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Weg zur Deutschen Einheit – international

Zu den Hintergründen und Wirkungen bis heute

Tim Geiger, Jürgen Lillteicher, Hermann Wentker (Hrsg.): Zwei plus Vier – Die internationale Gründungsgeschichte der Berliner Republik

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Die internationale Gründungsgeschichte der Berliner Republik ist hierzulande im öffentlichen Bewusstsein lange Zeit weitgehend in Vergessenheit geraten. In seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2020 streifte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die internationale Dimension der Wiedervereinigung nur am Rande. Der ehemalige Bundesaußenminister erwähnte nicht einmal den „Zwei-plus-Vier-Vertrag“, obwohl dessen Unterzeichnung durch die Bundesrepublik und die DDR einerseits sowie durch die USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion andererseits die deutsche Einheit dreißig Jahre zuvor überhaupt erst ermöglicht hatte. Dabei ist dieser Weg zu Einheit inzwischen ein umstrittenes Thema, das die Interpretation aktueller Konflikte, vor allem des Kriegs gegen die Ukraine, maßgeblich und bis hin zur Geschichtsverzerrung beeinflusst. Es ist deshalb von großer Bedeutung, dass jetzt die Ergebnisse der Tagung zur Nachwirkungsgeschichte der deutschen Einheit auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen vorliegen, die das Alliiertenmuseum Berlin und das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin gemeinsam mit dem Kolleg Kalter Krieg am 5./6. Oktober 2020 veranstaltet haben. In vier Themenblöcke gegliedert, zeigen die Beiträge namhafter Autorinnen und Autoren die internationale Dimension der Wiedervereinigung und ihrer Folgewirkungen.

Der erste Teil behandelt den „Weg zur deutschen Einheit“. Diese Epochenzäsur fußt auf den Veränderungen, die die internationalen Beziehungen seit dem NATO-Doppelbeschluss 1979 erfuhren. Hélène Miard-Delacroix nennt zwei wichtige Voraussetzungen für die Wiedervereinigung: die Bemühungen des Generalsekretärs des Zentralkomitees der KPdSU Michail Gorbatschow, die Sowjetunion zu reformieren, und die Politik des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan, der aus einer Position der Stärke heraus in Verhandlungen den Abbau der Blockkonfrontation ermöglichte. Die Autorin verlässt die europazentrierte Sichtweise und weitet die Perspektive auf weitere Umwälzungen in Asien, Afrika und Zentralamerika. Das Ende des Warschauer Paktes belegt laut Helmut Altrichter, in welch großem Ausmaß die Sowjetunion ihre Position als Hegemonialmacht in den im Zweiten Weltkrieg eroberten Gebieten aufgrund sinkender ökonomischer Leistungskraft aufgeben musste. Die eigene Schwäche zwang den Kreml, seinen Einflussbereich in Mittel- und Osteuropa zu räumen.

 

Die Frage der NATO-Erweiterung

 

Ein wesentlicher Bestandteil des Vereinigungsprozesses war die künftige Bündniszugehörigkeit Deutschlands, auf die Mary Elise Sarotte eingeht. Ende Januar/ Anfang Februar 1990 schlugen US-Außenminister James Baker, Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher und Bundeskanzler Helmut Kohl der Sowjetunion eine gesamtdeutsche NATO-Mitgliedschaft gegen den Verzicht auf eine Osterweiterung des Bündnisses vor. Bei dem Spitzengespräch zwischen Gorbatschow und Kohl am 10. Februar 1990 in Moskau unterließ es der Generalsekretär jedoch, diese Position schriftlich zu fixieren. Stattdessen nutzte Kohl entschlossen die historische Chance und verpflichtete Gorbatschow geschickt auf die Formulierung, „dass die Entscheidung über die Einigung Deutschlands eine Frage sei, die die Deutschen jetzt selbst entscheiden müssten“ (S. 60). Nach Intervention von US-Präsident George Bush formulierten die USA und die Bundesregierung zusätzlich die Forderung, dass ein vereinigtes Deutschland seine Bündniszugehörigkeit frei wählen könne, dafür allerdings keine NATO-Truppen auf dem Gebiet der DDR stationiert werden sollten. Weitere Beschränkungen für eine NATO-Erweiterung wurden mit der sowjetischen Seite nicht vereinbart, sodass die mittel- und osteuropäischen Staaten danach souverän über ihren NATO-Beitritt entscheiden konnten. Doch die Kontroverse über die NATO-Osterweiterung wirkt bis heute fort: Der russische Präsident Wladimir Putin behauptet, „der Westen“ habe sein Versprechen von 1990 gebrochen, die NATO nicht auszudehnen – und versucht, auch mit dieser falschen Darstellung seinen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen.

Der zweite Teil des Bandes widmet sich den „Hypotheken der Vergangenheit“. Zu den kontroversen Themen gehörte, ob das wiedervereinigte Deutschland an die von Nazi-Deutschland überfallenen Staaten Reparationen zahlen sollte. Bis heute belastet dieses Problem beispielsweise die deutschen Beziehungen zu Griechenland und Polen. Jürgen Lillteicher zeigt, dass der „Zwei-plus-Vier Vertrag“ mit seiner „abschließenden Regelung in Bezug auf Deutschland“ eine friedensvertragliche Qualität besitzt. Deutschland konnte damit die Zahlung von Reparationen vermeiden, leistet jedoch freiwillig und ohne Anerkennung von Rechtsansprüchen Entschädigungszahlungen an die noch lebenden Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft. Zu den großen Konflikten zählte auch die endgültige völkerrechtliche Festschreibung der Oder-Neiße-Grenze. Heike Amos zeichnet die komplexe Gemengelage aus juristischen und innenpolitischen Motiven in den Verhandlungen nach, bis im Deutsch-Polnischen Grenzvertrag vom 14. November 1990 eine für alle Seiten akzeptable Lösung herbeigeführt und eine Stärkung rechter Wählermilieus in Deutschland vermieden werden konnte.

 

Vollständige Souveränität

 

Der Frage, in welchem Umfang alliiertes Recht nach der Wiedervereinigung weitergilt, gehen Andreas Zimmermann und Jan Eiken nach. Beide Autoren belegen schlüssig, dass die Bundesrepublik Deutschland nach den Bestimmungen des „Zwei-plus-Vier-Vertrages“ nun „vollständig souverän ist“. Dieser Beitrag sollte zur Pflichtlektüre für sogenannte „Reichsbürger“ gehören.

Im Mittelpunkt des dritten Teils stehen „Ordnungsentwürfe für die Gegenwart“. Hermann Wentker untersucht die Chancen einer gesamteuropäischen Ordnung auf dem Fundament der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Hier trafen unterschiedliche Prämissen und Vorstellungen aufeinander: Die britische Premierministerin Margaret Thatcher verfolgte 1990 zwei Ziele. Deutschland sollte den Kontinent nicht dominieren und Großbritannien keinen weiteren Souveränitätsverzicht zugunsten der Europäischen Gemeinschaft (EG) leisten. Frankreich stellte sich Europa als lockeren Staatenverbund vor und versuchte, die Osteuropäer aus der EG herauszuhalten. Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher hielt NATO und KSZE als Ordnungsmodelle für miteinander vereinbar. Dagegen setzten die USA zur Einbindung Deutschlands und Stabilisierung Europas auf die NATO und behielten damit letztlich die Oberhand. Entsprechend verlor, wie Hermann Wentker überzeugend belegt, die KSZE an Bedeutung, weil der Gegensatz zwischen Ost und West verschwand und sie nicht mehr als Brücke benötigt wurde.

 

Rückkehr nach „Mitteleuropa“

 

In ihrer Bedeutung meist unterschätzt werden die Themenfelder Abrüstung und Rüstungskontrolle in Ost und West. Beides waren entscheidende Voraussetzungen für die deutsche Einheit – auf diesen Zusammenhang weist Tim Geiger hin. Zuerst erzielten die USA und die Sowjetunion Fortschritte beim Abbau ihrer nuklearen und chemischen Waffen. Ab 1990 kam auch die konventionelle Abrüstung voran – nachdem in den 1980er-Jahren der Westen aus einer Position der Stärke heraus die bis dahin zu konstatierende konventionelle Überlegenheit des Warschauer Paktes gebrochen hatte: „Neue konventionelle Waffensysteme der NATO, wie eine verbesserte Panzerabwehr, Minenwerfer und Streumunition verwandelten die bislang so gefürchtete Panzerwaffe des Warschauer Pakts mehr oder weniger in rollende Särge“ (S. 151). Der Osten konnte nicht mehr mithalten. Die bei der konventionellen Abrüstung erzielten Fortschritte – so die auf eine breite Quellenbasis gestützte Argumentation Tim Geigers – erleichterten es der Sowjetunion, der NATO-Mitgliedschaft Deutschlands zuzustimmen. Damals zeigte sich: Militärische Stärke bildet das Fundament der Abschreckung und der Verteidigung freiheitlicher und demokratischer Werte. Daran erinnert aktuell und für den Westen durchaus schmerzhaft die Aggression Putins gegen die Ukraine.

Die Opposition in den „mittelosteuropäischen“ Staaten verstand ihren Kampf gegen den Kommunismus und die Vorherrschaft der Sowjetunion als Rückkehr nach „Mitteleuropa“. Wanda Jarząbek betont, dass die mühsam errungene Selbstständigkeit als hohes Gut gilt und die Anbindung an die Europäische Union nicht als Verzicht auf Souveränität verstanden wurde. Dabei realisierten weite Teile der ehemaligen Oppositionsbewegungen und der neuen politischen Eliten nicht, dass die europäische Integration mit einem Verlust der gerade erkämpften Souveränitätsrechte einhergeht.

 

Deutschlandbilder nach 1990

 

Im Mittelpunkt des vierten Teils stehen die „Bilder von Deutschland nach 1990“. Der britische Blick auf das wiedervereinigte Deutschland wurde von starken Gefühlen beeinflusst, wie Dominik Geppert herausarbeitet. Die Deutschlandpolitik Großbritanniens seit 1990 wird bestimmt von den Schatten zweier Weltkriege, in denen Deutsche und Briten gegeneinander gekämpft hatten, der Sorge vor einer Vorherrschaft Deutschlands auf dem Kontinent und dem in der britischen Tradition verwurzelten Gleichgewichtsdenken.

Wolfgang Mueller setzt sich mit den Stimmungen und dem Diskurs in Russland auseinander. Dort prägt das Narrativ der Deutschen Einheit als sowjetischer Niederlage die Debatten und führt zu großer Polarisierung. Dazu kommt ein geringer Kenntnisstand über die historischen Ereignisse 1989/90 und die Ergebnisse der Verhandlungen. Einen Hoffnungsschimmer auf einen weniger emotionalen Umgang mit dem Thema bietet lediglich der Inhalt vieler Schulbücher, in denen die Zusammenhänge, wenn auch knapp, aber relativ objektiv dargestellt werden.

Die Deutschlandbilder in den USA nach 1990 stehen im Zentrum des Beitrags von Konrad H. Jarausch. Nach ihrem großen Engagement während der Wiedervereinigung erwarteten republikanische und demokratische Administrationen einen stärkeren Beitrag Deutschlands bei Konflikten in vielen Teilen der Welt. Sie wurden durch die Bundesregierungen von Helmut Kohl und Gerhard Schröder immer wieder enttäuscht.

Die Zurückhaltung auf der internationalen Bühne ist allerdings auch ein Ergebnis des langjährigen amerikanischen Einflusses auf die Innenpolitik der alten Bundesrepublik.

Der Band schließt mit seinen fundierten, multiperspektivischen und interdisziplinären Beiträgen eine Forschungslücke. Er setzt hohe Maßstäbe für die weitere Untersuchung der internationalen Folgen der Wiedervereinigung. Den Beiträgen ist eine breite Leserschaft zu wünschen.

 

Stefan Donth, geboren 1968 in Dresden, 1999 Promotion mit einer Arbeit über die Politik von Sowjetischer Militäradministration und SED in Sachsen zur Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen von 1945 bis 1952, seit 2016 Bereichsleiter an der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, seit 2019 Stellvertretender Sprecher des Forschungsverbundes „Landschaften der Verfolgung“.

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