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Über den Vorgang des „Sich­-ein-­Bild-Machens“

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Das alttestamentarische Gebot „Du sollst dir kein Bildnis machen“ bezieht sich auf Gott den Allmächtigen – lässt sich jedoch auch auf unser zwischenmenschliches Miteinander übertragen. Sich ein Bild von jemanden zu machen, heißt, von vornherein festzulegen – aus welchen Beweggründen auch immer –, wie der andere zu sein hat, wie er sich verhalten, was er denken und fühlen soll. Dürfen wir vor diesem Hintergrund die Rede des Bildnisses als Euphemismus verstehen für etwas, wofür wir uns schämen müssten, wenn es als das, was es in Wirklichkeit ist, vor aller Augen entblößt würde: nämlich eine Voreingenommenheit? Was anderes tun wir, wenn wir uns „ein Bild“ unseres Gegenübers machen, als ihn oder sie in einen von uns vorgefertigten Rahmen zu pressen, der ihm oder ihr jede individuelle Bewegungsmöglichkeit und die Luft zum freien Atmen nimmt?

Dabei darf man jedoch nicht außer Acht lassen, welche quasi synergetischen Kräfte der Vorgang des „Sich-ein-Bildnis-Machens“ freisetzt. Wie immer gehören stets beide Seiten dazu: jene, von der aus das Bild entsteht und gesendet wird – und jene, der dieses Bild wie ein Stempel aufgedrückt wird. Sagt das Bild womöglich mehr über den aus, der nur „in Bildern“ zu denken vermag, als über denjenigen, der sich diesem Bild anzupassen hat? Mache ich mir, indem ich mir ein Bild meines Gegenübers mache, nicht zugleich ein Bild von mir selbst, und spiegelt der andere nicht nur wider, was ich ihm von mir aufdränge? Wie lebt es sich in vorgefertigten Bildern, und sehen wir uns selbst noch vor lauter Bildern?

 

Nährboden für sich selbsterfüllende Voraussagen

 

Max Frisch war der Meinung, dass wir vor allem wenn wir lieben, bilderlos sind, das heißt, dass wir keine vorgefertigten Annahmen haben, wie der andere zu sein habe. „Wir lieben ihn einfach.“ Eben darin bestehe, so der Autor, „die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen“. Gerade über den, den wir lieben, können wir am wenigsten aussagen: wie er ist. Sobald die Liebe aussetzt, beginnt sich das Bild in uns zu formen: Was die Liebe würdevoll achtet, so Frisch weiter, das „Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das auszuhalten wir müde geworden sind“, verschwindet mit ihr und verwandelt sich in ein fixes, starres Wie-der-andere-zu-sein-hat. „Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat.“ Aus dem „Liebesverrat“ hat dann Peter von Matt eine ganze Literaturgeschichte entwickelt, die vom Verbilden des anderen handelt.

Diese Bilder, die man sich, vielleicht sogar unbewusst, von anderen macht: Wie prägen sie unser gesellschaftliches und auch zwischenmenschliches Zusammenleben? Die Erstarrung, die wir im Gesicht des anderen zu sehen vermeinen: Ist sie vielleicht in Wirklichkeit die unsere in reflektierter Form? Erstarrt unser Mitmensch, weil wir dieses Erstarren in ihm sehen wollen? Nathanael, dem Protagonisten in E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann, gelingt es sogar, die tote Puppe Olimpia zum glühenden Leben zu erwecken durch das Bild, das er sich von ihr macht, oder mit anderen Worten: indem er sein eigenes Liebesfeuer auf sie projiziert und sein Inneres in ihr widergespiegelt sieht.

Ist es sogar möglich, dass wir mit den Bildern, die wir den anderen zumuten, den Nährboden für sich selbsterfüllende Voraussagen bilden? Um noch einmal Max Frisch zu zitieren: „Man hat darauf hingewiesen, das Wunder jeder Prophetie erkläre sich teilweise schon daraus, dass das Künftige, wie es in den Worten eines Propheten erahnt scheint und als Bildnis entworfen wird, am Ende durch eben dieses Bildnis verursacht, vorbereitet, ermöglicht oder mindestens befördert worden ist.“ Der Schweizer Autor verweist in diesem Zusammenhang auf die ahnungsvolle Kassandra und fragt: „[…] die scheinbar Warnende und nutzlos Warnende, ist sie immer ganz unschuldig an dem Unheil, das sie vorausklagt? Dessen Bildnis sie entwirft?“

Haben wir mit unserem gut gemeinten Versuch, die neue ansteckende Krankheit unter Kontrolle zu halten, nicht auch Bilder in Gestalt von Selffulfilling Prophecys erzeugt, die langfristigere gesamtgesellschaftliche Konsequenzen nach sich ziehen werden? Irren wir nicht seit knapp zwei Jahren in einem selbstverschuldeten Labyrinth umher, das auch eine wesentlich sprachliche Komponente hat: wie wir mit Begriffen um uns werfen, ohne sie auch nur ansatzweise kritisch zu prüfen, und so Vorstellungsmuster erzeugen, in denen wir uns dann irgendwie zurechtfinden müssen? Etwa die Rede von „asymptomatischen“ Menschen oder gar „Gefährdern“, also solchen, die mit dem Virus infiziert sein und wiederum andere infizieren könnten, jedoch keine Symptome aufweisen? Vor Corona-Zeiten nannte man diese Menschen einfachheitshalber Gesunde. Derartige Kategorisierungen machen aus jedem und jeder einen Wolf oder eine Wölfin im Schafspelz. „Im Zweifel für den Angeklagten“ gilt nicht mehr. Jeder ist angeklagt und mit der Anklage sogleich schuldig gesprochen.

 

„Act like you’ve got it“

 

Die sich so allmählich einschleichende, inzwischen bedenklich manifest gewordene Voreingenommenheit, was macht sie mit uns? Wie bewegen wir uns in einer Welt, in der uns jeder, dem wir begegnen, potenziell „gefährdet“ und den wir daher als einen „Infizierten“ zu behandeln haben? Ohnehin scheint in dieser Krise die Devise zu lauten: Auch wenn wir etwas nicht genau wissen, nehmen wir es dennoch einfach an und handeln entsprechend. Welches Ausmaß eine solche Unterstellung nehmen kann, war noch bis in den Sommer 2021 hinein in Großbritannien zu sehen, wo man nicht dem anderen, sondern sich selbst vorhielt, infiziert zu sein. Eine Selbsthemmung perfidester Art. Ob in der Metro oder auf offener Straße, überall die mahnende Erinnerung an den Einzelnen: „Act like you’ve got it.“ („Handle so, als ob du es hättest.“) Jeder sah sich also in Permanenz mit einem Bild konfrontiert, das einem vorgab, sich zu verhalten, als hätte man das Virus in sich, freilich ohne es zu haben. Ein geradezu Shakespeare’sches Possenspiel. Nur zu schade, war das Globe Theatre zu dieser Zeit mangels Systemrelevanz geschlossen. Wie geht es all jenen damit, die den Slogan „Act like you’ve got it“ verinnerlicht und sich dermaßen zu eigen gemacht haben, dass sie es gar nicht mehr von ihrem Ich loslösen können? Ist es nicht mehr als verständlich, dass vielen nichts anderes übrigbleibt als die Flucht in eine illusorische, weil sie in falsche Sicherheit wiegende Kategorisierung in „geimpft, genesen, getestet“, die unser aller gemeinschaftliches Miteinander unverträglich macht?

 

Wagnis Perspektivwechsel

 

Wäre es nicht an der Zeit, solche vorgefertigten Bilder kritisch zu prüfen und – wer weiß – sogar einen radikalen Perspektivwechsel zu wagen, indem wir sie einfach einmal auf den Kopf stellen und sehen, was sie uns „andersherum“ zu sagen hätten? Ein Paradebeispiel eines solchen Bildumkehrverfahrens stellt das Werk des deutschen Malers, Bildhauers und Grafikers Georg Baselitz dar, dessen auf dem Kopf stehende Bilder für Furore gesorgt haben. Im Ausstellungskatalog der Royal Academy of Arts in London von 2007 ist die Rede vom „inverted motive“, also dem umgekehrten oder verkehrten, ja dem umgestülpten Motiv im Bild. Auch hier geraten (mindestens) zwei Perspektiven an- und ineinander, wenn wir nicht kopfstehenden Rezipienten ein auf dem Kopf stehendes Bild betrachten. Könnte es bei einem intensiveren Überdenken unserer Lage sogar so weit kommen, dass wir unerwartet kopfüber stehen – buchstäblich als auch „bildlich“ gesprochen: Das Bild erweist sich allmählich als Gradmesser für die „richtige“ Perspektive und verschiebt somit unsere eigene perspektivische Grundeinstellung, sodass wir überrascht sind, durcheinandergeraten, verwirrt, ja womöglich bestürzt ob der schwindelerregenden Inversion. Freilich liegt ein Unterschied darin, ob der bildende Künstler das Bild einfach nur umdreht, nachdem er es aus der „richtigen“ Perspektive gemalt hat (das käme einer heuchlerischen Wiedergutmachung gleich: Man kann das vorherrschende Bild nicht ohne Weiteres ablegen) – oder ob er im künstlerischen Akt die „falsche“ Perspektive eigens einnimmt, woraus ein genuin invertiertes Bild hervorgeht. Innerbildlich kommuniziert das invertierte Motiv aus der „richtigen“ Perspektive mit uns.

Das eine sind die Bilder, die sich andere von uns machen und mit denen wir uns unfreiwillig und oft auch unterschwellig beschäftigen müssen. Wir passen uns an, erfüllen die uns zugeschriebene Rolle. Oder ganz im Gegenteil: Wir rebellieren und legen ein „das Bild“ Lügen strafendes Verhalten an den Tag. Etwas anderes ist mein Selbstbild, das ich nach außen trage, indem ich mich auf eine gewisse Weise kleide, gehypte Begriffe benutze, ebensolche Autoren lese oder schlicht und einfach mir ein Tattoo stechen lasse, damit die anderen daran „das Bild“ erkennen und sich ihrerseits ein – von mir auf sie projiziertes und wieder auf mich zurückzuwerfendes – Bild von mir machen: Nehmt mich gefälligst so wahr!

Bei dem Versuch, das Bild, das man von sich selbst hat (oder haben möchte), der Welt da draußen zu kommunizieren, entsteht ein verfängliches Wechselverhältnis zwischen der Darstellung des Selbst und der unweigerlichen Verselbstständigung dessen, was ich dargestellt zu haben meine. Wie die anderen mein Tattoo, meine extravagante Brille et cetera auslegen und welches neue Bild sie ihrerseits entwerfen – es liegt nicht in meiner Hand; womöglich annulliert es sogar die ursprünglich damit verbundene Intention. Denn das Ziel ist stets, wie es Valentin Groebner in seinem Buch Bin ich das? Eine kurze Geschichte der Selbstauskunft formuliert hat, die Verschmelzung der „Selbstauskunft mit dem utopischen Selbstbild“. Ist das jedoch nicht eine Form von selbst verschuldeter Einengung, wenn man in geradezu dialektischer Manier das eigene Selbstbild in seine Mitmenschen verpflanzen will, etwa über Social Media, damit man sich von außen mit diesem eigenen Bild des Selbst konfrontiert sieht – als wäre es immer schon das der anderen gewesen, während die „da draußen“ uns womöglich noch einen Strich durch die Rechnung machen, indem sie eben dieses (ihnen fremde) Bild nach ihrem Gutdünken umdeuten?

Laufen wir nicht Gefahr, uns in all diesen Bildern – woher sie auch kommen – zu verlieren? Oder ist das scheinbar Verfängliche an diesen kreisenden Bewegungen zugleich die eigentliche Inspiration: im dauernden Wechsel weitere Bilder zu kreieren, sich von Bildern zu befreien? „Mein Gehirn“, so Groebner, „lässt das, wofür ich mich entschieden habe, sofort in einem besonders positiven Licht erscheinen, und zwar vor allem deshalb, weil ich mich dafür entschieden habe. Diese Selbstgratifikation ist Teil des eigenen psychischen Immunsystems, kognitive Reparatur von Folgeschäden und Verschönerung des eigenen Selbstbilds in einem. Und unerschöpflicher Antrieb für die Selbstauskunft.“ Es sei denn, wir erlauben unseren Bildern von uns selbst, dass sie – ganz im Sinne des Kunstwillens eines Georg Baselitz – kopfstehen wie inzwischen überhaupt unser Bild vom Menschen. Das wäre dann wohl die sicherste Art, dem anderen nur (seiten)verkehrte Bilder von uns zuzumuten, was dabei helfen würde, uns von ihm kein unlauteres Bild zu machen, sondern ihn als einen anderen gelten zu lassen.

Nichts hilft dabei mehr als Kunst und Literatur, die seit Jahrhunderten verschiedenste Charaktere wie auf einer großen Identifikationspalette anbietet. Ein solcher ist Georgs Büchners Erzählfigur Lenz, dem es „manchmal unangenehm“ war, „dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte“. Mit Baselitz’ Menschenbildern vor Augen glauben wir zu wissen, woher dieses Unbehagen in Lenz rührte: aus einem Ungenügen gegenüber der Perspektivlosigkeit konventioneller Betrachtungsweisen – von sich selbst und den anderen.

 

Kaltërina Latifi, geboren 1984 in Pristina (Kosovo), Schweizer Literaturwissenschaftlerin und Essayistin; Research Fellow an der Queen Mary University of London und Habilitandin an der Georg-August-Universität Göttingen mit einer Arbeit zur Ästhetik des literarischen Fragments.

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