Adolf Hitler als „schwacher“ Diktator und die NS-Herrschaft als Polykratie – so lauteten zwei Hauptthesen des britischen Historikers Ian Kershaw in seiner zwischen 1998 und 2000 erschienenen zweibändigen Hitler-Biographie. Selbst wenn er dem Diktator eine Mitverantwortung für die europäischen und globalen Entwicklungen zwischen 1933 und 1945 zuschrieb, gab sich Kershaw als Strukturalist zu erkennen, der die unpersönlichen, strukturell-kollektiven Bedingungen als Erklärung für den Verlauf geschichtlicher Ereignisse und nicht das Handeln einzelner Persönlichkeiten als entscheidend erachtet. Nicht „große“ Männer und Frauen machen Geschichte, sondern die jeweiligen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturbedingungen schaffen den Handlungs- und Entscheidungsrahmen. Die politisch Verantwortlichen agieren entsprechend und sind im Grunde austauschbar, so lautet – überspitzt formuliert – die strukturalistische Grundannahme.
Zwar hat Kershaw sie mit Blick auf seinen „Untersuchungsgegenstand“ Hitler nie in Vehemenz vertreten, dennoch überrascht es, wenn gerade er mit Der Mensch und die Macht eine Sammlung von zwölf biographischen Skizzen europäischer Politiker im 20. Jahrhundert vorlegt. Möglicherweise sieht sich Kershaw durch die jüngste Vergangenheit mit Erfolgen von Populisten wie Donald Trump, Boris Johnson und Jair Bolsonaro dazu veranlasst.
In seinen zwölf als „Fallstudien“ bezeichneten historischen Porträts von Wladimir Iljitsch Lenin bis Helmut Kohl billigt Kershaw seinen Protagonisten durchaus autonome Handlungsfähigkeit zu. Als entscheidendes Kriterium für die Auswahl der zwölf Personen nennt er deren einflussreiche Funktion als Staats- oder Regierungschefs sowie sichtbare und bedeutsame Wirkungen ihres Handelns im positiven oder negativen Sinne, die nicht auf das eigene Land begrenzt geblieben sind. Weshalb sich Kershaw nur auf europäische Entscheidungsträger beschränkt, wird nicht deutlich.
Insgesamt sind die Porträts durchaus informativ, aber leider recht farblos. Nur ansatzweise schafft es Kershaw, die Personen anschaulich zu beschreiben und zu charakterisieren. Zwar wird die Bedeutung der Persönlichkeitsstruktur hervorgehoben, doch versucht Kershaw die Elemente Individualität und Struktur miteinander zu verbinden, also zugleich die Einzigartigkeit als auch die Durchschnittlichkeit der Akteure zu betonen. Hervorstechen dürfen die dargestellten Entscheidungsträger schon – nur nicht zu sehr, sonst würden sie vermutlich nicht mehr in das strukturalistische Konzept passen. Die jeweiligen Zeitumstände werden zu Recht erwähnt; allerdings hat es den Anschein, als wolle der Autor den individuellen Leistungen nicht allzu großen Raum geben.
Die Charakterisierungen Josef Stalins und insbesondere Lenins sind als gelungen hervorzuheben. Da die kommunistische Ideologie und ihr historischer Determinismus auf Strukturen und die Realisierung von Planungen abzielten – dem realen Personenkult gerade um diese beiden Diktatoren zum Trotz –, findet Kershaw hier festen Grund und kommt zu prägnanten Bewertungen wie dieser: „Lenins Brillanz als Revolutionsführer beruhte zu einem großen Teil auf der Kombination von beinhartem ideologischen Radikalismus und taktischer Flexibilität. Er passte seine Botschaft an, ohne die grundlegende Strategie aufzugeben“ (S. 51).
Die Darstellungen zu den Diktatoren scheinen Kershaw insgesamt leichter zu fallen als die der demokratischen Amtsträger. Das zeigt sich etwa am Beispiel Charles de Gaulles, den er nicht richtig zu fassen bekommt. Zu Recht wird etwa die Bedeutung seiner Rhetorik als Teil seines Charismas und später als Teil seiner Herrschaftstechnik erwähnt, aber nicht ausgesprochen, was an seinen Reden so besonders war: die sehr emotionale und direkte Ansprache seiner Zuhörer, die in Krisensituationen bis zu der im Befehlston vorgetragenen Aufforderung gehen konnte, ihm zu helfen.
Kershaw ist darin zuzustimmen, dass de Gaulle auf dem Weg, der zur Entlassung Algeriens in die Unabhängigkeit führte, sehr geschickt agierte. Die französischstämmigen „pieds noir“ – „Schwarzfüße“ –, die ihn mit an die Macht gebracht hatten, haben sich tatsächlich von Beginn an in den Absichten des Generals getäuscht. Es wird jedoch nicht deutlich, warum de Gaulle die Trennung von Algerien und generell vom französischen Kolonialreich „erstaunlich schnell und leidenschaftslos“ (S. 260) akzeptierte, wie der Verfasser feststellt. Das von ihm stets betonte Ziel de Gaulles einer Rückkehr Frankreichs zu früherer „Größe“ und der Aufstieg zur Atommacht Anfang der 1960er-Jahre bieten mögliche Erklärungen. Nicht mehr der Besitz von Kolonien, sondern der von Atomwaffen wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für den Großmachtstatus eines Landes ausschlaggebend, und der General war – bei allem Geschichtsbewusstsein – ein Realpolitiker, kein Nostalgiker.
Adenauer und Kohl
Die rheinisch-katholische Prägung Konrad Adenauers und die Bedeutung seiner Rolle als langjähriger Oberbürgermeister einer deutschen Großstadt werden von Kershaw in gelungener Weise gewürdigt („Köln war die wesentliche Feuerprobe für das, was später kommen sollte“ [S. 275]). Im Zusammenhang mit Adenauers Außenpolitik wird seine entscheidende Rolle bei der Durchsetzung der zeitgenössisch hoch umstrittenen Politik der Westbindung in den 1950er-Jahren als seine bedeutendste Leistung hervorgehoben und seine Standfestigkeit gegenüber den „Verlockungen“ der Stalin-Noten 1952 betont. Sie boten den Westmächten Verhandlungen über eine Wiedervereinigung und Neutralisierung Deutschlands an. Kershaws Kritik kreist um die Frage der Vergangenheitsbewältigung, insbesondere die Integration ehemaliger Nationalsozialisten. Hierin sieht Kershaw „einen dauerhaften Makel auf Adenauers Reputation“ (S. 305). An anderer Stelle würdigt er den Gründungskanzler der Bundesrepublik Deutschland hingegen für dessen Beitrag zur „Festigung der Demokratie“ (S. 295). Beide Aspekte müssen wohl im Zusammenhang betrachtet werden.
Zurückhaltender als bei Adenauer und in Teilen problematisch ist Kershaws Bewertung Helmut Kohls, dessen politischen Erfolg er sich nicht so recht zu erklären vermag. Er stelle unter den untersuchten Persönlichkeiten eine Ausnahme dar, da er nicht in einer Krisensituation ins Amt gelangte und bis zu den Ereignissen der Jahre 1989/90 keine großen Leistungen vorzuweisen gehabt habe. Zu diesem einseitigen Urteil gelangt Kershaw unter anderem, indem er die wirtschaftliche und finanzpolitische Erholung der 1980er-Jahre allein der Weltkonjunktur zuschreibt, den historischen Händedruck mit François Mitterrand in Verdun als „etwas merkwürdig“ (S. 483) bezeichnet und zudem ausführt, Kohl sei „nicht durch Wahlen, sondern durch ein politisches Manöver“ (S. 478) Bundeskanzler geworden – obwohl das Vorgehen dem Grundgesetz entsprach. Etwas freundlicher fällt die Bewertung des „Geschichtsmacher[s]“ Kohl im Vereinigungsprozess aus, wobei Kohls „Zehn-Punkte-Plan“, seine historische Rede vor der Ruine der Dresdner Frauenkirche sowie sein diplomatisches Agieren gegenüber US-Präsident George Bush und dem sowjetischen Staatspräsidenten Michail Gorbatschow hervorgehoben werden. Kershaws Aussage „Im Rückblick scheint die Vereinigung von Anfang an unvermeidlich gewesen zu sein“ (S. 490) ist jedoch nicht nachvollziehbar. Bekanntlich ist die Einheit Deutschlands gegen erhebliche Teile der SPD und der Grünen sowie gegen Widerstände in der internationalen Politik – Zurückhaltung Großbritanniens und Frankreichs sowie der anfangs grundsätzlichen Verweigerung durch die Sowjetunion – durchgesetzt worden.
Antipoden Hitler und Gorbatschow?
Historische Größe lehnt Kershaw als Analysekategorie für Persönlichkeiten als überholt und subjektiv ab, doch wenn es in seiner Darstellung eine Art Helden gibt, so ist dies Michail Gorbatschow, wie das entsprechende Kapitel und die Schlussbetrachtung zeigen. So beendet der Autor sein Werk mit folgender Gegenüberstellung: „Ein größerer Gegensatz sowohl in Bezug auf die Persönlichkeit als auch auf die Machtausübung wie zwischen Hitler und Gorbatschow ist kaum vorstellbar. Doch auf ihre grundverschiedene Weise verkörpern Hitler in der ersten und Gorbatschow in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts am deutlichsten die Bedeutung der individuellen Persönlichkeit bei der Herbeiführung epochaler historischer Veränderungen“ (S. 541). Dem ist gerade aus deutscher Perspektive und zudem mit Blick auf die kriegerischen Ereignisse des Jahres 2022 schwerlich zu widersprechen. Dennoch wirkt die Feststellung bezogen auf Gorbatschow paradox, weil dieser trotz aller Verdienste mit seinen Plänen zur Bewahrung und Reform der Sowjetunion vollständig gescheitert ist.
Kershaws Hinweis auf das Analysekriterium der Akzeptanz von Wahlergebnissen als „der ultimative Test für demokratische Führer“ (S. 534) ist zuzustimmen. Bei den im Buch behandelten demokratischen Persönlichkeiten war das durchgehend der Fall, auch wenn sie sich in der Regel nur schwer von der Macht trennen konnten. De Gaulle hingegen trat, um ein positives Beispiel zu nennen, sogar nach einem verlorenen Referendum über die Reform der Regionalverwaltung und des Senats zurück, weil er die direkte Zurückweisung durch den Souverän als Entzug seines politischen Mandats empfand.
Die in Der Mensch und die Macht versammelten biographischen Skizzen sind sorgfältig recherchiert und ansprechend geschrieben, doch erfährt man wenig Neues. Zudem bleiben die jeweiligen Charaktere ohne die Erwähnung von individuellen Vorlieben, Schwächen oder Verhaltensweisen farblos und erscheinen am Ende doch eher als Objekte der jeweiligen Zeitumstände denn als herausragende, aktiv handelnde „Geschichtsmacher“. Wer diese sucht, wird in der Porträtsammlung Das Gesicht des Jahrhunderts von Hans-Peter Schwarz sowie in den von ihm verfassten Biographien deutlich mehr finden.
PHILIP ROSIN, geboren 1980 in Bonn, promovierter Historiker, Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, Referent Zeitgeschichte, Wissenschaftliche Dienste/ Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Konrad-Adenauer-Stiftung.