Kein Zweifel: Schulkritik, vor allem Lehrerkritik, ist „in“, und damit lässt sich überdies gutes Geld verdienen. Nun ist das kein neues Phänomen, Schulkritik war immer ein Thema, allerdings vornehmlich von Karikatur und Roman: Man erinnere sich nur an die Lehrerzeichnungen im Simplicissimus oder an Hermanns Hesses Unterm Rad, Thomas Manns Hanno oder Alfred Anderschs Der Vater eines Mörders. Neu ist, dass sie ein großes Segment des Sachbuchmarktes inklusive Feuilletons erobert hat und damit auch immer wieder einmal eigene TV-Sendungen oder Talkshows evoziert, also ein breites Publikum erreicht, das daran offensichtlich Interesse oder Spaß hat. Dabei lassen sich zwei verschiedene Formen unterscheiden: die Verarbeitung eigener oder leidvoller Schulerfahrungen eigener Kinder, die dann solche Produkte wie das Lehrerhasserbuch (Gerlinde Unverzagt, 2006) oder Lehrerkind. Lebenslänglich Pausenhof (Bastian Bielendorfer, 2011) hervorbringen. Oder eine türkischstämmige Autorin namens Melda Akbas: Warum fragt uns denn keiner? Was in der Schule falsch läuft (2013). Da die Schule nun einmal unvermeidbar ist, ihr keiner entkommt, lässt sich das ad infinitum fortsetzen. Man muss es nur entsprechend reißerisch vermarkten. Die zweite Form ist die kühne Vision einer völlig neuen Schule, wie bei dem Populärphilosophen Richard David Precht (Anna, die Schule und der liebe Gott, 2013) oder dem Schweizer Kinderarzt und Autor Remo Largo (Spiegel 38/2013), der darüber schreibt, wie man innovativ und kreativ ohne „Selektion“ und Noten, also endlich „angstfrei“ lernen kann; rätselhaft scheint, wie man beim participium coniunctum oder bei Kurvendiskussionen lustvolle Lernwelten schaffen soll. Sekundiert wird dem ganzen Szenario, das ein wenig an Platons Staat erinnert (den hat auch niemand erlebt), von einem selbst ernannten „Hirnforscher“ wie Gerald Hüther (ZEITOnline vom 29. August 2013). Alles Leute, die nie vor einer Klasse gestanden haben. Und da bisher niemand eine solche Schule gesehen hat und ihre Ergebnisse, auch bezogen auf die Anforderungen etwa des Arbeitsmarktes, nicht kennen kann, kann es sich natürlich nur um Verheißungen und Wünsche handeln. Aber das passt in eine Zeit, in der Bildung einerseits ein quasireligiöses Kolorit erhalten hat und man andererseits alles tut, um den Erwerb von „Bildung“ zu erleichtern. Zumal heute die bildungsoptimistische Annahme gilt, jeder junge Mensch könne bei entsprechender Förderung, Begleitung, Betreuung, Coaching et cetera zumindest zum Studium qualifiziert werden. Dort, wo das nicht gelingt, werden „soziale Benachteiligungen“ und dementsprechend fehlende „Bildungsgerechtigkeit“ beziehungsweise „Chancengleichheit“ oder jüngst „Diskriminierung“ ausgemacht.
Natürlich gibt es in diesem Zusammenhang eine Fülle von Beschwerden, die sich tagtäglich den Medien entnehmen lassen, dennoch: Das System funktioniert formal für etwa achtzig Prozent der jungen Menschen, sei es über die Berufsbildung, sei es über den allgemeinbildenden Schul- und Hochschulbereich, mit steigender Tendenz. Das gesteht auch die OECD zu, zumal sich auch Deutschland seit den 1970er- und verstärkt seit den 1990er-Jahren auf den Weg der Steigerung der Akademikerzahlen begeben hat; in Hamburg, das derzeit an der Spitze liegt, erwerben jetzt fünfzig Prozent das Abitur; dafür gehen den Betrieben die Lehrlinge aus.
Nun gilt in der deutschen Bildungspolitik der bekannte „Tunnelblick nach unten“: Wie können wir „bildungsferne“ Gruppen zu höherer Bildungsbeteiligung bringen? Und dabei kommen naturgemäß die Eltern ins Spiel, denen das Grundgesetz in Artikel 6 das natürliche Recht und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht der Erziehung zuweist. Dass natürlich auch die Schule, und zwar in steigendem Maße, immer eine erzieherische Aufgabe wahrnimmt, ist davon unbenommen. Man kann sich über den Begriff „Erziehung“ streiten, zumal man ihn im Gefolge der 68er-Pädagogik als belastet ausgegeben hat: Drill, Dressur, Verletzung der kindlichen Psyche. Aber niemand wird bestreiten, dass nicht nur Bildung im Sinne von Wissen und Können zur Prägung der Persönlichkeit beiträgt, sondern auch Einstellungen und Verhaltensformen, also das, was man einmal Tugenden genannt hat, und seien es die berühmten und gerne denunzierten „Sekundärtugenden“. Hier ist Erziehung und damit die Familie gefordert.
Im Beziehungsgeflecht Schule-Lehrer-Eltern sind letztere erst in jüngerer Zeit Thema von Untersuchungen geworden, so die weithin beachtete KAS-Studie Eltern unter Druck (Michael Borchard, Christine Henry-Huthmacher und andere, Stuttgart 2008, www.kas.de/wf/de/33.13023/). An diesem Punkt setzt auch das neue Buch von Josef Kraus an, der sich einer heute immer auffälligeren Elterngruppe zuwendet: eben jenen zehn bis fünfzehn Prozent vermeintlich zugunsten ihrer Kinder hyperaktiven „Helikoptereltern“, die neuerdings sogar an den Hochschulen auftauchen, mit denen der Autor eine „Pädagogik der totalen Einmischung“ verbindet und an konkreten und höchst anschaulichen Beispielen illustriert. Der langjährige Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Direktor eines Gymnasiums, auch Schulpsychologe und schon häufiger als Buchautor hervorgetreten (zuletzt: Bildung geht nur mit Anstrengung – Wie wir wieder eine Bildungsnation werden können, 2011), muss diesmal einen Nerv getroffen haben. Normalerweise schafft es ein „normales“ pädagogisches Buch eher konservativer Provenienz höchstens in die Frankfurter Allgemeine Zeitung, aber nicht in die Süddeutsche Zeitung oder in die Titelgeschichte des Spiegel und in dessen Bestsellerliste. Kraus behandelt sehr plastisch und mit kräftigen Seitenhieben gegen den pädagogischen Ertrag von Hirnforschung oder Tiefenpsychologie die verschiedenen Formen, in denen sich diese Helikoptereltern pädagogisch betätigen: durch „Förderwahn“ bis hin zum „Babytuning“, die totale Kontrolle inklusive „Umklammerung bis zum Erwachsenenalter“, Verwöhnung und Verschonung: „Das mache ich für dich.“ Nun wird niemand bestreiten, dass es zunächst ein positives, auch im Schulrecht grundsätzlich vorgesehenes Phänomen ist, dass Eltern sich kümmern und auch einmischen. Dass das für die Schule unbequem ist, liegt ebenso auf der Hand, wie es für die Kinder bequem zu sein scheint. Begünstigt wird diese Entwicklung durch den Wandel von der Geschwisterfamilie zur Ein-Kind-Familie und die immer spätere Geburt: „Mein Kind das Kunstwerk“. Was also ist das Resultat dieser „pädagogischen Umklammerung“, was sind die „Kollateralschäden für Kind und Gesellschaft“? Kraus formuliert es so: „Zu den sichersten Methoden, Kinder unmündig und lebensuntüchtig zu machen, zählen neben der Kontrolle und dem Förderwahn tatsächlich Verwöhnung, Verschonung und Überbehütung … Je aktiver die Eltern, desto passiver die Kinder …“ Gefördert werden so unwillentlich: „Eigensinn, Egoismus, Rücksichtslosigkeit, Überheblichkeit, Geltungssucht, überhöhte Ansprüche, Unselbständigkeit, Bequemlichkeit, … Abhängigkeit von Eltern und realitätsfernes Selbstbild …“
Auf ähnliche Folgen hatte allerdings im konträren Kontext, nämlich jenem fehlender Erziehung, bereits der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Brezinka im Jahre 1993 aufmerksam gemacht; vielleicht ist aber fehlende Erziehung weniger schlimm als falsche. Kraus wäre kein gestandener Pädagoge, wenn er sein Buch nicht mit konkreten Ratschlägen schließen würde: Wie soll richtig und sinnvoll erzogen werden? Dazu formuliert er klare Vorschläge, die letztlich mit Theodor Litt auf eine Balance zwischen „führen und wachsen lassen“ hinauslaufen, die mit „Leichtigkeit und Humor“ gehalten werden solle. Diese Empfehlung verbindet Kraus mit einem leidenschaftlichen Plädoyer gegen die „Abitur-Vollkasko-Schule“, für die Wiederentdeckung konkreten Wissens, gegen eine inhaltsleere Kompetenzpädagogik und gegen eine Reduktion von Schulbildung auf ökonomische Brauchbarkeit: „Humankapital“ gilt ihm als „Unwort“. Sein Buch konstruiert kein Wolkenkuckucksheim und setzt sich damit wohltuend von Precht und Gefolge ab. Genau richtig für Leser, die klare und schnörkellose Orientierung suchen und ebenso klare Aussprache schätzen.
Jörg-Dieter Gauger, geboren 1947 in Lüdenscheid, Althistoriker, außerplanmäßiger Professor an der Universität Bonn, langjähriger Abteilungsleiter in der Konrad-Adenauer-Stiftung.