Es ist kaum möglich, der Gegenwart die Vorherrschaft eines Menschenbildes zu attestieren. Geradezu eklektisch beanspruchen religiös, wissenschaftlich und politisch induzierte Menschenbilder Geltung in unserer Gesellschaft. Dabei ist zu berücksichtigen, dass wir uns in einer globalisierten Welt zunehmend als eine Insel neben vielen anderen in einem Ozean unterschiedlicher Lebens- und Denkformen erleben. Auf den Relikten unserer kulturellen Traditionen, die verkürzt als „jüdisch-christliches Abendland“ bezeichnet werden, und angesichts des Mitwirkens vieler Menschen mit unterschiedlichen Herkunftsgeschichten an neuen Referenzrahmen gesellschaftlichen Handelns bilden sich Mischformen von Menschenbildern. Diese Entwicklung bietet viele Chancen, neue Gemeinsamkeiten zu bilden, aber auch Risiken einer erheblichen Unübersichtlichkeit. Ob wir eher Chancen oder Risiken sehen, scheint auch mit unseren Herkunfts- und Bildungsgeschichten zu tun zu haben. Wer sich aktiv mit seinen eigenen Denkgewohnheiten auseinandersetzt und diese im Widerstreit mit anderen Weltansichten begreift, kann die Pluralisierung der Weltbilder annehmen.
Vor diesem Hintergrund lässt sich mit einigen Vorbehalten sagen, dass in unserer Gesellschaft aktuell ein materialistisches Menschenbild vorherrscht. Im Zentrum steht der Wunsch nach einer Optimierung des menschlichen Lebens an seinem Anfang, in seiner Mitte und an seinem Ende. Zielvorstellung ist ein Höchstmaß an Kontrolle, also eine Ausschaltung der Risiken, die von der Naturseite des Menschen, der „ersten Natur“, herrühren: Der Zufall genetischer Herkunft soll durch eine gezielte Auswahl des Genmaterials ausgeschaltet, das Risiko von Erkrankung durch ebendiese Vorauswahl und gezielte Diagnose gemindert, der Prozess der Alterung gestoppt und selbst der unvorhersehbare Tod, die größte Kränkung aus Sicht des modernen Menschen, soll beherrschbar werden. Kultur als „zweite Natur“ des Menschen soll die Risiken und Kontingenzen der ersten Natur zumindest minimieren, wenn nicht gar aufheben.
Desinteresse am Rätsel des Menschseins
Dieses von vorrangig materialistischen Vorstellungen geprägte Menschenbild steht in einem offensichtlichen Konflikt mit traditionellen, religiös gefärbten Konzeptionen. Die in unseren Mythen und Erzählungen verankerten Bilderpaare „Gott – Mensch“ (Religion) und „Tier – Mensch“ (Mythos) werden in einer sich säkular verstehenden Gesellschaft durch das „Mensch-Maschine“-Bild ersetzt. Diese Verschiebung hat eine eigene Vorgeschichte – schon das 18. Jahrhundert hat unter dem Stichwort „l’homme machine“ die Materialität des Menschseins diskutiert – aufzuweisen, vor deren Hintergrund sich im Zeitalter der angestrebten technischen Konstruierbarkeit des Lebens eine neue Dimension in der biologisch-technischen Welt eröffnet.
In den letzten Jahrzehnten ist die Diskussion in drei Phasen abgelaufen: In einer ersten Phase wird versucht, in der Forschung zur „Künstlichen Intelligenz“ die Bedingungen zu beschreiben, unter denen mit Intelligenz ausgestattete Maschinen der menschlichen Intelligenz gleichwertig und möglicherweise überlegen sind. Unübersehbar ist die enorme Leistungsfähigkeit von Computern als Mitwirkenden im sozialen Leben, mit denen Menschen kaum mehr konkurrieren können. Weiterhin wird in einer Phase der neurowissenschaftlichen Forschung der Sonderstatus menschlichen Bewusstseins untersucht und nach der Natur des Geistes geforscht. Ziel dieser Forschung ist es, die natürlichen Grundlagen kognitiver Prozesse freizulegen und eine Antwort auf die Frage „Was ist Bewusstsein?“ zu liefern.
Erst in einer dritten Phase wird der Versuch unternommen, die Ergebnisse dieser Forschungen zur Anwendung zu bringen. Zum einen geht es darum, an der Schnittstelle von Mensch und Maschine eine Optimierung des menschlichen Lebens herbeizuführen. Die Rede ist von Human Enhancement als einer Entgrenzung des natürlichen menschlichen Körpers durch genetische Modifikation (gene therapy), technologische Aufrüstung (Herzschrittmacher, Hirnschrittmacher beim Morbus Parkinson und so weiter), plastische Chirurgie (ästhetisch oder rekonstruktiv) und Anwendung von Psychopharmaka (etwa Ritalin). Zum anderen wird angestrebt, die Erkenntnisse aus der Evolution von Organismen auf die Konstruktion künstlicher Systeme zu übertragen. Ziel ist es zum Beispiel, Systeme künstlicher Intelligenz so auszustatten, dass sie entwicklungsfähig sind und sich in komplexen Entscheidungssituationen zurechtfinden (autonomes Fahren – bewegende Technologie). Dazugehört Intentionalität- und -entwicklungsfähige Emotionalität– mithin all das, was menschliche Lebendigkeit ausmacht und menschliche Intelligenz von einem bloßen Rechenkalkül unterscheidet.
Die Frage aller Fragen
Die technologische Forschung lebt von den überlieferten Träumen der Menschheit und arbeitet an ihrer Realisierung. In einer entwicklungsoffenen Zukunft könnte an der Schnittstelle von natürlicher Künstlichkeit technologisch optimierter menschlicher Organismen und künstlicher Natürlichkeit organisch-technologischer Systeme aus der Analogie von Mensch und Maschine eine Gleichung werden. An diesem Fernziel angekommen, könnte der Mensch, das zumindest ist heute schon absehbar, nicht mehr zwischen sich als Schöpfer und als Geschöpf seiner eigenen Vorstellungen unterscheiden. Aber auch in dieser vollkommenen Matrix eines Menschenbildes am Leitfaden der technologischen Forschung wird zwar das Rätsel Mensch nicht gelöst sein, aber die Einebnung der Differenz zwischen erster und zweiter Natur könnte dazu führen, dass uns das Rätsel uninteressant erscheint. Statt einer Beantwortung der Frage nach dem Rätsel des Menschseins könnte ein Vergessen der Fragestellung selbst um sich greifen.
Wenn diese Überlegungen einen zentralen Punkt treffen, dann hat das erhebliche Konsequenzen für unser Menschenbild. Mir scheint es aus den genannten Gründen ratsam zu sein, die Frage in Konstellationen zu rücken, in denen es weder um eine Einheit des Menschenbildes noch um die Hoffnung auf ihre letztgültige Beantwortbarkeit geht. Es wäre wünschenswert, dass wir die Frage „Was ist der Mensch?“ weiterhin als die Frage aller Fragen behandeln, die wir im Wandel der Bilder, die wir uns von uns selbst machen, immer wieder von Neuem stellen. Der Philosoph Hans Blumenberg hat einmal gesagt, dass wir primär nicht Hoffnungen auf die Beantwortung dieser Frage setzen sollten, sondern dass wir uns bei der Reflexion auf unsere Menschenbilder immer wieder fragen sollten, welche Erfahrungserwartungen in der Fragestellung selbst schon transportiert wurden und aktuell werden. Diese Überlegung ist meiner Ansicht nach bemerkenswert, weil sie eine Brücke über die Epochen der Geistesgeschichte bildet und zwei Aspekte anspricht, die auch gegenwärtig konstitutiv sind: Das ist einerseits die dringliche Auseinandersetzung mit der Tradition (Was wollten wir wissen?) und das ist andererseits die ebenso dringliche Öffnung auf eine unbestimmte Zukunft hin (Was könnten wir erfahren?).
Neuerdings regt sich allerdings mit großem Nachdruck eine Skepsis gegenüber den Machbarkeitsphantasien, die das materialistische Menschenbild (vor seinem idealistischen Hintergrund der Autonomie und Selbstwirksamkeit) prägen, die sich in einer Rückkehr einer humanistischen Option artikuliert. Von der jüngeren Generation wird Einspruch erhoben und ein anderer Weg in die Zukunft der Menschheit eingefordert. Die Protestbewegung Fridays for Future kann stellvertretend dafür genannt werden. Es geht um die Frage, ob der Weg von der ersten zur zweiten Natur – und die Utopie von deren vollständiger Abkoppelung von der ersten Natur aufgrund technologischer Optimierung des Menschseins – doch nur eine Illusion ist, weil unsere unaufhebbare Abhängigkeit von einer ersten Natur geleugnet wird. Zwei Risse im materialistisch-technologischen Menschenbild werden genannt (ich folge hier den Thesen von Dipesh Chakrabarty zum Thema „Climate of History“, 2009): zum einen eine Dialektik der Aufklärung, die einen Hinweis darauf gibt, dass die kapitalistische Produktionsweise und eine auf Konsum ausgerichtete Lebensform die Grundlagen unseres zukünftigen Lebens untergraben. Zum anderen die Hinweise darauf, dass die Eingriffe des Menschen in die erste Natur über den Bereich der Kompensation von Risiken hinausgehen und die zweite Natur die erste Natur zerstören wird. Seit einigen Jahrzehnten hat sich hierfür der Begriff „Anthropozän“ etabliert.
Menschheit im Horizont der Veränderungen
Im Ergebnis könnten diese Überlegungen den Gedanken der Befristung menschlichen Lebens – jetzt aber nicht in einem schöpfungs- und heilsgeschichtlichen Kontext des Christentums, sondern in einem säkularen Verständnis – erneut hervortreten lassen. Der apokalyptische Grundton in den Debatten zum Anthropozän ist allerdings eine Erbschaft ebendieser Tradition. Mit der anthropogenen Erklärung des Klimawandels schrumpft die Differenz von Natur und Kultur – aber jetzt nicht mehr im Sinne einer kompensatorischen Aufhebung, sondern im Sinne eines katastrophischen Szenarios.
Wenn im Anthropozän die Menschheit als eine Kraft vorgestellt wird, die in die geologische Struktur unseres Planeten auf irreversible Weise eingreift, dann bedeutet das eine enorme Herausforderung für einen neuen Humanismus, denn das Verhältnis von Naturgeschichte (Geologie und Biologie: Geschichte von Spezies) und Kulturgeschichte (Politik und Ökonomie: Geschichte der Transformation der ersten Natur in zweite Natur: Alles wird Ware) muss neu gedacht werden.
Im Zentrum der Debatten steht ein Paradox: Zwar ist der Klimawandel von Menschen verursacht; das Thema hat aber (noch) keine historische Bedeutung, das heißt, er ist noch nicht Teil einer neu zu schreibenden Geschichte der Menschheit geworden. Solange der Klimawandel nicht Teil unserer Lebensgeschichte als einer Spezies auf diesem Planeten sein wird, so lautet eine überzeugende These, wird das Nachdenken über das Anthropozän auch nicht erkenntnisleitend sein. Ein grundlegendes Problem ist dabei, dass wir den Versuch unternehmen müssen, über Zusammenhänge nachzudenken, die nicht – oder nicht widerspruchsfrei – Gegenstand unserer Erfahrung sind. Sicherlich ist dies auch der Grund dafür, dass in Wetterberichten fast jeder Wetterumschwung als Symptom für den Klimawandel verrechnet wird, um bei den Akteuren eine Erfahrung zu implementieren. Gleiches gilt für die Moralisierung des Konsumentenverhaltens. Kaum eine Frage ist heute politischer als die nach unseren Ernährungspraktiken und dem sogenannten „ökologischen Fußabdruck“. Es ist über diese Aspekte der Individualisierung des Umgangs mit den Folgen des Klimawandels hinausgehend eine ernst zu nehmende, weil auch nur kollektiv zu bearbeitende Herausforderung, die Erzählung von der Geschichte der Menschheit in den Horizont der Veränderungen unseres Planeten und seines Klimas einzuschreiben.
Nicht mehr oder nicht weniger ist gefordert, wenn unsere Rede vom Anthropozän, das heißt von der Verantwortlichkeit des Menschen in der Stabilisierung seiner Kultur als zweiter Natur für die erste Natur, den Planeten mit seiner Artenvielfalt und seinen Ökosystemen, Sinn ergeben soll. In diesem Zusammenhang werden wir auch ein neues Menschenbild benötigen. Eine erkenntnisleitende Fragestellung könnte sein, statt vorschneller Moralisierung der Debatten den Blick auf eine widersprüchliche Situation zu lenken: Zwar sollten wir uns als Verursacher des Klimawandels begreifen, unser intentional gerichtetes Handeln war jedoch auf ein sicheres und gutes Leben ausgerichtet – und zu keinem Zeitpunkt auf die Zerstörung der ersten Natur selbst. Ein neues Menschenbild sollte das Streben nach einem guten Leben mit der Einsicht, dass wir neue Wege der Befriedigung unserer Bedürfnisse, neue Weisen der Produktion und Konsumtion finden müssen, zusammenbringen. Noch haben wir hierfür keine passende Erzählung und auch kein Bild von uns als Menschen in dieser verantwortlichen Rolle.
Gerald Hartung, Professor für Philosophie und Leiter des Instituts für Grundlagenforschung zur Philosophiegeschichte (IGP), Bergische Universität Wuppertal. Von Oktober 2021 bis Februar 2022 Senior Fellow, „Maimonides Centre for Advanced Studies“, Universität Hamburg.