselseitige Bereicherung durch Verschiedenheit der Fähigkeiten steht im Zentrum. Das Konzept „Einheit in Vielfalt“ kann paradigmatisch für eine zukunftsweisende Differenzierung des Gemeinschaftsideals sein. Wenn man Gemeinschaft nicht als Zustand von Übereinstimmung, sondern als Prozess der Kommunikation und des Austauschs zwischen Individuen versteht, setzt sie diese Verschiedenheit und Differenz voraus. Ohne individuelle Freiheit und Verschiedenheit ergibt sich keine Gemeinschaft, sondern ein Kollektiv, eine Masse. Im Hinblick auf den Kommunikationsprozess ist Differenz nicht primär ein Mangel an Gemeinschaft, sondern im Gegenteil eine Voraussetzung und teilweise auch ein Maß für ihre Lebendigkeit.6 Wer existenzielle Einsamkeit erfahren und seine Individualität entfaltet hat, ist dadurch zu vertiefter Gemeinschaft fähig.
Entscheidend ist also nicht einfach die Balance von individualistischen und gemeinschaftlichen Elementen, sondern die dynamische Integration von Formen der fairen und offenen Konfliktregelung im Gemeinschaftsleben. In seiner berühmten Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung fasst Georg Simmel Streit und Konflikt als ein konstruktives Element von Gemeinschaftsbildung auf. Die Schnittmengen zwischen den individuell unterschiedlichen Interessen und Überzeugungen müssen jeweils neu erstritten werden, um der Gemeinschaft eine freiheitliche Substanz zu geben. Diese ist nicht ein Minimalkonsens, sondern ein Wertentstehungsprozess, der einerseits an persönliche Ressourcen anknüpft, andererseits diese auch zu transzendieren vermag. „Werte entstehen in Erfahrungen der Selbstbildung und Selbsttranszendenz“, wie der Sozialphilosoph Hans Joas es ausdrückt.
Aus den skizzierten anthropologischen, theologischen und sozialphilosophischen Grundlagen ergeben sich vielfältige Konsequenzen, die für den aktuellen politischen Diskurs hier in drei Thesen zusammengefasst werden:
1. Demokratische Streitkultur ist unter den Bedingungen der digitalen Kommunikationsmedien neu zu lernen.
Die Demokratie ist eine „Streitordnung“: Der durch Regeln kanalisierte Konfliktaustrag führt im Idealfall dazu, dass sich das/die/der Bessere zum Wohle aller durchsetzt. Die Lebendigkeit der Demokratie hängt von der Qualität der Streitkultur ab. Sie inszeniert den ständigen Konflikt als Mittel der Problemlösung. Allerdings können demokratische Gemeinschaften auch zerfallen, wenn die Differenzen so groß sind, dass ihre Mitglieder sich nicht mehr zutrauen, sie verbal zu „bearbeiten“, und der Minderheitenschutz vernachlässigt wird. Ein politisches Gemeinwesen, das trotz aller Differenzen kooperations- und kompromissfähig bleiben will, braucht Offenheit, Vertrauen, Fairness und vor allem die Fähigkeit, zwischen der Sachebene und der Beziehungsebene zu unterscheiden. Die gegenwärtige Ausbreitung postfaktischer, populistisch-aggressiver Kommunikationsformen, die Standards der politischen Kultur unterlaufen und den jeweils anderen absprechen, „das Volk“ zu repräsentieren, gefährdet die Demokratie. Bisher ist das auf rationale Diskurse abgestellte Modell der deliberativen Demokratie nicht hinreichend auf die durch die digitalen Medien in „Echokammern“ verstärkten politischen Emotionen vorbereitet.
2. Gemeinschaftsbildung in offenen Gesellschaften braucht Gelegenheitsstrukturen.
Funktionierende Gemeinschaften können nicht auf Befehl geschaffen werden, sondern sie müssen durch Kommunikation, persönliche Begegnung, den Aufbau von Vertrauen, die Klärung von Konflikten und die Herausbildung eines von allen getragenen Konsenses wachsen. Dafür müssen entsprechende Bedingungen geschaffen werden, zum Beispiel durch die Gestaltung öffentlicher Begegnungsräume, statt urbane Plätze als standardisierte Konsum- und Transitmeilen zu anonymen „Nicht-Orten“ (Marc Augé) werden zu lassen. Bei aller Begeisterung für das Gemeinschaftsideal sollte man nicht übersehen, dass der weltweite Trend hin zu urbanen Zentren und damit der Auflösung geschlossener oder dörflicher Gemeinschaften ungebrochen ist. Zukunftsfähige Gemeinschaftsformen müssen sich unter den Bedingungen und Mentalitäten spätmoderner Pluralität etablieren können. Zielperspektive kann deshalb nicht die Rekonstruktion traditioneller Gemeinschaftsbilder durch den Ausschluss der „anderen“ und „Fremden“ sein, sondern ihre Transformation im Blick auf sich wandelnde Bedürfnisse und Herausforderungen. Gemeinschafsbildung in offenen Gesellschaften benötigt Gelegenheitsstrukturen für gelingende Kommunikation; sie basiert auf einer am Subsidiaritätsprinzip orientierten Synthese von Einheit und Pluralismus, in der sich Gemeinschaften dynamisch von „unten“ her aufbauen.
3. Aktive Bürgergesellschaften sind Ursprungsorte neuer Formen der Gemeinschaftsbildung.
Vor allem über Gemeinschaften im mittleren Bereich zwischen Individuum und Staat können Menschen zur Beteiligung und Mitwirkung an öffentlichen Belangen motiviert werden. Die neuen sozialen Bewegungen der Zivilgesellschaft, die sich als Bürgerinitiativen, Kampagnen-Netzwerke, Verbände oder Selbsthilfegruppen formieren, sind Ausdrucksformen der Suche nach Gemeinschaft und Mitverantwortung. Sie sind eine politisch notwendige Ergänzung zu Wahlen, um die Bürger wirksam an öffentlichen Entscheidungen zu beteiligen. Familie, Schule, Verbände, Kirchen und andere Grundformen der Gemeinschaft sind Infrastrukturen der Moral: Erfahrungsräume, in denen sittliches Verhalten entstehen, eingeübt und praktiziert werden kann. Ein funktionierendes Gemeinwesen ist auf solche Räume angewiesen und versteht ihre Förderung als öffentliche Aufgabe. Die Bereitschaft zu freiwilligem Engagement ist auch in liberalen Gesellschaften unvermindert hoch, wenngleich sich die Formen ändern, zum Beispiel kurzfristiger, punktueller, jedoch häufig internationaler und organisatorisch professioneller werden. Man kann diese Formveränderung als „solidarischen Individualismus“ (Ulrich Beck) umschreiben.
Politik muss sich gegenwärtig im Spannungsfeld zwischen Ich und Wir neu verorten. Orientierungslinien im Geist Christlicher Sozialethik sind dabei: die Fairness demokratischer Streitkultur; die Achtung der Freiheit des Einzelnen und der Minderheitenschutz nach menschenrechtlichen Standards; die Inklusion, Integration und Solidarität mit Randgruppen; die Bereitstellung von Infrastrukturen für die Entstehung von gesellschaftlichem Zusammenhalt und der Raum für kulturelle Vielfalt. Man kann dies als Option für einen gemeinschaftsfähigen Liberalismus zusammenfassen.
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Markus Vogt, geboren 1962 in Freiburg im Breisgau, Inhaber des Lehrstuhls für Christliche Sozialethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Felix Geyer, geboren 1986 in Coburg, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Christliche Sozialethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München, promoviert zur Frage der Entstehung und Generalisierung von Werten.