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Zu den Defiziten amerikanischer Institutionen und erforderlichen grundlegenden Reformen

Steven Levitsky / Daniel Ziblatt: Die Tyrannei der Minderheit. Warum die amerikanische Demokratie am Abgrund steht und was wir daraus lernen können, Deutsche Verlags-­Anstalt, München 2024, 352 Seiten, 26,00 Euro.

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2018 war es das Buch der Stunde: Wie Demokratien sterben. Nun legen die Autoren besorgt nach. Bereits damals fiel ihr Fazit ebenso nüchtern wie beunruhigend aus: Demokratien verschwinden leise. Sie läuten nicht, wenn sie gehen. Auf einmal sind sie weg.

Analytisch und alarmierend zugleich hatten Steven Levitsky und Daniel Ziblatt Aufstände und Versuche der Wahlanfechtung von Frankreich und Spanien über die Ukraine und Russland bis zu den Philippinen, Peru und Venezuela untersucht – und dachten nicht im Traum daran, dass sich eine der beiden großen Parteien der Vereinigten Staaten von Amerika im 21. Jahrhundert von der Demokratie abwenden könnte.

Donald Trump, schamloser Schaumschläger und Demagoge ohne moralische Skrupel, hatte gerade sein zweites Amtsjahr in der strategiefreien Zone Weißes Haus begonnen. In bekannter Manier denunzierte er seine Kritiker, beförderte sich zum „stabilen Genie“, pries sein Einvernehmen mit Wladimir Putin und erklärte, dass sein „Atomknopf viel größer“ als der des nordkoreanischen Diktators sei. Als er das Weiße Haus drei Jahre später verließ, war das Ansehen der USA weltweit auf einem Tiefpunkt und das Ausmaß des demokratischen Rückschritts bemerkenswert. Es gipfelte in einem versuchten, vom noch amtierenden Präsidenten befeuerten Staatsstreich und erschütterte die Fundamente der Republik. Im Freiheitsindex von Freedom House waren die USA deutlich zurückgefallen und rangierten weltweit hinter 55 Staaten.

Nun legen Levitsky und Ziblatt, beide Professoren für Regierungslehre an der Harvard-Universität, eine weitere Studie vor. Und das zu einem Zeitpunkt, da sich die Republikanische Partei ein weiteres Mal in die Arme jenes Mannes geworfen hat, der „Diktator für einen Tag“ sein möchte. Ihre These ist im Kern unverändert: Aus dem einstigen Vorreiter der Demokratie und Vorbild für andere Nationen, den Vereinigten Staaten, ist ein demokratischer Nachzügler geworden. Die USA, so die Kernaussage, laufen Gefahr, in eine Minderheitsherrschaft abzugleiten – „eine ebenso ungewöhnliche wie undemokratische Situation, in der eine Partei, die weniger Wählerstimmen als ihre Konkurrenten gewonnen hat, dennoch die Kontrolle über entscheidende Hebel der politischen Macht erhält“ (S. 197). Die Bedingungen, die Donald Trump zur Präsidentschaft verhalfen, existierten weiter. Die USA stünden an einem Scheideweg.

Und so verfolgen die Autoren mit ihrer gut lesbaren Studie ein doppeltes Anliegen: Einerseits wollen sie nachvollziehen, warum die Vereinigten Staaten derart anfällig für einen demokratischen Rückschlag gewesen sind. Andererseits fragen sie nach den Aussichten für eine grundlegende Reform der amerikanischen Institutionen.

In der Demokratie, so lautet eine Binsenweisheit, sind Regeln notwendig, die die Macht von Mehrheiten beschränken. Mehrheitsherrschaft und Minderheitsrechte gehen in modernen Demokratien Hand in Hand. Nicht nur die bürgerlichen Freiheiten, die grundlegenden Individualrechte, unterliegen dem besonderen Schutz. Mehrheiten dürfen auch nicht dazu genutzt werden, um durch eine Änderung der Spielregeln den politischen Gegner zu schwächen, den demokratischen Wettbewerb zu untergraben und letztlich die eigene Macht zu perpetuieren. Das Recht der Opposition, auf einem Spielfeld, auf dem faire Regeln gelten, in Konkurrenz mit der Regierung zu treten, ist ein grundlegendes Minderheitsrecht. Demokratien müssen Mechanismen schaffen, die den demokratischen Prozess vor Mehrheiten schützen, die die Demokratie umstürzen könnten.

Regeln, die Mehrheiten zügeln, können indes parteilichen Minderheiten erlauben, Mehrheiten permanent zu behindern und sogar zu beherrschen. „Als Produkt einer vordemokratischen Zeit“, so lautet eine der Kernthesen des Buches, „erlaubt es die amerikanische Verfassung parteilichen Minderheiten, die Mehrheit zu behindern und manchmal sogar zu regieren. Institutionen, die solche Minderheiten ermächtigen, können zu Instrumenten der Minderheitsherrschaft werden. Und besonders gefährlich sind sie in den Händen von extremistischen oder antidemokratischen Minderheiten“ (S. 19).

 

Fehlerhafte Institutionen

Um welche Institutionen in den USA handelt es sich? Levitsky und Ziblatt unterscheiden zwischen solchen, die Minderheiten schützen und die Demokratie bewahren, und solchen, die Minderheiten privilegieren, indem sie ihnen unfaire Vorteile verschaffen und dadurch die Demokratie untergraben. Dazu zählen sie das Wahlmännerkollegium, das die direkte Wahl auf zweierlei Weise verzerrt: durch das in den meisten Bundesstaaten vorherrschende Prinzip, wonach der Sieger alles erhält, und durch die Schieflage zugunsten der kleinen Bundesstaaten – mit der Konsequenz, dass die Republikanische Partei zwischen 1992 und 2020 lediglich 2004 die meisten Stimmen gewinnen konnte und doch dreimal als Sieger aus der Wahl hervorging.

Auch den US-Senat zählen sie dazu, in dem jeder Bundesstaat das gleiche Stimmgewicht hat, die Grundlage der Repräsentation also nicht die Größe der Bevölkerungen, sondern die territoriale Einheit der Staaten ist – mit der Konsequenz, dass der Senat im 21. Jahrhundert zu keinem Zeitpunkt eine Mehrheit der Amerikaner repräsentiert hat.

Ferner rechnen sie den Obersten Gerichtshof dazu, dessen Zusammensetzung die Diskrepanz zu den Wählermehrheiten immer stärker verdeutlicht – mit der Konsequenz, dass im 21. Jahrhundert vier von neun Richtern von einer Senatsmehrheit bestätigt wurden, die in Senatswahlen zusammengenommen nur eine Stimmenminderheit gewonnen hatte und weniger als die Hälfte der Amerikaner repräsentierte, und von einem Präsidenten nominiert wurden, der nicht die meisten Stimmen auf sich vereinigen konnte.

Auch das Wahlsystem gehört nach ihrer Einschätzung dazu, das seit jeher genutzt wird, Wahlsiege dazu zu missbrauchen, die Kontrolle über die Neueinteilung von Wahlbezirken zu erlangen. Und dazu zählen sie den Filibuster, der es der Minderheitspartei ermöglicht, von der Mehrheit unterstützte Gesetzesvorhaben dauerhaft zu blockieren.

Besonders hart gehen die Autoren mit der Republikanischen Partei ins Gericht, also mit jener Partei, die fast im Alleingang die Demokratisierung Amerikas nach dem Bürgerkrieg vorantrieb und in den 1960er-Jahren einen wesentlichen Beitrag zur Verwirklichung von Bürger- und Wahlrechtsreformen leistete. Ein großer Teil der republikanischen Basis, so stellen Levitsky und Ziblatt ernüchtert fest, radikalisierte sich und zog die Partei in eine Richtung, in der Identitätspolitik längst zur Erfolgsformel deklariert wurde und in der sie, gemessen an Demokratietreue, autoritär geführten Parteien wie der türkischen Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) und der ungarischen Fidesz ähnlicher ist als typischen Mitte-Rechts-Parteien.

 

„Die letzte beste Hoffnung“

Die Demokratie der Vereinigten Staaten zu demokratisieren, sei deshalb das Gebot der Stunde. Aber wie soll das geschehen? Levitsky und Ziblatt identifizieren drei Bereiche: ein garantiertes Wahlrecht für alle Staatsbürger; die Garantie, dass der Wahlausgang dem Mehrheitswillen entspricht, sowie die Stärkung regierender Mehrheiten. Damit einhergehen müssten die Abschaffung des Wahlmännerkollegiums, eine grundlegende Reform des Senats, sodass die Zahl der pro Bundesstaat gewählten Senatoren in etwa dessen Bevölkerungsanteil entspricht, die Abschaffung des Filibusters, die Einführung eines Verhältniswahlrechts, die Etablierung unabhängiger Wahlbezirkskommissionen, die Amtszeitbegrenzung für Richter am Obersten Gerichtshof. Dabei wissen die Autoren, dass die Verfassung der Vereinigten Staaten im Vergleich zu den Verfassungen anderer Demokratien am schwersten zu ändern ist. Daher bedürfe es einer starken demokratischen Reformbewegung und ständigen politischen Drucks.

So verdienstvoll Levitskys und Ziblatts Studie auch ist – jenseits der auf die Schwachstellen von Verfassung und Institutionen abstellenden Analyse fehlt eine umfassendere Bestandsaufnahme zur Lage der amerikanischen Nation, die der Verfallsgeschichte zwischen Idealismus und Hybris, Erfolg und Scheitern gerecht würde.

Sämtliche Entwicklungen, das hat der Schriftsteller und Journalist George Packer auf beeindruckende Weise dargelegt, nahmen ihren Anfang in den 1970er-Jahren des „amerikanischen Jahrhunderts“ (Henry Luce), als das parteiübergreifende Amerika der Mittelschicht aufhörte zu existieren und die vergleichsweise stabilen Narrative von gesellschaftlichem Aufstieg und fairen Chancen erodierten. An ihre Stelle traten vier konkurrierende Geschichten, die sich teilweise ergänzen, teilweise erbittert gegenüberstehen: mit dem „Freien Amerika“ und seiner erbarmungslosen Philosophie des Egoismus, seiner Ablehnung staatlicher Eingriffe und seiner Überzeugung, die Demokratie im Kreuzzug um die Welt tragen zu müssen; mit dem „Smarten Amerika“, das auf Kapitalismus und Meritokratie setzt, in der Welt der transnationalen Konzerne, Patchwork-Identitäten und multikulturellen Erziehung zu Hause ist und dabei die weiße Arbeiterklasse verlor; mit dem „Wahren Amerika“, seiner rigorosen Antiintellektualität, seinem aggressiven Nationalismus, das sich als „Land der Weißen“ und der Evangelikalen versteht; und mit dem „Gerechten Amerika“, das sich gegen die selbstgefällige Leistungsgesellschaft auflehnt, seinen Siegeszug aus den Universitäten in die Massenkultur begonnen hat und im eigenen Land vor allem eines sieht: die Inkarnation des Rassismus und des Bösen.

So gesehen, ist die Medizin, die Levitsky und Ziblatt den Vereinigten Staaten verordnen, in den Worten Abraham Lincolns „die letzte beste Hoffnung“: auf eine Gesellschaft, die die Bedingungen für Gleichheit schafft, für gleiche Chancen, nicht für gleiche Ergebnisse; und die das zivilgesellschaftliche Engagement wieder lernt. Angesichts der bestehenden tiefen Gräben mag das naiv klingen. Aber zumindest ein Anfang wäre gemacht – ein Anfang für ein Amerika, das weniger mit sich selbst beschäftigt wäre, weniger zerrissen wirkt und dereinst wieder mehr Strahlkraft und Vorbildcharakter entfalten könnte.

 

Victor Mauer, geboren 1968, promovierter Historiker, Lehrbeauftragter am Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

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