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Hans Magnus Enzensberger zum Gedenken

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Wohl niemand unter den zeitgenössischen deutschsprachigen Schriftstellern war so denkfreudig, so wendemutig und so gescheit wie Hans Magnus Enzensberger. Seine Werke, von den Gedichten über die Dramen, die Prosa und die Essays bis zu den Editionen, sind Legion, liegen aber weder gesammelt noch kommentiert vor. Er war Rundfunkredakteur und Verlagslektor, stürmte jung mit seinem Debütband Verteidigung der Wölfe (1957) in die literarische Welt und revolutionierte sie mit traurigen, bösen und freundlichen Gedichten, erhielt früh den Georg-Büchner-Preis (1963), wurde als Nobelpreiskandidat gehandelt. Er stand im Zentrum der „Gruppe 47“, die er eine Meinungsclique „zur Verhinderung literarischen Unfugs“ nannte. Seine Gedichte wurden Abiturthemen, seine Anthologien machten Schule, sein Kinderbuch Der Zahlenteufel (1997) ist ein Bestseller. Er lebte in Rom und in Berlin, auf einer Insel im Oslofjord und auf Kuba, er kannte die Länder Europas ebenso gut wie die tonangebenden europäischen Dichter, die er im Museum der modernen Poesie (1960) kartographierte. Ein „Weltgeist auf Achse“ (Peter Rühmkorf) war er in vieler Hinsicht.

Isolde Ohlbaum
Hans Magnus Enzensberger (1929–2022) im März 1997 in München

Dabei war Enzensberger seinen Gegnern und Kritikern stets einen entscheidenden Schritt voraus. Das Storytelling des Nachrichtenmagazins Der Spiegel durchleuchtete er in den 1960er-Jahren ebenso scharfsinnig wie den „Journalismus als Eiertanz“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – und wen wundert’s, dass dem Spiegel nichts Besseres einfiel, als seine Analysen sogleich zu publizieren. Als die 68er-Generation das Sterbeglöckchen für die Literatur läutete, schrieb er, wie zu seinen besten Anfängen, weiterhin Gedichte; später gab er unter dem Titel Lyrik nervt (2004) wohlweislich „erste Hilfe für gestresste Leser“. Die „Aporien der Avantgarde“ (in: MERKUR, Mai 1962) erkundete er ebenso vorausschauend wie die Entstehung der Massenmigration (Die Große Wanderung, 1992), die globalen Aussichten auf den Bürgerkrieg (1993) und den Terrorismus der radikalen Verlierer (SchreckensMänner, 2006). Im Epilog seines Reisejournals Ach Europa!, das aus Thomas Manns Warnruf Achtung Europa (1936) einen halbironischen Stoßseufzer machte, stellte er bereits 1987 das „Lufthansa-Weltbürgertum“ der Wessis dem moralischen Überlegenheitsgestus der Ossis gegenüber.

 

Essays als „Nomaden im Regal“

 

Dabei war sich Enzensberger für Selbstkritik nie zu schade. 1968, im berühmten Kursbuch 15, das unter seiner Regie von 1965 bis 1975 herauskam, hatte er die Adenauer-Republik noch im Zeichen der Restauration gelesen (vgl. Helmuth Kiesel: „Wider den Restaurationsvorwurf“, in: Die Politische Meinung, Nr. 374, Januar 2001): Diese Demokratie sei nur auf dem Papier gut; belastet von ihrer faschistischen Vergangenheit, werde sie recht wirkungslos von der Literatur bekämpft – „je folgenloser das Engagement der Schriftsteller blieb, desto lauter wurde nach ihm gerufen“, so Hans Magnus Enzensberger. Zwanzig Jahre später korrigierte er sich in seinem Aufsatz Mittelmaß und Wahn (1988): Die „Rede von der Restauration, ein in den fünfziger Jahren beliebter Topos“, beruhe „auf einer Augentäuschung“. „Als in den sechziger Jahren die Gerüste fielen, war eine völlige Neukonstruktion zu besichtigen“ (siehe www.kas.de/documents/252038/253252/7_dokument_dok_pdf_1074_1.pdf/157c7fa8-ff50-4a9d-1bcd-f7ece1500991?t=1539668108045).

Am besten ist Enzensberger immer da, wo er sein Schreiben als freie Denkform entfalten kann, als konfigurative Annäherung an Wahrheiten, als kleinen Versuch auf den Schultern der großen Aufklärer Michel de Montaigne und Denis Diderot: im Essay. Essays sind für Enzensberger „Nomaden im Regal“, gesammelte Zerstreuungen. In seiner fast tausendseitigen Sammlung Über Literatur (2009) finden wir Meditationen und Metaphern, Kassiber und Kuriosa, Rätsel, Spiele, Comics, Anekdoten, „Scharmützel und Scholien“: „Man kann hier spazierengehen, die alten und die neuen, zum Glück meist unblutigen Schlachtfelder der Dichter besichtigen, die Vorzüge der Stecknadel und den Alka-Seltzer-Effekt kennenlernen oder der Poesie der Wissenschaft nachspüren“, schreibt der Autor in der Nachbemerkung.

In einem lehrreichen Ideengewimmel führt uns Enzensbergers Essay Album (2010) den Reichtum der deutschen Sprache vor: 51 Wörter gibt es, um die Beschaffenheit einer Oberfläche zu erklären, von „glänzend“ bis „gefleckt“. Von den Mathematikern könnten die Dichter lernen, dass „triviale Zöpfe“ nicht zum Abschneiden sind und dass man in der „Schneeflocken-Kurve“ nicht ins Rutschen kommt. Wer hätte wiederum gedacht, dass das Wort „banal“ ursprünglich von Goethe stammt, dass Jean Paul den Ausdruck „Irrenanstalt“ geprägt, Herder den „Zeitgeist“ und Wieland den „Staatsbürger“ erfunden hat. Oder dass ein Schlagersänger anno 1844, nach einem Anschlag auf den preußischen König, den „Attentäter“ aus purem Reimzwang (auf „Verräter“) aus der Taufe gehoben hat. Und das Europäische an Europa versammelt der findige Autor in einem Katalog aller Hervorbringungen, die andere, „zu ihrem Heil oder Unheil, für brauchbar gehalten haben“: vom „Abitur“ und vom „Anarchismus“ über „Kabarett“ und „Kokain“ bis zum „Zahnersatz“.

Es fällt nicht leicht, ein Buch von Hans Magnus Enzensberger besonders hervorzuheben. Vielleicht ist es Meine Lieblings-Flops, erschienen 2001, ein Leporello vom Scheitern der Phantasie und vom Glück des Irrens, eine höchst amüsante Übung also in der Kategorie Fehlertoleranz, die sich bei den Deutschen nicht gerade eines guten Rufes erfreut. Das Buch erzählt von Enzensbergers Kino-, Opern-, Theater- und Zeitschriftenflops. In den Jahren 2000 bis 2003 hatte er an einem „Trainingsbuch“ für Schüler mit dem Titel Kindergeld gearbeitet, das ein in Schulen vernachlässigtes Thema vorstellen sollte: die Wirtschaft und das Geld. Dafür war die Zeit offenbar nicht reif.

 

Irrwege als Wahrheitssuche

 

Oder versetzen wir uns ins Jahr 1961: Enzensberger hatte eine Komödie unter der Feder, in der es um eine Entführung des seinerzeitigen Bundeskanzlers ging. Doch Konrad Adenauer habe sich als so raffiniert erwiesen, dass ihn die Übeltäter rasch wieder loszuwerden versuchten. Nur eine Viertelstunde las der Autor auf der Tagung der „Gruppe 47“ aus seinem Manuskript vor. „Ich glaube, das genügt“, beschied danach der Gruppenleiter Hans Werner Richter. Bezeichnenderweise gibt es kein Manuskript von „Die Schildkröte“ mehr. Bei Hans Magnus Enzensberger, verstorben am 24. November 2022 im Alter von 93 Jahren in München, weiß man, wo es langgeht. Seine Irrwege dienen der Wahrheitssuche, seine Umwege erhöhen die literarische Ortskenntnis, und selbst seine Kritiker können von ihm lernen, dem „Fliegenden Robert“ (1980): „Eskapismus, ruft ihr mir zu, / vorwurfsvoll. / Was denn sonst, antworte ich, bei diesem Sauwetter! –, / spanne den Regenschirm auf / und erhebe mich in die Lüfte. / Von euch aus gesehen, / werde ich immer kleiner und kleiner, / bis ich verschwunden bin. / Ich hinterlasse nichts weiter / als eine Legende, / mit der ihr Neidhammel, / wenn es draußen stürmt, / euren Kindern in den Ohren liegt, / damit sie euch nicht davonfliegen.“

 

Michael Braun, geboren 1964 in Simmerath, Literaturreferent der Konrad-Adenauer-Stiftung und außerplanmäßiger Professor für Neuere Deutsche Literatur und ihre Didaktik, Universität zu Köln.

 

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