Die Geschichte der sozialen Sicherung in Deutschland hat eine lange Tradition und geht bekanntlich auf Reichskanzler Otto von Bismarck zurück.1 In den 1880er-Jahren formte er ein nach heutigen Maßstäben bescheidenes soziales Netz, bestehend aus gesetzlicher Krankenversicherung, Unfallversicherung und gesetzlicher Rentenversicherung.
In den Anfängen der Sozialversicherungen waren sowohl der Umfang der Leistungen als auch der Kreis der Leistungsempfängerinnen und -empfänger gering. So erhielt beispielsweise ein Arbeiter mit einem Jahresverdienst zwischen 550 und 850 Mark jährlich 162 Mark aus der neuen Rentenkasse – sofern er das Alter von siebzig Jahren erreicht hatte und mindestens dreißig Beitragsjahre vorweisen konnte.2
Die Sozialgesetzgebung in Deutschland ist entsprechend den sozioökonomischen und politischen Herausforderungen immer wieder erweitert worden: Inzwischen umfasst das deutsche Sozialbudget 1.178,5 Milliarden Euro.3 Die soziale Sicherung macht damit knapp die Hälfte der Bundesausgaben aus!4 Dabei gehen die Leistungen der sozialen Sicherungsinstrumente allerdings weit über den Rahmen der ursprünglichen Förder- und Fürsorgesysteme hinaus. Vielmehr erhält ein Großteil der privaten Haushalte in Deutschland staatliche Transfers,5 etwa durch Leistungen der gesetzlichen Kranken- oder Rentenversicherung, aber auch in Form von Eltern- oder Kindergeld. Bei sehr niedrigen Einkommen sind die Transfers stark durch Arbeitslosengeld und Arbeitslosengeld II (ALG II) geprägt. Bei etwas höheren Einkommen nehmen Altersrenten eine dominante Rolle ein.
Wer profitiert von den Leistungen der Sozialgesetzgebung in Deutschland? Im Folgenden soll eine deskriptive Analyse der Leistungsempfängerinnen und -empfänger mit Fokus auf die sogenannten Mindestsicherungssysteme gegeben werden, die in der öffentlichen Wahrnehmung eine besondere Rolle spielen. Dazu zählen folgende Hilfeleistungen:
a) Gesamtregelleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II); − Leistungen für erwerbsfähige Leistungsberechtigte, die das
15. Lebensjahr vollendet haben (ALG II);
− Leistungen für nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte (Sozialgeld);
b) Mindestsicherungsleistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII);
− Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen;
− Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung;
c) Regelleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).
Im Jahr 2022 wurden etwa 94,8 Milliarden Euro für die Mindestsicherung aufgewendet.6 Das entspricht 8,1 Prozent des Sozialbudgets – relativ gesehen einem Bruchteil. Der mit Abstand größte Anteil an Mindestsicherungsleistungen entfiel auf die Gesamtregelleistungen ALG II. Abbildung 1 verdeutlicht, dass die Anzahl von Personen in Mindestsicherung seit der Einführung der sogenannten Hartz-IV-Gesetze im Jahr 2005 rückläufig ist: Im Zeitraum von 2006 bis 2021 sank die Mindestsicherungsquote von 9,8 auf 8,0 Prozent.7 Das liegt insbesondere daran, dass die Zahl der Personen im ALG-II-Bezug stark abgenommen hat. Weitere Regelleistungen sind im Zeitverlauf konstant geblieben oder leicht steigend. Auffällig ist zudem ein deutlicher Anstieg der Regelleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) während der „Flüchtlingskrise“.
Quelle: Statistisches Bundesamt, Tabelle B 1.3: Empfängerinnen und Empfänger nach Leistungssystemen, Stuttgart 2023. Eigene Darstellung.
Die umgangssprachlich mit „Hartz IV“ bezeichneten Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende wurden im Dezember 2022 an etwa 5,2 Millionen leistungsberechtigte Personen in 2,7 Millionen Bedarfsgemeinschaften ausgezahlt.8 Dabei gab es rund 3,7 Millionen erwerbsfähige Leistungsberechtigte (SGB II) sowie 1,5 Millionen Bezieherinnen und Bezieher von Sozialgeld. Das sogenannte Sozialgeld erhalten nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte unter den ALG-II-Empfängerinnen und -empfängern. Dies sind in der Regel Kinder in Bedarfsgemeinschaften unter fünfzehn Jahren (97,1 Prozent).
Angaben in Prozent, Quelle: Bundesagentur für Arbeit: Dashboard Grundsicherung, Berichtsmonat November 2023. Eigene Darstellung.
Unter den Regelleistungsberechtigten im SGB-II-Bezug waren nach Angaben der Statistik der Bundesagentur für Arbeit im Dezember 2022 rund 1,6 Millionen Ausländerinnen und Ausländer (42,1 Prozent). Frauen waren etwas häufiger auf entsprechende Leistungen angewiesen als Männer (51,8 Prozent gegenüber 48,2 Prozent). Die Mehrheit der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten war zwischen 25 bis unter 55 Jahre alt (63,0 Prozent). Außerdem variieren die Bezugsquoten regional deutlich (siehe Abbildung 2). Insbesondere in den Stadtstaaten und in den ostdeutschen Bundesländern waren viele Menschen auf Leistungen aus dem SGB II angewiesen.
Auch bei den Bezieherinnen und Beziehern von Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) werden zwei Personengruppen unterschieden: Personen mit „Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“ sowie Empfängerinnen und Empfänger der „Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen“. Im Dezember 2022 erhielten rund 1,3 Millionen Personen Sozialhilfe, davon 1,2 Millionen Menschen „Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“ (90,3 Prozent) und etwa 128.000 Menschen „Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen“ (9,7 Prozent).9
Unter den 1.189.275 Leistungsbezieherinnen und -beziehern der „Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“ waren 49,3 Prozent männliche und 51,7 Prozent weibliche Personen. Geschlechterspezifische Unterschiede bestehen allerdings auf Ebene der Bundesländer. Abbildung 3 zeigt, dass die Bezugsquoten in den ostdeutschen Bundesländern in der Regel geringer sind, insbesondere bei Frauen. Mögliche Ursachen sind unter anderem die höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen in der DDR sowie ein geringeres Mietenniveau als in Westdeutschland.10
Quelle: Statistisches Bundesamt: Quote der Empfänger von Grundsicherung: Bundesländer, Stichtag (bis 31.12.2014), Nationalität, Geschlecht, Altersgruppen; Statistik 22151-0031. Eigene Darstellung.
Etwa ein Viertel der Bezieherinnen und Bezieher von „Grundsicherungen im Alter und bei Erwerbsminderung“ waren Ausländerinnen und Ausländer (23,3 Prozent). Auffällig ist, dass nur etwas mehr als die Hälfte der Personen die Altersgrenze für den Rentenbeginn bereits erreicht hat.11 44,6 Prozent der Leistungsempfängerinnen und -empfänger befinden sich hingegen in einer dauerhaft vollen Erwerbsminderung und stehen dem Arbeitsmarkt somit nicht mehr zur Verfügung.
Unter den Empfängern von „Hilfen zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen“ sind Frauen und Männer etwa gleich häufig vertreten. Etwa ein Drittel (30,4 Prozent) sind Ausländerinnen und Ausländer. Der Großteil der Menschen in dieser Bezugsgruppe ist zwischen achtzehn und 65 Jahre alt. Nur etwa 8.800 Leistungsbezieherinnen und -bezieher von „Hilfen zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen“ sind über 65 Jahre alt (6,9 Prozent).
Asylbewerberinnen und -bewerber in Deutschland erhalten Leistungen gemäß Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), um ihren Lebensunterhalt und spezielle Bedarfe zu sichern. Im Dezember 2022 erhielten nach amtlicher Statistik etwa 539.900 Personen Regelleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.12 Damit hat die Zahl der leistungsbeziehenden Personen seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine zugenommen (34,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr), der Umfang der Leistungen liegt dennoch deutlich unter dem Höchststand in den Jahren 2015 und 2016 (siehe Abbildung 4).
Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistik Empfänger von Regelleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz: Deutschland, Stichtag (bis 31.12.), Geschlecht; Statistik 22221-0001. Eigene Darstellung.
Knapp zwei Drittel der Regelleistungsberechtigten waren laut offiziellen Statistiken männlich (61,0 Prozent). Zudem sind Leistungsempfängerinnen und -empfänger dieser Gruppe im Vergleich zu Bezieherinnen und -beziehern anderer Mindestsicherungsleistungen verhältnismäßig jung: Etwa die Hälfte (47,4 Prozent) ist unter 25 Jahre alt, fast alle Leistungsbeziehenden sind unter fünfzig Jahre alt (91,8 Prozent). Die meisten Bezieherinnen und Bezieher stammten aus Asien (48,5 Prozent), gefolgt von Personen aus Europa (33,2 Prozent) und Afrika (14,9 Prozent). Die 262.055 Personen aus Asien kamen hauptsächlich aus den Krisengebieten Afghanistan, Irak, Iran und Syrien. Weitere wichtige Herkunftsländer sind unter anderem die Russische Föderation, die Türkei und die Ukraine.
Das Sozialbudget Deutschlands und damit die Kosten des Sozialstaats sind seit der Einführung der Hartz-Reformen stark gestiegen. Die monatlichen Zugänge in die Grundsicherung (SGB II) liegen aktuell jedoch so niedrig wie noch nie.13 Der eigentliche Kostentreiber liegt nicht in den sogenannten Mindestsicherungssystemen, sondern vor allem in den durch den demografischen Wandel verursachten Mehrkosten in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung.
Spricht das für ein Ende der Sozialgesetzgebung nach knapp 140 Jahren? Nein, denn der Sozialstaat ist ein elementarer Teil einer funktionierenden Demokratie und der Sozialen Marktwirtschaft. Mit Blick auf die aktuellen Herausforderungen ist es allerdings an der Zeit, notwendige Reformen anzugehen und so den Sozialstaat langfristig zu stabilisieren und zukunftsfest zu machen.
Felicitas Schikora, geboren 1991 in Augsburg, Promotion im Bereich Migrations- und Arbeitsmarktökonomik, Referentin Arbeitsmarkt und Sozialpolitik, Hauptabteilung Analyse und Beratung, Konrad-Adenauer-Stiftung.
1 Deutsche Rentenversicherung: Die Geschichte der Deutschen Rentenversicherung, www.deutsche-rentenversicherung.de/DRV/DE/Ueber-uns-und-Presse/Historie/historie_detailseite.html [letzter Zugriff: 05.03.2024].
2 Ebd.
3 Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Sozialbudget 2022, Stand: Juni 2023, www.bmas.de/DE/Service/Publikationen/Broschueren/a230-23-sozialbudget-2022.html [letzter Zugriff: 05.03.2024].
4 Sozialpolitik-aktuell.de: Ausgabenstruktur des Bundeshaushalts nach Funktionen 2022, Institut für Arbeit und Qualifikation Essen, 2023, www.sozialpolitik-aktuell.de/files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Finanzierung/Datensammlung/PDF-Dateien/abbII13.pdf [letzter Zugriff: 05.03.2024].
5 Niklas Isaak / Philipp Jäger / Robin Jessen: „Die Verteilung der Steuer- und Abgabenlast“, in: Wirtschaftsdienst, 101. Jg., Heft 4/2021, S. 284–289.
6 Bundesministerium für Arbeit und Soziales, a. a. O., siehe En. 3.
7 Statistische Ämter des Bundes und der Länder: Mindestsicherungsquote, Bundesländer nach Geschlecht, Stuttgart 2023, www.statistikportal.de/de/sbe/ergebnisse/mindestsicherung/b-11-mindestsicherungsquote [letzter Zugriff: 05.03.2024].
8 Bundesagentur für Arbeit: Sonderauswertung und Informationen zur Statistik über die Grundsicherung für Arbeitsuchende SGB II, Berichtsmonat: November 2023, https://statistik.arbeitsagentur.de/DE/Navigation/Statistiken/Interaktive-Statistiken/Grundsicherung/Grundsicherung-Nav.html#grusi_tab_anchor_ueberblick [letzter Zu-griff: 05.03.2024].
9 Statistisches Bundesamt: Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, Statistik d. Empfänger v. Hilfe z. Lebensunterhalt, 2024, www.destatis.de/genesis/online?operation=statistic&levelindex=0&levelid=1708003209807&code=22151#abreadcrumb [letzter Zugriff: 05.03.2024].
10 Statistisches Bundesamt: Datenreport 2021. Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, Gesamtausgabe, 10.03.2021, www.destatis.de/DE/Service/Statistik-Campus/Datenreport/Downloads/datenreport-2021.html [letzter Zugriff: 05.03.2024].
11 Für vor dem 1. Januar 1947, geborene Versicherte liegt die Regelaltersgrenze bei der Vollendung des 65. Lebensjahres, bei Versicherten der Geburtsjahrgänge 1947 bis 1963 zwischen 65 und 67 Jahren. Versicherte der Geburtsjahrgänge 1964 und jünger erreichen die Regelaltersgrenze mit Vollendung des 67. Lebensjahres; siehe Deutsche Rentenversicherung (2024): Regelaltersgrenze, www.deutsche-rentenversicherung.de/DRV/DE/Experten/Arbeitgeber-und-Steuerberater/summa-summarum/Lexikon/R/regelaltersgrenze.html [letzter Zugriff: 05.03.2024].
12 Statistisches Bundesamt: Statistik der Empfänger von Asylbewerberleistungen, 2024, www.destatis.de/genesis/online?operation=statistic&levelindex=0&levelid=1707920736817&code=22221#abreadcrumb [letzter Zugriff: 05.03.2024].
13 Enzo Weber: „Jobkiller Bürgergeld?“ in: MAKRONOM, 15.11.2023, https://makronom.de/jobkiller-buergergeld-45313 [letzter Zugriff: 05.03.2024].