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Wie Freiheit möglich wird

Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2023 für Lutz Seiler

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Am 6. April 1981 trat Lutz Seiler vor die Musterungskommission. Was ihm da widerfuhr und wie er seine Freiheit in der Nationalen Volksarmee vom ersten Tag an verteidigte, beschreibt er in der Erzählung „Im Kinobunker“. Sie wurde 2010 erstmalig gedruckt und beschließt den Insel-Band Am Kap des guten Abends (2018), der ins Zentrum von Lutz Seilers Schreiben führt. Er erfand damals die „Legende vom Schlafwandler“, um dem Dienst an der Grenze mit Schießbefehl zu entgehen. Doch er hatte nach eigenen Worten „weder großen Mut noch eine gute Geschichte“. Wohl aber den „kleinen Mut“, ganz genau von Scham, Wut und jenem „unnachgiebigen Stoff der Geduld“ zu erzählen, der sein Schreiben prägt. Seine Romane und Gedichte, die Erzählungen und Essays zeugen von poetischer Sprachkraft. Intensiv durchdringen sie zeitpolitische Zusammenhänge. Seine literarische Aufarbeitung des Übergangs von der DDR zu Bundesrepublik in den beiden Romanen Kruso und Stern 111, die kurz vor und nach dem Mauerfall spielen, ist – so urteilte die Jury zur Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung – überraschend anders, politisch sensibel, literarisch hochinnovativ. Sein Thema sei die narrative Neuordnung der Menschen in einer Zeitenwende. Am 2. Juli 2023 wird Lutz Seiler nun mit diesem Literaturpreis ausgezeichnet.

Lutz Seiler wurde am 8. Juni 1963 in Gera geboren und wuchs in der ostthüringischen Provinz um Ronneburg auf, einen ehemaligen Kurort, dessen Heilquellen ihren Ruhm dem Radium verdankten. Seilers Großvater arbeitete im Uranuntertagebau der Sowjetisch-Deutschen AG Wismut, die spaltbares Material für russische Atombomben aus der Erde förderte. Seilers Vater war ursprünglich Weber, arbeitete später jedoch als Lehrer für Computersprachen. Im Zuge des Uranabbaus wurde Seilers Heimatdorf Culmitzsch im Jahr 1968 geschleift, sprich dem Erdboden gleichgemacht. „Abwesenheit, Müdigkeit und Schwere“ hätten seine Jugend geprägt, bekannte er in seinem Essay Heimaten (2001).

Nach dem Militärdienst war Lutz Seiler als Baufacharbeiter, Zimmermann und Maurer tätig, im Sommer 1989 arbeitete er als Abwäscher auf Hiddensee, von 1991 bis 1994 in einer Berliner Souterrainkneipe in der Oranienburger Straße. Bis Anfang 1990 studierte er Geschichte und Germanistik an der Martin-Luther-Universität in Halle (Saale). Seit 1997 leitet Seiler das literarische Programm im Peter-Huchel-Haus in Wilhelmshorst bei Potsdam: Das Haus hatte der Dichter dort 1954 mit Grundstück und Garten erworben, im Schuppen brachte er Teile des Archivs der von ihm begründeten Zeitschrift Sinn und Form unter. 1996 übertrug Huchels Witwe per Schenkung das Haus der Peter-Huchel-Gedenkstätte, die am 3. Oktober 1997 eröffnet wurde.

 

Von der Lyrik zum Roman

 

Peter Huchel inspirierte Seiler zu seinem ersten Gedicht. Als Fahrer eines Fünftonners, der eine Panzerpontonbrücken-Attrappe transportierte, die im Druck der Flussströmung rasch zusammenbrach, las er eine Gedichtausgabe von Huchel und erkannte darin die Bildwelt von Nachkrieg, Flucht und Vertreibung. Die Aufmerksamkeit der Lyrikszene war Seiler mit dem Debütband berührt/geführt (1995) und durch die von ihm mitherausgegebene Literaturzeitschrift moosbrand (1994–1999) sicher. Mit seiner zweiten Gedichtsammlung pech & blende (2000) gelang ihm der Durchbruch. Der Titel ist ein Schreibprogramm: Der Dichter spaltet ein Element – die „Pechblende“, das Mineral, aus dem 1789 das zunächst für Schwarzpulver gehaltene Uran isoliert wurde – und rüstet es poetisch auf für die „ganze politische Welt […] von Uran, Pechblende, Isotop 235“ (wie es in Gottfried Benns Berliner Novelle Der Ptolemäer [1947] heißt).

Seilers Buch verdichtet Bilder und Szenen aus der ehemaligen DDR, ganz ohne Ostalgie. Dem „Euphoriebefall“ der Wendezeit setzte Seiler eine prägnante Beschreibung einer Zeitenwende entgegen. Das brachte ihm zahlreiche Preise ein; unter anderem den Kranichsteiner Literaturpreis (1999), den Dresdner Lyrikpreis (2000), den Lyrikpreis Meran (2000), den Ernst-Meister-Preis (2003), den Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen (2004), zuletzt den Fontane-Preis (2010), den Uwe-Johnson-Preis (2014), den Marie-Luise-Kaschnitz-Literaturpreis (2015), den Thüringer Literaturpreis (2017), den Preis der Leipziger Buchmesse und den Kakehashi-Literaturpreis (beide 2020).

Gründliche Sprachreflexion, „Heimat als Gangart“ und Gespür für zeitgeschichtliche Ablagerungen finden sich auch in den folgenden Lyrikbänden vierzig kilometer nacht (2003), felderlatein (2010) und schrift für blinde riesen (2021). Die konsequente Kleinschreibung in der Lyrik zeugt vom Respekt des Dichters vor den kleinen Dingen, seine Aufmerksamkeit gilt dem Ton der erlebten Geschichte, von dem das Gedicht ‚erzählt‘.

Ab 2003 wandte sich Seiler der Prosa zu. 2007 erhielt er für Turksib den mit 25.000 Euro dotierten Hauptpreis des Ingeborg-Bachmann-Preises und darüber hinaus Beifall der Presse. Die 2008 publizierte Erzählung schildert die skurrile Begegnung eines russischen Heizers mit einem ostdeutschen Schriftsteller auf einer Bahnreise in die radioaktiv verseuchte kasachische Ebene. Der Rheinische Merkur (5. Juli 2007) attestierte Seilers Prosa „einen stilistisch eindringlichen leisen Ton“, die Süddeutsche Zeitung (3. Juli 2007) fand darin den „Ton seiner Lyrik“ wieder. Ebenso einmütig feierte die Kritik den Band Die Zeitwaage (2009), der vierzehn Erzählungen über Seilers Kindheit in Thüringen enthält. Einem großen Publikum bekannt wurde Seiler durch seine Romane Kruso (2014) und Stern 111 (2020). Kruso wurde mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, für die Bühne (2015) und für den Film (2018) adaptiert und in 25 Sprachen übersetzt; Stern 111 stand im April 2020 auf der SWR-Bestenliste und auf der Spiegel-Bestsellerliste. Kruso ist nach einem gescheiterten Romanversuch in der Villa Massimo in Rom entstanden; es ist kein Abenteuer- und kein Wenderoman; vielmehr wird eine Geschichte vom Weg zur Freiheit erzählt. Es ist die in der Wendezeit 1989/90 verankerte Robinsonade von einem Abwäscher auf Hiddensee, der sein „Land verlassen hat, ohne die Grenze zu überschreiten“, und in der Tafelrunde einer Inselkneipe nach seinem Ort zwischen Utopie und Melancholie, zwischen Stasi und Subversion sucht.

 

Homerische Verbindung

 

Die Kritik hat den Roman als Vorbild für eine andere literarische Zeitgeschichtsschreibung gewürdigt, ebenso wie den Folgeroman Stern 111, der seinen Titel dem gleichnamigen Transistorradio verdankt, das Seilers Vater 1964 für damals 380 Mark erwarb und an den Sohn weitergab. Dieses Medium trägt nicht nur den Ton der dieses Mal nach der Wende spielenden Geschichte der globetrottenden Eltern und ihres berlinfixierten Sohns, des „Erbverweigerers“ Carl, sondern auch den Ton des Erzählens, das mit Uwe Johnson und Wolfgang Hilbig verglichen wurde.

Damit erneuert Lutz Seiler die homerische Verbindung zwischen dem Epischen und der Lyrik. „Der Hallraum eines Gedichts sollte nicht kleiner sein als der eines Romans. Jedes gute Gedicht könnte so der metaphorische, rhythmische oder gestische Kern eines Romans sein. Der narrative Gestus schafft die Verbindung zum Ursprung des Genres, zum Epos und seinen Sängern“, schreibt er in Sonntags dachte ich an Gott, der den gleichnamigen Essayband beschließt (2004). Der Titel ist sprechend genug. Er referiert auf einen Gott, der entrückt, kleingeredet, aber im Denken an ihn da ist, im „Gebet in Ruinen“ (Ralf Rothmann), beim Anblick von Unglück und als Bedenken des Ernstfalls: „ohne fenster dort am grund / im dunkel an der strasse hinter / einer tür aus stahl // sass der liebe gott; er war / unendlich klein & lachte / oder schlief“.

 

 

Michael Braun, geboren 1964 in Simmerath, Literaturreferent der Konrad-Adenauer-Stiftung und außerplanmäßiger Professor für Neuere Deutsche Literatur und ihre Didaktik, Universität zu Köln.

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