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Westliche Selbstbehauptung und die Debatte über eine neue Weltordnung

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Es besteht kein Zweifel: Die Welt sortiert sich neu. Und ebenso wenig zweifelhaft ist: Der Westen – es wird noch darüber zu reden sein, wie man ihn definiert – wirkt orientierungslos. Die Ratlosigkeit in den verschiedenen Staaten ist unterschiedlich stark ausgeprägt. Deutschland spielt jedenfalls eine besonders problematische Rolle.

In der Fachpresse und in internationalen Foren wird debattiert, was uns nach der Ost-West-Konfrontation im Kalten Krieg und dem „unipolaren Moment“ der USA nun erwartet. Eine Neuauflage der Blockkonfrontation in der Gefechtslage Demokratien hier, Autoritäre da? Eine „G2“ mit um die USA und China gruppierten Lagern? Multipolarität? Globale Staatenanarchie?

Für Europa ist klar: Der Systemkonflikt – wenn er denn je verschwunden war – ist mit Macht zurückgekehrt, und er lässt nicht die Wahl, ob man an ihm teilnehmen möchte oder nicht: „Anstatt Demokratien als bloße Konkurrenten zu begreifen, sehen Autokraten in ihnen eine existenzielle Bedrohung für ihre Legitimation im eigenen Staat wie auch im Ausland – gleich ob durch Tat oder Beispiel“, analysieren etwa William J. Dobson und Christopher Walker (Dobson/Walker 2024) hellsichtig und beschreiben die neuartige „scharfe Macht“ der Autokraten, mit der sie Demokratien attackieren: „Die Ära westlicher Selbstgefälligkeit ist vorbei. Wir erleben einen aktiven Angriff autoritärer Regime auf die Demokratie, und die Auswirkungen dieser Aggression sind inzwischen deutlich zu erkennen. […] Mittlerweile sollte klar sein, dass Russland, China und deren Nachahmer nicht dabei sind, uns ähnlich zu werden, sondern intensiv nach neuen Wegen in ihrem Kampf gegen die Freiheit suchen. Die Zeit ist nicht auf unserer Seite.“

Die Eskalation des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine – begonnen hat er bereits vor zehn Jahren mit der Annexion der Krim und dem Separatismus in der Ostukraine – müsste dem letzten Zweifler die Augen geöffnet haben, auch wenn wir erleben, wie manche politische Entscheidungsträger Illusionen und Weltmodellen von gestern nachhängen. „Deutschland wird in diesem hybriden Krieg fortwährend angegriffen“, so Der Spiegel am 9. März 2024 in seiner Titelgeschichte „Putin hört mit“. Durch Desinformationen wird in Deutschland und weltweit versucht, Demokratien zu destabilisieren und sturmreif zu schießen, Naivität, Korruption und nicht immer durchsichtige Interessen in vielen Ländern der Europäischen Union helfen dem Angreifer, wie gut recherchierte Texte seit Jahren belegen.

 

Die Mär vom dekadenten Westen

Mit seinen Methoden ist Russland nicht allein: Der Iran mit seinen „Proxy-Milizen“, Nordkorea und China agieren ähnlich und versuchen, ihre Einflusssphären auszuweiten. Dabei haben sie den Systemwettbewerb längst auch aktiv ausgerufen und machen aus den eigenen Absichten keinen Hehl. Als Basisnarrativ dient die Mär vom dekadenten Westen, der seine beste Zeit hinter sich und die Welt mit Doppelmoral, kolonialer Ausbeutung und Imperialismus lange genug geknechtet habe. Der Rückzug aus Afghanistan wurde in diesem Sinne verstanden. Die USA sind der Hauptgegner, Europa wird als besonders verwundbar identifiziert.

Die Frage ist, wer zum Westen gehört: 45 Länder beteiligen sich aktuell weltweit an den Sanktionen gegen Russland – vielleicht ein Anhaltspunkt? Fareed Zakaria spricht vom „West plus“ und fürchtet vor allem den amerikanischen Rückzug, obwohl das Land sehr gut dastehe: „The United States must make shoring up its alliances the centerpiece of its foreign policy“1 (Zakaria 2024). Gleichzeitig ist keineswegs sicher, wie es in der „Self-Doubting Superpower“ (Zakaria 2024) weitergeht – in einem Land, in dem Isolationismus und „America First“ drohen, Mainstream zu werden, und speziell die Republikanische Partei unberechenbar wird. Die Präsidentschaftswahl im November 2024 wird zur entscheidenden Weichenstellung weit über die USA hinaus.

 

Ängstliche Normalität statt Prioritätenveränderungen

Es ist längst eine Binsenweisheit, dass Europa und allen voran Deutschland mehr für die eigene Sicherheit leisten muss; hierzulande sind zuallererst eine realistische Lagebeurteilung und der politische Wille notwendig, den Erkenntnissen Taten folgen zu lassen. Längst sind wir nicht mehr für alle das leuchtende Vorbild, an dem man sich orientieren möchte, „Schurkenstaaten“ wie Putins Russland sind keineswegs so isoliert, wie wir es gern hätten. Für die deutsche Hypermoral ist die Nachfrage international überschaubar, sogar Doppelmoral lässt sich auch unserer „wertegeleiteten Außenpolitik“ mit guten Beispielen vorwerfen.

Der Schock der „Zeitenwende“ scheint schon wieder ängstlicher Normalität gewichen zu sein, wirkliche Prioritätenveränderungen sucht man vergebens. Dass die Bereitschaft, sich und die Verbündeten im Fall eines Angriffs gemäß den Verpflichtungen laut Artikel 5 NATO-Vertrag zu verteidigen, in Umfragen bedenklich gering ausgeprägt ist, stärkt nicht gerade das Vertrauen in ein Land, das eigentlich längst mehr Verantwortung und eine Führungsrolle übernehmen müsste, statt Getriebener und Nachzügler zu sein, ganz im Sinne von Daniel Fiott: „Die Tragödie besteht darin, dass die europäischen Staaten, die verstehen, was geopolitisch auf dem Spiel steht, nur selten die finanzielle und politische Macht haben, um handeln zu können. Denen, die über die Mittel verfügen, fehlt [derzeit] der Mut, zu handeln und zu führen“ (Fiott 2024).

Da sind andere Akteure etwas weiter: Die östlichen Nachbarn der Bundesrepublik Deutschland fühlen sich in ihren Warnungen vor Russland bestätigt. Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, versucht seit 2019 an der Spitze einer „wahrhaft geopolitischen Kommission“, ihrer Bedrohungsanalyse Taten folgen zu lassen, langjährig neutrale Länder wie Schweden und Finnland suchen im westlichen Bündnis Schutz – ein ungewollter Beitrag Wladimir Putins zu westlicher Einheit. Weit östlich von Europa – nicht zuletzt in Asien, wo China mit seinen Ansprüchen auf Einflusssphären, das Südchinesische Meer und Taiwan, als die größere Bedrohung wahrgenommen und die Achsenbildung mit Russland größte Sorge auslösten – reagieren Staaten wie Japan und Australien längst energisch und stärken ihre Abwehrkräfte und Bündnisse. Gleichzeitig beobachtet China sehr genau, ob Putins Aggression in der Ukraine erfolgreich ist und was sich aus der westlichen Reaktion für die eigenen Ansprüche lernen lässt.

Es ist weiterhin vordringlich, dass sich die Europäische Union nicht spalten lässt, als Kollektiv Selbstbehauptungswillen demonstriert und das „Dekadenznarrativ“ widerlegt. Fehlende Ressourcen können nicht als Ausrede dienen, wenn man etwa auf die wirtschaftlichen Größenverhältnisse zu den globalen „Wettbewerbern“ blickt. Zwar geht das wirtschaftliche Gewicht Europas relativ betrachtet eher zurück, und die Wettbewerbsfähigkeit bräuchte ein Upgrade; gleichwohl bleibt die wirtschaftliche Stärke das Pfund, mit dem sich wuchern lässt: „In einer Zeit des Misstrauens zwischen großen Wirtschaftsmächten, der Systemrivalität und neuer militärischer Konflikte wird auch die internationale Wirtschaftspolitik zur Waffe“, schreiben Gabriel Felbermayr und Christoph Herrmann (Felbermayr/Herrmann 2024). Es geht also nicht allein um das Militärische, aber eben auch.

 

Europa: Mischung aus Themenpark und Hospiz

Die Richtung definierte Radek Sikorski bereits im vergangenen Jahr, bevor er erneut die Verantwortung für die polnische Außenpolitik übernahm: „To survive and prosper in a world of battly giants, Europe must transform itself from a militarily weak confederation into a genuine superpower“2 (Sikorski 2023). Europa würde dann auch zu einem besseren Bündnispartner für die USA und Demokratien weltweit. Sikorskis Horrorvision hingegen: Europa als künftige Mischung aus Themenpark und Hospiz.

Zur Selbstbehauptung gehören auch Verbündete im sogenannten Globalen Süden. Letztere sind nur mit Respekt, einer gehörigen Portion Realpolitik und unter Berücksichtigung ihrer Interessen zu gewinnen. An all dem hat es in der Vergangenheit oft gemangelt; eine neue Sensibilität dafür ist gerade jüngeren Generationen ein Anliegen (vgl. Bude 2024). Spricht man im Westen von „regelbasierter Ordnung“, verweist der Süden darauf, dass er an der Regelsetzung selten beteiligt war und aktuelle Regeln – die Zusammensetzung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen oder die Gewichtungen in internationalen Finanzorganisationen sind nur zwei Beispiele – eher die Machtverhältnisse der Vergangenheit als gleichberechtigte Zukunftsgestaltung dokumentieren. Dabei zeigt das Abstimmungsverhalten in den Vereinten Nationen bei der Verurteilung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine durchaus, dass Souveränität sowie Nichteinmischung als Werte und nicht zuletzt als Anliegen von Schwächeren wahrgenommen und verteidigt werden. Hieran lässt sich anknüpfen. Gleiches gilt für eine ehrliche Aufarbeitung der Vergangenheit und den Umgang mit Menschheitsaufgaben wie dem Klimawandel oder dem Umgang mit Pandemien – Verwundungen aus der Coronazeit sind längst nicht überall verheilt, nicht nur die „Impfdiplomatie“ Chinas wirkt nach.

 

Der hohe moralische Ton

Bei der Partnersuche treten altbekannte Dilemmata auf, wie Hal Brands mit Verweis auf die Arbeit des Theologen Reinhold Niebuhr – Anlass war 1946 die Bewertung der Koalition der Westmächte mit Stalin, um Hitler zu besiegen – nachweist: „In a world of lousy options, the crucial question is often: Lousy compared with what?“3 (Brands 2024). Was ist zur Erhaltung unserer Freiheit, der Demokratie, unserer Lebensform erlaubt, und mit wem tut man sich zusammen? Jährlich lädt US-Präsident Joe Biden zu weltweiten „Demokratiegipfeln“ ein, und stets wird es knifflig: Ist Indien unter Präsident Narendra Modi tatsächlich ein Wertepartner, wie die Rhetorik von der „größten Demokratie der Welt“ nahelegt? Ist Ungarn, obwohl Mitglied der Europäischen Union und der NATO, unter Victor Orbán zu Recht nicht eingeladen? Wie entwickelt sich die Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan, und vergessen wir, dass das Land auch in Phasen verschiedener Militärdiktaturen NATO-Partner blieb?

„Verzeiht“ man Saudi-Arabiens Kronprinz die Ermordung eines missliebigen Journalisten, weil er eher westlich orientiert ist und im erklärten Interessengegensatz zum Iran steht? Muss man mit afrikanischen Militärdiktaturen kooperieren – nicht nur, weil man die Rohstoffe benötigt, sondern auch, um den Einfluss von Systemrivalen einzuhegen?

Schwierige Fragen, die kaum im Schwarz-Weiß-Modus beantwortbar sind. Verzichten sollte man auf den hohen moralischen Ton, nicht aber auf die eigenen Werte, auch wenn sie sich nicht immer und überall verwirklichen lassen. Ob man dabei so weit gehen will wie Comfort Ero und Murithi Mutiga in ihren Betrachtungen zur Krise der afrikanischen Demokratie und der Empfehlung, auch von weiten Teilen der Bevölkerung akklamierte Putschisten nicht zu sanktionieren, ist dabei nur eine Frage: „Avoiding punishing them is the only way that outside actors can keep these citizens’ trust“4 (Ero/Mutiga 2024). Der bereits zitierte Brands kommt jedenfalls zur Bewertung: „Morality is a compass, not a straitjacket“5 (Brands 2024).

Neben Realpolitik auf zwischenstaatlicher Ebene ist weiterhin Demokratieförderung weltweit erforderlich, die konsequente Unterstützung von Zivilgesellschaften, die Stärkung von Menschen- und Bürgerrechten wo immer möglich. Auch sind engagierte und mit Ressourcen unterlegte Maßnahmen notwendig, um Fake News und Desinformationskampagnen kontern zu können, etwa die russische Behauptung, das Land sei ja nie Kolonialmacht gewesen. Die Förderung von Qualitätsjournalismus ist dabei allemal eine gute Wahl. „Entwicklungszusammenarbeit [EZ, Einfügung durch die Redaktion] sollte heute noch mehr in Demokratieförderung und die Resilienz von Demokratisierungsprozessen investieren“, so Jörg Faust, Leiter des Deutschen Evaluierungsinstituts der Entwicklungszusammenarbeit, und sich überlegen, wo „EZ trotz geopolitisch legitimer Zielsetzungen kontraproduktiv wird, weil sie autoritäre Staaten und deren konfliktträchtiges Außenverhalten alimentiert“ (Faust 2024). Die Suche nach der richtigen Balance bleibt eine Daueraufgabe.


Frank Priess, geboren 1957 in Wolfsburg, bis 2023 Stellvertretender Leiter Europäische und Internationale Zusammenarbeit, Konrad-Adenauer-Stiftung.

 

Literatur

Brands, Hal: „The Age of Amorality. Can America Save the Liberal Order Through Illiberal Means?“, in: Foreign Affairs, 103. Jg., Nr. 2, März/April 2024, S. 104–117, hier S. 114 und 115.

Bude, Heinz: Abschied von den Boomern, Hanser, München 2024.

Dobson, William J. / Walker, Christopher: „Die Ära westlicher Selbstgefälligkeit ist vorbei“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 60, 11.03.2024, S. 6.

Ero, Comfort / Mutiga, Murithi: „The Crisis of African Democracy“, in: Foreign Affairs, 103. Jg., Nr. 1, Januar/Februar 2024, S. 120–134, hier 132.

Faust, Jörg: „Nicht ob, sondern wie“, in: Internationale Politik, 79. Jg., Nr. 2, März/April 2024, S. 100–104, hier S. 102 und 103.

Felbermayr, Gabriel / Herrmann, Christoph: „Wirtschaftspolitik als Waffe“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 61, 12.03.2024, S. 16.

Fiott, Daniel: „Wann wird Europa reif für Geopolitik?“, in: Internationale Politik, 79. Jg., Nr. 1, Januar/Februar 2024, S. 25–29, hier S. 29.

Hamilton, Clive / Ohlberg, Mareike: Die lautlose Eroberung. Wie China westliche Demokratien unterwandert und die Welt neu ordnet, Deutsche Verlagsanstalt, München 2020.

Kühnhardt, Ludger: The Global Society and Its Enemies. Liberal Order Beyond the Third World War, Springer Verlag, Heidelberg 2017, hier S. 215.

Mody, Ashoka: „Indien als Gegenpart zu China? Das halte ich für naiv“, Interview in: Internationale Politik, 79. Jg., Nr. 1, Januar/Februar 2024, S. 44–47.

Sikorski, Radek: „Europe´s Real Test Is Yet to Come“, in: Foreign Affairs, 102. Jg., Juli/August 2023, S. 66–77, hier S. 77.

Wahlers, Gerhard: Editorial, in: Auslandsinformationen der Konrad-Adenauer-Stiftung, Nr. 2/2023, S. 3.

Zakaria, Fareed: „The Self-Doubting Superpower“, in: Foreign Affairs, 103. Jg., Nr. 1, Januar/Februar 2024, S. 38–54, hier S. 51.

 

1 „Die Vereinigten Staaten müssen die Stärkung ihrer Bündnisse zum Kernstück ihrer Außenpolitik machen“ [Übersetzung durch die Redaktion].
2 „Um in einer Welt der kämpfenden Giganten zu überleben und zu gedeihen, muss sich Europa von einem militärisch schwachen Staatenbund in eine echte Supermacht verwandeln“ [Übersetzung durch die Redaktion].
3 „In einer Welt voller miserabler Optionen lautet die entscheidende Frage oft: Lausig im Vergleich wozu?“ [Übersetzung durch die Redaktion].
4 „Die Vermeidung von Strafen ist die einzige Möglichkeit für externe Akteure, das Vertrauen dieser Bürger zu erhalten“ [Übersetzung durch die Redaktion].
5 „Moral ist ein Kompass, keine Zwangsjacke“ [Übersetzung durch die Redaktion].