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Olympionikin zu Hause

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Als Hockeynationalspielerin, noch dazu eigentlich in unmittelbarer Olympiavorbereitung, wäre ich eigentlich ganzjährig auf Achse. Im Zweifel weiß ich bereits am Jahresanfang, wo ich an jedem der kommenden 365 Tage sein werde. Man kann es sich ungefähr so vorstellen: Während der Bundesligasaison trainiere ich unter der Woche früh morgens – meistens Athletik, also Sprint, Kraft, Ausdauer, Agilität, Yoga – und abends Hockeytraining auf dem Platz oder noch einmal Athletik. In „normalen“ Olympischen Jahren kommt man gut auf acht bis zehn Trainingseinheiten in der Woche plus meist zwei Bundesligaspiele am Wochenende. Sobald die Bundesligasaison vorüber ist, sind wir ständig mit dem Nationalteam unterwegs, im Olympischen Jahr bis zu 150 Tage – das heißt Training, Spielvorbereitung, Lehrgänge, Länderspiele in Vorbereitung auf das große Event. Nach einem Highlight wie den Olympischen Spielen gibt es etwa zwei Wochen Pause, bevor die neue Bundesligasaison beginnt.

Mit den „Danas“ – dem Damen-Nationalteam – waren wir zur Vorbereitung auf Olympia kurz vor Weihnachten 2019 in Argentinien und dieses Jahr bereits in Südafrika und Spanien, und das mit mindestens 24 Spielerinnen und circa zehn Personen Staff. Mit weniger als dreißig Personen sind wir eigentlich nie unterwegs. Wir teilen uns die Doppelzimmer und haben komplett durchgetaktete und volle Tagespläne. Für jeden Tagesordnungspunkt gibt es einen einheitlichen Dresscode und klare Abläufe. Und dann drückt plötzlich jemand „Stopp“!

Das wiederum kann man sich so vorstellen: Wir waren gerade alle auf dem Weg zu einem Lehrgang, bei dem wir an unseren Standards – vor allem an der „kurzen Ecke“ – arbeiten wollten: Wiederholungen reinkriegen, Abläufe einschleifen und so weiter. Fünfzehn Minuten vor Beginn kam der Anruf: „Eckenlehrgang abgesagt, alle umdrehen und nach Hause fahren, trefft niemandem mehr und trainiert bis auf Weiteres allein!“ Was auf uns zunächst wie ein verfrühter Aprilscherz wirkte, war natürlich eine ernst gemeinte Ansage von oben. Das war am 12. März 2020 – seitdem sitzen wir mehr oder weniger isoliert zu Hause und beobachten von dort aus das Geschehen: allein, statt im 35-Personen-Tross!

Für mich als Spielführerin des Nationalteams folgten tägliche Videokonferenzen mit dem Deutschen Hockey-Bund, dem Europäischen und dem Welthockeyverband, dem Deutschen Olympischen Sportbund, den deutschen Athletenvertretern und dem Internationalen Olympischen Komitee. Die gesamte Corona-Situation veränderte sich gefühlt stündlich, doch irgendwann stand fest: Olympia wird verschoben.

Die Enttäuschung ist groß, für den Moment platzt das Ziel, auf das einige bis zu vier Jahre lang unter vielen Opfern hingearbeitet haben. Die Olympischen Spiele sind für fast alle Sportler das Größte überhaupt, kein Wettkampf ist wichtiger und höher angesehen als die Olympischen Spiele. Bei einer Weltmeisterschaft messen sich natürlich auch die besten Teams miteinander, aber bei Olympischen Spielen macht man genau das (sogar noch mit weniger Teams), nur dass dort auch alle anderen Sportarten genau das Gleiche tun. Das Flair im Olympischen Dorf ist einmalig – dort wohnen für zwei bis drei Wochen rund 15.000 Sportler aus der ganzen Welt zusammen, jeder mit einem anderen Background (Kultur, Herkunft, Umstände), aber alle mit dem gleichen Ziel und der gleichen Passion für ihren jeweiligen Sport. Man ist endlich ausnahmslos unter Gleichgesinnten. Man fiebert und leidet bei anderen mit, man tauscht sich aus, man lernt, man ist auf einer Ebene. Roger Federer ist dort auch „nur“ einfach einer „von uns“, und so gehen alle miteinander um und freuen sich, „unter sich“ zu sein. Das sind nicht nur Sport-, sondern auch Lebenserfahrungen, die einmalig sind. Dazu kommt natürlich das ganze Drumherum – Eröffnungs- und Abschlusszeremonie, andere Wettkämpfe und Attraktionen, das Deutsche Haus und natürlich der eigene Wettkampf, das Highlight, auf das man vier Jahre hin trainiert und wo man unbedingt eine Medaille gewinnen will. Statt nur noch drei Monate bis zu den Olympischen Spielen sind es nun vierzehn, verbunden mit der großen Unsicherheit, ob sie überhaupt stattfinden werden …

Im Team wissen wir nicht, wann wir uns wiedersehen, wissen nicht, für welchen Termin, für welches Spiel, für welches nächste Trainingslager wir allein trainieren, und teilweise wissen wir auch nicht, wann und wie wir überhaupt trainieren. Der Stopp-Knopf hat uns die komplette Struktur weggerissen, auf der unser Leben aufbaut – für uns alle eine ganz neue Herausforderung.

Anfangs habe ich noch (allein mit zwei Schlägern) Squash gespielt und Krafttraining gemacht, bis auch das Fitnessstudio geschlossen wurde. Zum Glück sind in meiner Garage vier Quadratmeter Kunstrasen verlegt. Was anfangs noch irgendwie mein persönliches Highlight war, flachte schnell ab – allein und ohne konkrete Perspektive in der dunklen Garage auf einem kleinen Fleck Kunstrasen zu sein, anstatt irgendwo auf der Welt mit meinen Mädels und Trainern, auf dem Weg zum größten Sportereignis der Welt …

Relativ schnell folgte das Yoga-Angebot via Zoom mit unserer Yoga-Lehrerin Basia Plaza, die uns normalerweise auf Tour begleitet. Natürlich könnte man auch irgendeine YouTube-Yogasession einschalten, aber Basia ist uns vertraut; beim Einwählen und nach der Session sehe ich kurz meine Mitspielerinnen und kann – wenn auch nur ganz kurz – mit ihnen quatschen, und noch dazu gibt es für uns wieder einen festen Termin im Tages-/Wochenplan: Yoga dienstags, donnerstags und freitags. Dazu kommen eine digitale Athletikeinheit mit unserem Athletiktrainer am Mittwoch, Laufprogramme, andere Trainingsangebote, die man auch ohne Kraftraum zu Hause absolvieren kann, Sitzungen mit unserer Team-Psychologin, mit unserem Bundestrainer … und so füllt sich die Woche wieder, aber auch das ist einfach nicht dasselbe.

Dank der Lockerungen darf man inzwischen wieder mit den üblichen Abstandsund Hygienevorschriften in Kleinstgruppen Athletik- und Hockeytraining absolvieren. Das ist eine tolle Verbesserung, aber gleichzeitig noch sehr weit entfernt vom Hockey – einer Mannschaftssportart, die man im Team und mit einem Gegner nicht mit anderthalb Metern Abstand spielen kann.

Zwar können wir dank der Digitalisierung gut im Team in Kontakt bleiben und uns auch ab und zu mal sehen, aber das ersetzt nicht im Entferntesten das, was ich einmal „Qualitätszeit mit einem Team“ nennen möchte – Zeit, die wichtig ist, um die Mannschaft zu formen, um Teamspirit und -kultur aufrecht zu erhalten und um überhaupt einfach Zeit mit seinen Freundinnen zu verbringen.

Die Chancen, dieses Jahr eine Medaille bei den Olympischen Spielen zu gewinnen, standen ganz gut – wir waren auf einem guten Weg und haben großes Potenzial mit der Mannschaft. Nun werden die Karten wieder völlig neu gemischt – für uns individuell und für uns als Mannschaft. Schaffe ich es wieder, meine Leistung abzurufen, mir einen Platz im Team zu erkämpfen? Schaffen wir es als Team wieder, in Topform zu kommen und im Vergleich mit den anderen Top-Nationen vorn mitzuspielen? Die Niederlande trainieren schon wieder mehrmals wöchentlich mit der Nationalmannschaft – wir freuen uns gerade, überhaupt mal auf den Platz zu dürfen … Die Bundesliga wird nicht vor September losgehen, und wann das nächste Länderspiel sein wird, weiß bisher auch niemand.

Wir haben alle die Situation verstanden und priorisieren Gesundheit und das Allgemeinwohl klar vor unserem Sport, unserer Leidenschaft. Ich glaube, vielen von uns wäre es sogar eher unangenehm, mit Ausnahmeregelungen wieder unsere Liga spielen zu dürfen, während vieles in Deutschland – für Menschen, die Unterstützung viel nötiger hätten – noch verboten ist. Deswegen sitzen wir zu Hause, beobachten das Geschehen und warten auf den Tag, an dem wir nicht mehr allein, sondern wieder als Teil eines 35-Personen-Trosses, durch unsere Hockeyleidenschaft verbunden, unterwegs sein können.

 

Janne Müller-Wieland, geboren 1986 in Hamburg, Spielführerin der Deutschen Hockeynationalmannschaft der Damen.

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