Seit den Anschlägen des 11. September ist das arabische Wort jihād auch in den westlichen Sprachgebrauch eingegangen und wird dabei zumeist ausschließlich als Synonym für „Heiliger Krieg“ verstanden. Tatsächlich verüben muslimische Extremisten im Namen des jihād unvorstellbare Gräueltaten. Fast täglich erreichen uns neue Nachrichten über die grausamen Verbrechen der Jihādisten des Islamischen Staates in Syrien und im nördlichen Irak. Doch wie wurde in der islamischen Tradition der Begriff des jihād verstanden? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestehen zwischen dem Konzept in der islamischen Geschichte und dem heutigen Verständnis, das jihādistische Gruppen vertreten?
Das Wort jihād hat ein breites Bedeutungsspektrum, das sich in der 1.400-jährigen Geschichte des Islam weiterentwickelt hat. Der arabische Begriff kann keinesfalls auf die exklusive Bedeutung von „bewaffnetem Kampf“ reduziert werden. Das Substantiv jihād leitet sich von dem Verb jāhada ab, das mit „sich bemühen, sich anstrengen, streben, kämpfen“ zu übersetzen ist. Seine grundlegende Bedeutung zielt auf die Anstrengung für ein lobens- und belohnenswertes Ziel im religiösen Kontext, nämlich auf das Ankämpfen gegen persönliche Schwächen und unmoralische Versuchungen sowie auf die Bemühung um das Wohl des Islam und der muslimischen Gemeinde (umma). In den Werken muslimischer Rechtsgelehrter aus klassischer Zeit geht es in den Passagen zum jihād jedoch tatsächlich in erster Linie um den bewaffneten Kampf gegen die Ungläubigen[1] und die Regeln der Kriegsführung.[2]
Kampf für eine einheitliche Ordnung in den ersten Jahrhunderten des Islam
Man kann jedoch das jihād-Konzept, wie es in der Frühzeit des Islam entstanden ist, nicht ohne historische und kulturelle Einbettung in die situativen Gegebenheiten dieser Epoche verstehen. Eingegangen in dieses Konzept sind Elemente des Kriegsverständnisses der vorislamischen Stämme auf der Arabischen Halbinsel. Unter diesen wurde ein Kriegszustand als legitim betrachtet, sofern nicht ein Friedensvertrag geschlossen worden war. Auch der Prophet Mohammed hat Kriege geführt, die sich im Koran widerspiegeln. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat er aber nie den Terminus jihād verwendet. [3]
Im Koran ist an mehreren Stellen von jihād und qitāl („Kampf“) gegen die Ungläubigen die Rede. Im Zusammenhang mit tatsächlichem Kampf trifft man jedoch wesentlich seltener auf den Begriff jihād als auf das Wort qitāl. Obwohl ein enger Zusammenhang zwischen diesen beiden Begriffen und den entsprechenden Koranstellen keineswegs zwingend ist, wurde in nachprophetischer Zeit diese Verbindung hergestellt. [4]
Neben dem Koran bilden die Hadīthe, also die Überlieferungen über die Aussagen und Handlungen des Propheten Mohammed, die textliche Grundlage für das jihād-Konzept. Darin findet sich auch die Unterscheidung zwischen dem „großen jihād“, dem Ankämpfen gegen eigene moralische Schwächen, und dem „kleinen jihād“, dem militärischen Kampf. Im 8. Jahrhundert wurden Hadīthsammlungen erstellt, die sich nur diesem Thema widmen. Doch erst gegen Ende dieses Jahrhunderts erfuhr das Konzept eine genauere Ausarbeitung durch die muslimischen Gelehrten. Diese Formierungsperiode liegt in einer Zeit, in der noch eine weitgehend einheitliche islamische Staatlichkeit existierte, in der das islamische Reich expandierte und die Muslime sich immer wieder mit anderen Kulturen, Religionen und vor allem Staaten auseinandersetzen mussten. Nach dieser Idee eines einzigen islamischen Staates galt es, das Gebiet auszuweiten und möglichst viele Menschen unter islamische Ordnung zu bringen, jedoch nicht zwingend zum islamischen Glauben. Nach dieser theoretischen Lesart ist expansiver jihād eine kollektive Pflicht (fard ‘alā l-kifāya), wobei ein rechtmäßiger Herrscher vorausgesetzt wird, der den Kampf organisiert. Als die Eroberungen der Muslime zum Stillstand kamen, etablierte sich die Rechtsmeinung, dass der Kalif zumindest theoretisch einmal pro Jahr einen Einfall in feindliches Gebiet veranlassen solle, um den Kerngedanken des jihād aufrechtzuerhalten. Jihād kann aber auch zur Pflicht des Einzelnen (fard ‘ayn) werden, nämlich dann, wenn der Kalif bestimmte Personen auswählt, die an Überfällen teilnehmen sollen, oder wenn jemand den Eid leistet, die Ungläubigen zu bekämpfen. Jihād wird insbesondere dann für alle Kriegstauglichen verpflichtend, wenn das Gebiet, in dem sie leben, von Feinden angegriffen wird. Jihād ist in diesem Fall also defensiv. Gegen die Ungläubigen ist Krieg jedoch nicht zu führen, ohne sie zuvor zur Annahme des Islams aufgefordert zu haben oder, sofern sie dies verweigern, sich zumindest der islamischen Herrschaft unterzuordnen und die Kopfsteuer (jizya) zu bezahlen.[5]
Obgleich sich nicht alle muslimischen Rechtsgelehrten hinsichtlich der Regeln der Kriegsführung einig waren, lassen sich vorherrschende Positionen formulieren: Frauen und Kinder dürfen nicht getötet werden, ebenfalls nicht Alte, Kranke, Behinderte, Bauern und Mönche. In Gefangenschaft geratene Männer aber dürfen getötet, versklavt oder gegen Lösegeld freigelassen werden.[6]
Bereits ab dem 10. Jahrhundert setzte ein Zerfall des idealen Einheitsstaates ein, was auch zu einer weiteren Ausdifferenzierung des Kriegsrechts führte. Bereits zuvor waren mehrheitlich muslimische Gemeinden auf nichtislamischen Territorien (zum Beispiel in Indien) entstanden. Ab dem 11. Jahrhundert mussten muslimische Herrscher größere Gebietsverluste hinnehmen, vor allem auf der Iberischen Halbinsel; dabei verblieben viele Muslime in ihren nunmehr nicht mehr unter muslimischer Obrigkeit stehenden Heimatregionen. Die juristische Argumentation orientierte sich oft an den praktischen Notwendigkeiten und legitimierte einen Verbleib der Muslime auf nichtislamischem Gebiet.[7]
Die Hermeneutik der Jihādisten heute
Die gegenwärtige Strömung der Jihādisten ist ein durch und durch modernes Phänomen. Gewiss hat es in der Geschichte des Islam immer wieder den theologischen Ansatz gegeben, einen unmittelbaren Rückbezug auf den Koran und die Hadīthe herzustellen. Den Grundstock legte bereits der Gründer der hanbalitischen Rechtsschule, Ahmad b. Hanbal (gestorben 855). In der weiteren Entwicklung kommt dem ebenfalls dieser Rechtsschule zugehörigen Gelehrten Ibn Taymiyya (gestorben 1328) eine bedeutende Stellung zu. Er lebte zur Zeit der Mongoleneinfälle und argumentierte, dass gegen die Mongolen jihād zu führen sei, da sie sich nur nominell zum Islam bekannt hätten, im Grunde also Ungläubige seien. Ibn Taymiyya übte Einfluss auf Muhammad b. ‘Abd al-Wahhāb (gestorben 1792) aus, den Begründer der bis heute in Saudi-Arabien vorherrschenden Wahhābiyya, der der Gesellschaft seiner Epoche attestierte, sich vom Islam entfernt zu haben.[8] Auch diese Traditionslinie berief sich wie die heutigen Salafisten und Jihādisten auf die as-salaf as-sālih, die „rechtschaffenen Vorväter“ der islamischen Frühzeit, womit die ersten drei Generationen der Muslime bezeichnet werden, die die Grundlagen des Islam noch aus erster Hand kennen gelernt und überliefert haben.
Heutige Interpretationszugänge von Jihādisten schlicht als unislamisch zu bezeichnen, wäre jedoch irreführend und zu verkürzt, sehen sie sich doch selbst als die „wahren“ Muslime an. Ihre hermeneutische Herangehensweise unterscheidet sich jedoch grundlegend von derjenigen ihrer vormodernen Vordenker. Die heutigen Jihādisten sind häufig theologische Autodidakten. Sie haben also oftmals keine tieferen Kenntnisse über die Exegesemethoden der islamischen Tradition, lehnen diese aber zugleich bewusst ab. Die Vorrangstellung der Gelehrten, die in vielen Staaten teils mit der Politik kooperieren, und deren historisch entwickelte Hermeneutik werden verworfen, um vorrangig gemäß eigener Situationsdefinition direkt auf Teile der islamischen Primärtexte zugreifen zu können. In der Regel werden dabei Koranverse und Hadīthe rein selektiv und oft ohne Sinnkontext herangezogen.
In Ermangelung eines islamischen Staatswesens, das ihrer Deutung entspricht, sehen sich die Jihādisten in ihrer Gewaltausübung nicht an die traditionellen Bedingungen zur Legitimierung des Kampfes gebunden. Vielmehr wird der jihād heute als Defensivkrieg gegen den Westen gerechtfertigt, der den Islam auf seinem Territorium bedrohe. Erstmals in der Geschichte des modernen Jihādismus gelang es der Organisation des Islamischen Staates (IS) 2014, im nördlichen Syrien und im Nordirak größere Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen und ansatzweise einen Staat nach jihādistischer Doktrin zu etablieren.
Projektionen einer Minderheit
Angesichts der Realität moderner Nationalstaaten ist es offensichtlich, dass das traditionelle islamische Kriegsrecht obsolet ist. Die Interpretation des jihād-Begriffes seitens der Jihādisten stellt zahlenmäßig nur eine absolute Minderheitenposition dar, auch wenn sie durch ihre grausamen Auswirkungen große Aufmerksamkeit erreicht. Die jihādistische Deutung der gegenwärtigen Situation der islamischen Gemeinschaft bestimmt auch den Umgang mit den Primärquellen beziehungsweise die Selektion jeweiliger Passagen. Die Koranstellen über den Kampf gegen Ungläubige spiegeln die Entwicklungen zu Lebzeiten des Propheten wider. Die Offenbarungen an Mohammed kann man in zwei grobe Phasen einteilen, nämlich in seine Zeit von 610 bis 622 in Mekka unter einer ihm feindlich gesinnten Mehrheit und in seine Zeit nach der Auswanderung (hijra) 622 in Medina, wo es dem Propheten gelang, ein muslimisches Gemeinwesen aufzubauen, das zweifellos neben sozialen Neuerungen auch weiterhin Züge der arabischen Stammesgesellschaft des 7. Jahrhunderts aufwies. In den Teilen des Korans aus mekkanischer Zeit treffen wir auf ethische Anweisungen. Erst in den medinensischen Offenbarungen wird eine Bekämpfung der Gegner legitimiert.
Dieser Hintergrund der Phasen der koranischen Offenbarung ist deshalb von Bedeutung, da Jihādisten ihre Legitimation hauptsächlich aus den Passagen der medinensischen Zeit beziehen und die damalige Situation, in denen sich Mohammed mit seinen Anhängern befand, auf die heutigen Umständen der Muslime projizieren.
Dieser von einer spezifischen Wahrnehmung der Situation geleitete Zugang zu den Primärquellen ist einer Komplexität politischer und sozialer Umstände geschuldet. Gegenwärtige jihādistische Akteure demonstrieren, dass die Ideologie vor allem durch ein dualistisches Weltbild aufrechterhalten wird, jedoch häufig nicht durch ausgefeilte theologische Argumentationen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die übergroße Mehrheit der Muslime nicht diese Sichtweise teilt und eine gänzlich andere Interpretation und Herangehensweise an die Quellen praktiziert.
Mariella Ourghi, geboren 1972 in Tirschenreuth (Bayern), 2007 Promotion in Islamwissenschaft an der Universität Freiburg, 2010 bis 2014 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMBF-Projekt „Terrorismus und Radikalisierung“ am IFSH Hamburg, gegenwärtig Lehrbeauftragte an der Pädagogischen Hochschule sowie der Universität Freiburg.
[1] Das arabische Wort kāfir bedeutet zunächst „undankbar“ und bezeichnet im Koran anfänglich die nicht zum Islam übergetretenen Mekkaner, später in den medinensischen Suren auch andere Nichtmuslime, wobei in der historischen Praxis den ahl al-kitāb zumeist eine privilegierte Stellung zukam. „Kāfir“, in: The Encyclopaedia of Islam, Second Edition, Bd. 4, 407-09 (W. Björkman).
[2] Peters: Jihad, 1; Cook: Understanding Jihad, 1 f.; Lohlker: Dschihadismus, 14; Bonner: Jihad, 2; Ourghi: Muslimische Positionen, 15.
[3] Peters: Jihad, 1; Cook: Understanding Jihad, 2; Bonner: Jihad, 7; Ourghi: Muslimische Positionen, 15.
[4] Lohlker: Dschihadismus, 14 f.; Peters: Jihad, 2; Ourghi: Muslimische Positionen, 14.
[5] Peters: Jihad, 3 f.; Ourghi: Muslimische Positionen, 17; Bonner: Jihad, 14 u. 49.
[6] Ourghi: Muslimische Positionen, 18.
[7] Ourghi: Muslimische Positionen, 140-45.
[8] „Wahhābiyya“, in: The Encyclopaedia of Islam, Second Edition, Bd. 11, v. a. 39–41 (Esther Peskes).