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Über die Singularität der literarischen Erkenntnis

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Zu den gut gepflegten Gemeinplätzen über die Literatur gehört die Annahme, dass Literatur einen besonderen Zugang zur Wahrheit habe. Wer, wenn nicht die Literatur, vermag die geistige Situation ihrer jeweiligen Zeit zu erfassen, gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen und neuem Denken auf die Sprünge zu helfen? Kaum ein Feuilleton, kein Literaturhaus und kein Radioessay kommt ohne Referenzen auf solche und ähnliche Gemeinplätze aus. Man muss nur morgens das Kulturmagazin Perlentaucher öffnen und bekommt die Preziosen der gestrigen literarischen Großereignisse für die Kundschaft in die Auslage gelegt. Im Kontrast zur Welt des Internets, wo Hass und Lüge sich die Hand zu reichen scheinen, ist das Feld der Literatur bürgerlich geordnet. Hier ist man sich sicher, dass die Literatur Wahrheit auf eine Weise zu verhandeln vermag, an die selbst andere Künste kaum heranreichen. Literatur hat ein singuläres Verhältnis zur Wahrheit, so sagt man.

Bei etwas Nachdenken ist das jedoch eine wenig plausible These. Warum sollte Literatur einen singulären Zugang zur Wahrheit einer Gesellschaft haben oder aus Quellen für neues Denken schöpfen, die nicht auch anderen offenstehen? Niemand vermag so recht anzugeben, warum Ernst Jünger oder Thomas Mann, Günter Grass, Uwe Tellkamp oder Juli Zeh mehr zur gesellschaftlichen Selbstverständigung beizutragen haben als populäre Autoren wie Frank Schätzing oder Hilary Mantel. Tatsächlich ist die intellektuelle Decke bei so unterschiedlichen Autoren wie Grass oder Zeh nicht eben immer besonders tragfähig. Um das festzustellen, muss man nur auf etwas komplexere Themen wie den Nahostkonflikt oder den russischen Überfall auf die Ukraine verweisen oder die Diskussionen des PEN-Zentrums verfolgen, um zu erkennen, wie bescheiden auch die Äußerungen großer Namen der Literatur zu solchen Themenfeldern ausfallen können. Auch historisch muss man nicht lange suchen, um Fragezeichen hinter den Antisemitismus so mancher Romantiker oder den Theodor Fontanes zu setzen oder um Bertolt Brechts Kommunismus nicht eben mit Weisheit zu verwechseln. Auch Schriftsteller reproduzieren die Meinungen und Vorurteile ihrer Zeit und sind auch sonst nicht durch mehr Zivilcourage als andere Teile der Gesellschaft aufgefallen.

Braucht also die Gesellschaft die Literatur weit weniger, als es die Rhetorik des Literaturbetriebs suggeriert? Wie so oft, ist die Antwort darauf ein Ja und ein Nein. Ein Ja, weil Literatur eine Reihe von Eigenschaften hat, die sie zu einem der gescheitesten Medien für gesamtgesellschaftliche Debatten macht. Vor allem die Fähigkeit der Literatur, komplexe Motivationslagen und widerstreitende Perspektiven auf die sozialen Beziehungen ihrer Figuren zur Darstellung zu bringen, befördert die individuellen Fähigkeiten der Leser, die eigenen Meinungen und Haltungen nicht zu überschätzen und mitdenkend und mitfühlend in ihrem jeweiligen sozialen Umfeld zu agieren.

 

Parlament im Kleinen

 

Was für den Einzelnen gilt, das gilt auch auf gesellschaftlicher Ebene. Nicht der einzelne Roman, sondern das im Idealfall glückende Gespräch über Bücher, ob von Salman Rushdie oder Michel Houellebecq, gibt der Gesellschaft ein Parlament im Kleinen, das lehrt, dass die moderne Gesellschaft von allen Seiten immer etwas anders aussieht und dass es sich lohnt, dabei das Gemeinsame wie das Trennende zu diskutieren.

Als man moderne Gesellschaft erst lernen musste, also im 19. Jahrhundert, hat nicht zufällig die Literatur eine der wichtigsten Funktionen für die Verbürgerlichung der Gesellschaft übernommen. Ästhetisierung und Verbürgerlichung waren die zwei Seiten eines Vorgangs der Vergesellschaftung, der ohne die Literatur kaum denkbar war. Die Literatur eines Joseph von Eichendorff hat für die Schlossbauten eines Königs wie für Männergesangvereine die Bilder, Phrasen und Sehnsüchte geliefert. Aber weder Eichendorff noch andere Autoren, wie etwa Heinrich Heine, haben dafür weiter über ihre Gesellschaft hinausgedacht, als das andere historische Akteure damals auch getan haben. Doch ihre Bücher fungierten als Kristallisationskerne für höchst unterschiedliche Prozesse der kulturellen Vergemeinschaftung; ob für demokratische, ob für antidemokratische und für viele Facetten dazwischen.

Dass sich Liebe anders anfühlen kann oder Kirchen neu entworfen werden können, andere Länder wie etwa Italien Sehnsuchts- und Tourismusorte werden konnten, verdanken wir der Literatur – und die Liste könnte noch länger werden. Sie illustriert, dass Literatur eine durchaus mächtige Funktion für Gesellschaften haben kann. Dass sie so mächtig wird wie im Falle von Harriet Beecher Stowes Uncle Tom’s Cabin, von der Abraham Lincoln gesagt haben soll, dass diese kleine Autorin einen großen Krieg, eben den Amerikanischen Bürgerkrieg, mit ihrem Buch verursacht habe, ist die Ausnahme. Literatur bringt nicht das ganze Andere zur Darstellung; sie kann jedoch sehr wohl großen Teilen der Gesellschaft verständlich machen, was etwa Sklaverei ebenso für den Einzelnen wie die Gesellschaft bedeutet. Und das hat die amerikanische Gesellschaft fraglos verändert, auch wenn selten ein Buch eine Gesellschaft so aufrüttelt wie dieses, das heute aufgrund seiner stereotypen Darstellung der Schwarzen wiederum selbst unter Rassismusverdacht steht. Zum Kanon der Hochliteratur wird es nicht eben gezählt, und vielleicht hatte es gerade deshalb eine so außergewöhnliche Wirkung.

Doch vieles spricht dafür – und das ist das Nein –, dass die Literatur diese vergesellschaftende Funktion nicht mehr in der Mächtigkeit hat wie im 19. und wohl noch im 20. Jahrhundert. Nicht nur ziehen andere Medien schon seit den Tagen des Radios mindestens ebenso viel Aufmerksamkeit auf sich wie die Literatur, sondern Literatur passt zu den komplexen Lösungsbedarfen moderner Gesellschaften nur noch eingeschränkt, wenn als Maßstab dabei gilt, dass Literatur das Neue in die Gesellschaft einspielen soll. Denn ihre Stärke – die Auslotung sozialer Beziehungen zwischen Individuen – tendiert dazu, in einer Gesellschaft forcierter Individualität nur zur Bestätigung immer ähnlicher werdender, singularistischer Lebensauffassung zu schrumpfen.

 

Im popindustriellen Betrieb

 

Nicht zufällig hat Umberto Ecos Begriff vom ‚Midcult‘ gegenwärtig Konjunktur, der die Neigung moderner Gesellschaften beschreibt, dass sich alle Kultur in der Mitte des Konsenses einpendelt. Entgegen allen rhetorischen Routinen vom Jahrhundertroman und Ausnahmebuch haben wir schon Schwierigkeiten, nur die letzten Nobelpreisträger aufzuzählen oder die Debatten des Literaturbetriebs von 2021 zu benennen.

Mit dem Herausstellen von Autoren wie Richard David Precht tun sich angesehene Verlage und Kulturformate des Fernsehens keinen Gefallen. Der Literaturbetrieb ist längst geschrumpft, und die gesellschaftlichen Verhandlungen laufen nicht mehr zuerst dort, sondern er muss sich an die Stars und ihre Vermarktung anderer Medien anpassen. Die Anpassung der Kultur an den popindustriellen Betrieb, in dem nur wenige Stars alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen, schadet auch dem Funktionieren der Literatur in der Demokratie. Und die digitalen Formate von Bookstagram bis BookTok zeigen längst, dass sie das popindustrielle Geschäft besser beherrschen.

Literatur hat sich auf eine bescheidenere Rolle und eine begrenztere Funktion in einer komplexer gewordenen Gesellschaft einzustellen. Das ist die nüchterne Folgerung, die man aus dem Wandel der kulturellen Vergesellschaftung ziehen muss. Die Rolle, die einmal Stefan George einnehmen konnte, oder die Verbissenheit in den Deutungskämpfen um Friedrich Hölderlin sind Nachrichten von einem fernen Stern. Neue Akteure und neue Foren begrenzen die Reichweite des Literaturbetriebs, wie wir ihn kannten. Das alles heißt nicht, dass keine Bücher mehr gelesen würden. Im Gegenteil: Bücher und – ja – gerade auch gedruckte Bücher werden mehr denn je gelesen. Gerade junge Leserinnen und Leser zelebrieren das gedruckte Buch wie kaum jemals zuvor. Aber die Funktion der Literatur für die kulturelle Vergesellschaftung ist bescheidener geworden. Das muss keine schlechte Nachricht sein, denn es gibt ihr die Freiheit, sich neu zu erfinden.

 

Gerhard Lauer, geboren 1962 in Karlsruhe, Literaturwissenschaftler, seit 2021 Professor für Buchwissenschaft, Gutenberg-Institut für Weltliteratur und schriftorientierte Medien, Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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