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Warum junge Deutsche in den Krieg ziehen

Beobachtungen und Konsequenzen

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Es gibt wenige Begriffe, die so schnell Karriere gemacht haben wie der des „Salafismus“. Vor weniger als zehn Jahren war der Begriff gerade mal einer Handvoll Experten bekannt. Wir haben es also mit einem neuen Phänomen des Extremismus zu tun. Um es zu ergründen, müssen die Lebenswelten und Denkweisen gerade von Jugendlichen in den Fokus rücken, die entweder schon Teil der salafistischen Szene sind oder die kurz davor stehen, in sie abzurutschen, beziehungsweise die grundsätzlich gefährdet sind.

Da das Phänomen des Salafismus noch so jung ist, stehen Forscher, Behörden und Praktiker noch weitgehend am Anfang ihrer Versuche, das Problem zu begreifen. Zum jetzigen Zeitpunkt kann also niemand allgemein verbindliche Aussagen auf der Grundlage wissenschaftlicher Daten geben. Um die Zusammenhänge zu verstehen, muss man zunächst mit ein paar Vorurteilen aufräumen: Wir sind alle gemeinsam betroffen! Salafismus bedroht sowohl Jugendliche deutscher Herkunft als auch Jugendliche ausländischer Herkunft. Zudem ist niemand gefeit, nur weil die eigene Familie nicht dem Islam zugehörig ist. Führende Köpfe der Szene sind Konvertiten. Außerdem ist die verbreitete Auffassung falsch, Salafismus habe ausschließlich mit Religion zu tun. Ein solch einfaches Verständnis wird der Sache nicht gerecht.

Der Salafismus, von dem hier die Rede ist, ist zu großen Teilen ein deutsches Phänomen. Es sagt genauso viel über die deutsche Gesellschaft im Ganzen aus wie über die muslimische Community im Speziellen. Natürlich hat Salafismus mit dem Islam zu tun – kein vernünftig denkender Mensch kann und wird das abstreiten. Aber die Auslöser für das Abgleiten in die Szene sind nach Auffassung aller Experten vom Verfassungsschutz bis zu den Beratungsstellen vor Ort zumeist ganz weltlich. Demnach hat die Radikalisierung primär mit unseren Familien zu tun und mit dem Alltag in unseren Dörfern und Städten.

 

Das Versprechen von Gerechtigkeit und Rache

Ein zentrales Motiv für die Hinwendung zum Salafismus ist das Empfinden von Ungerechtigkeit. Manche jungen Leute fühlen sich aufgrund von Diskriminierungen und Ausgrenzung persönlich ungerecht behandelt – insbesondere Islamfeindlichkeit ist ein großes Thema. Manche fühlen sich belastet durch die Ungerechtigkeiten, denen Glaubensgeschwister oder Familienangehörige vor allem in der arabisch-islamischen Welt unter den dortigen politischen und gesellschaftlichen Umstände ausgesetzt sind. Eine dritte Gruppe erlebt eine ungerechte Behandlung der eigenen Familie, des eigenen Elternhauses. Hierauf reagieren die Salafisten mit ihrer Ideologie und locken mit diversen Versprechungen. Sie versprechen, die Gerechtigkeit wiederherzustellen. Sie versprechen die Möglichkeit, Rache an jenen zu üben, die für die Ungerechtigkeiten verantwortlich sein sollen. Sie versprechen, aus einem verkorksten Leben, dem es in Deutschland zum Beispiel an beruflichen Perspektiven fehlt, etwas vermeintlich Sinnvolles zu machen. Und sie versprechen sogar, im Krieg viel Geld verdienen zu können. Manchmal sind die Beweggründe ganz profan!

Schlechte Noten sind plötzlich kein Thema mehr. Nicht einmal Delinquenz in Jugendjahren ist nunmehr ein Hindernis für einen „Aufstieg“. Strafrechtliche Verurteilungen oder sogar Gefängnisstrafen werden explizit positiv herausgestellt. Sie gelten nicht mehr als Makel – im Gegenteil. Salafisten können sich auf diese Weise als Läuterungsinstanz präsentieren: „Durch uns /durch den Islam hat dieser Bruder/ diese Schwester wieder zurück auf den geraden Weg gefunden!“ Und als Belohnung winkt sogar ein moralischer Überlegenheitsanspruch: Plötzlich kann der einstige Straftäter anderen gute Ratschläge erteilen und als Vorbild auftreten.

Der Salafismus mit seinen starren Regeln ist dabei zwar praktisch anstrengend, aber intellektuell leicht zu erfassen und zu befolgen. Es gibt im Grunde nur Verbote und Gebote, und alle sind genau definiert. Junge Menschen, die von den Herausforderungen moderner, westlicher Gesellschaften mit ihren breiten Angeboten und der erwünschten Eigenverantwortung überfordert sind, finden hier einen leichten Ausweg.

 

Alles Konvertiten!

Wer in den Salafismus eintritt, „konvertiert“ – egal, ob er sich vorher schon zum Islam bekannt hat oder nicht. Die strikte Religionsauffassung gibt die ideologische Richtung vor. Sie wird zur eigenen Rechtfertigung und zur Abwertung anderer missbraucht. Sie wirkt verstärkend auf den ohnehin schon starken Zusammenhalt in den einzelnen Gruppen, in denen sich die Salafisten organisieren. Der Islam ist nur in seltenen Fällen Selbstzweck. Die meisten Mitglieder der Szene waren nicht auf der Suche nach spiritueller Erfüllung. Dennoch bildet die Religion später den Pfahl, an den die neue Identität gebunden wird. Und diese Verbindung lässt sich – bis jetzt jedenfalls – von außen kaum noch lösen, denn sie verleiht die gesuchte Sicherheit.

An diese religiösen Stellschrauben müssen die Moscheen heran. Den Salafismus wird man aber nie eindämmen können, wenn er nur als Problem der muslimischen Gemeinden verstanden wird. In der Tat weist deren Engagement im Hinblick auf die Salafisten derzeit erhebliche Mängel auf, aber allein werden sie das höchst vielschichtige Problem des Salafismus ohnehin nicht lösen können.

Jenseits der sozialen und politischen Komponenten ist Salafismus eine Strömung innerhalb der Religion des Islams. Im Islam gibt es verschiedene Glaubensrichtungen wie die der Sunniten und der Schiiten. Der Salafismus gehört zum sunnitischen Islam. Wie in jeder Religion gibt es auch im Islam liberale, konservative und eben fundamentalistische Hauptströmungen. Diese Hauptströmungen gliedern sich wiederum in verschiedene Richtungen auf, die sich zum Teil überschneiden. Der Salafismus ist Teil des fundamentalistischen Spektrums. Innerhalb dieses Spektrums verbindet eine wichtige Bewegung ihre Religionsauffassung dabei mit politischen Zielen. Sie will Gesellschaft und Staat nach ihren Glaubensvorstellungen umgestalten. Sobald bei Menschen muslimischen Glaubens dieses politische Ziel hinzukommt, spricht man von Islamisten beziehungsweise vom Islamismus.

 

Vorsicht auch vor denen, die sich friedlich geben!

Für Deutschland bedeutet das, dass man es zum einen mit Salafisten als religiösen Predigern zu tun hat und zum anderen mit jenen, die aktiv Werbung für politischen Salafismus oder sogar dschihadistischen Salafismus machen und diese Strömungen unterstützen. Nur Letztere werden von Polizei und Justiz verfolgt, abgeschoben oder inhaftiert. Was jemand glaubt, geht niemanden etwas an. Gegen Menschen mit salafistischer Gesinnung und gegen öffentliche Prediger, die nicht zur Überwindung der deutschen Verfassung oder zu Gewalt aufrufen, können die Sicherheitsbehörden eines demokratischen Rechtsstaats nicht vorgehen. Dennoch sind solche Ausdrucksformen des Salafismus ein zivilgesellschaftliches Problem, das angegangen werden muss. Denn gefährlich sind auch die Salafisten, die sich friedlich geben. Häufig sind sie es, die die Jugendlichen erstmals mit salafistischem Gedankengut in Kontakt bringen. Wer erst einmal in die Szene einsteigt, der kommt auch leicht mit den dschihadistischen Salafisten in Kontakt. In diesem Umfeld ist es dann nur noch von der Persönlichkeitsstruktur des Einzelnen abhängig, ob er sich auch von den Gewaltbereiten vereinnahmen lässt.

Nur – was kann die Gesellschaft jenseits der Sicherheitsbehörden tun? Das zentrale Schlagwort lautet: Prävention. Es muss verhindert werden, dass jemand überhaupt in den Salafismus abgleitet. Denn aufgrund der sektenähnlichen Strukturen kommt man an Mitglieder kaum noch oder nur noch unter großem Aufwand heran. Die Prävention beginnt in der Familie und muss fortgeführt werden in Schulen, Sportvereinen, Jugendzentren und an allen Orten, an denen sich Jugendliche aufhalten. Beginnen muss man zunächst mit der Frage, wie man salafistische Radikalisierung überhaupt möglichst frühzeitig erkennen kann.

 

Was zu tun wäre

Eines gilt es dabei jedoch einzugestehen: Auch mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln wird es nicht gelingen, jeden einzelnen Menschen vom Salafismus fernzuhalten. Das gelingt ja auch beim Rechts- und Linksradikalismus nicht, obwohl dieses Bemühen seit Jahrzehnten anhält. Aber die Zahlen der Neumitglieder können reduziert werden und damit die Risiken für die Gesellschaft.

Dazu muss die Politik die nötigen Rahmenbedingungen setzen – vor allem die finanziellen für Forschungsprojekte, Aufklärungsprogramme oder Beratungsstellen. Das geschieht zwar, aber im Fokus stehen gegenwärtig gesetzgeberische Bemühungen. Sie reichen vom Verbot verschiedener Organisationen und Symbole bis hin zum geplanten Entzug von Personalausweisen oder zur Vorverlagerung der Strafbarkeit in den Bereich der Intention, sich einem Dschihad anzuschließen. Hier ist Kritik angebracht. Die politischen Bestrebungen zeugen durchaus von guten Absichten im Sinne der Prävention. Dennoch müssen Fragen nach der Effektivität, nach einer möglichen Stigmatisierung von Unschuldigen und damit nach der rechtlichen Bewertung vor dem Hintergrund des deutschen Grundgesetzes gestellt werden. Ganz frei von der Gefahr eines blinden Aktionismus ist die Entwicklung nicht.

Nicht jeder Jugendliche, der Salafist wird, ist auch automatisch auf dem Weg zum Gewalttäter. Das heißt, dass wir den Salafismus in Deutschland nicht mit Terrorgruppen wie dem „Islamischen Staat“ (IS) gleichsetzen können. Der IS nutzt zwar den Salafismus, um seinen Terror zu legitimieren, aber nicht jeder Salafist unterstützt den IS oder schließt sich dieser Organisation an, die im Irak und in Syrien mit bestialischer und schockierender Gewalt einer ganzen Region ihre Schreckensherrschaft aufgezwungen hat.

 

Alarmierend: dynamisch steigende Mitgliederzahl

Bislang sind nach Angaben der deutschen Behörden etwa 600 Menschen aus Deutschland ausgereist, um im Irak und in Syrien zu kämpfen. Davon kehrten einige zurück und leben nun wieder in Deutschland. Die Salafisten-Szene umfasst nach Darstellung des Verfassungsschutzes rund 7.000 Mitglieder, hinzu kommt eine Dunkelziffer von Sympathisanten. Es ist jedoch weniger die reine Zahl der Mitglieder, die die Szene so gefährlich macht. Das Bedrohungspotenzial im rechtsextremistischen Bereich ist größer. Auch die Linksextremisten können wesentlich mehr Menschen mobilisieren. Allzumal machen die Salafisten unter 4,5 Millionen Muslimen in Deutschland in Relation zu mehr als achtzig Millionen Einwohnern nur einen verschwindend geringen Anteil aus. Was beim Salafismus mehr Sorgen bereitet, ist seine Dynamik. Die Zahl der Mitglieder wächst nicht nur stetig, sondern auch exponentiell. Zuletzt schlossen sich ihm immer mehr Jugendliche an. Die Zahlen haben sich in wenigen Jahren vervielfacht.

Auch wenn kein Anlass zur Panik besteht, hat man es also mit einem ernsten Problem zu tun, das zudem weiteren sozialen Sprengstoff birgt. Weil der Salafismus eine Glaubensrichtung des Islam ist, leiten Teile der Bevölkerung daraus den Impuls ab, die Islamfeindlichkeit weiter zu schüren und Stimmung gegen muslimische Einheimische und Einwanderer zu machen.

Stichwort: „Hooligans gegen Salafisten“ (HoGeSa). Stichwort: Pegida. Dabei dient der Salafismus als Argument, das vermeintlich belegen soll, wie gefährlich der Islam per se sei. Bei der Auseinandersetzung mit dem Salafismus gilt es, aufzupassen, dass den Islamfeinden nicht (unfreiwillig) in die Hände gespielt wird.

Allerdings darf das nicht zu selbst angelegten Fesseln in der Auseinandersetzung mit dem Salafismus führen. Das Problem der Islamfeindlichkeit muss mitbedacht werden, sie kann aber niemals ein Argument dafür sein, auch schärfste Zurückweisungen salafistischer Tendenzen zu bremsen. Im Gegenteil. Islamfeindlichkeit und Salafismus sind von ihrer Struktur her zwei Seiten derselben Medaille. Sie fördern und bedingen sich gegenseitig und sind aufs Engste miteinander verknüpft. Die Mehrheit der Gesellschaft muss auf der Hut sein, dass sie zwischen diesen beiden Polen nicht zerrieben wird. Das geht nur, indem beide Antipoden gleichzeitig bekämpft werden!

 

Lamya Kaddor, geboren 1978 in Ahlen, deutsche islamische Religionspädagogin, Islamwissenschaftlerin und Autorin syrischer Herkunft, Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes.

 

Literatur

Lamya Kaddor: Zum Töten bereit. Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen, Piper Verlag, München 2015, 256 Seiten, 14,99 Euro (auch als E-Book erhältlich).

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