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Zum Problem der Vereinnahmung in öffentlicher Kommunikation

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Am 18. März 2020 wandte sich Angela Merkel zum ersten Mal in ihrer Kanzlerschaft jenseits des Silvesterabends in einer Fernsehansprache an die Bevölkerung. Gegen Ende dieser eindrucksvollen Rede sagte sie: „Es kommt ohne Ausnahme auf jeden Einzelnen und damit auf uns alle an.“

Dieser Beitrag entstand kurz danach inmitten der Coronakrise – einer Zeit, in der deutlich wird, wie unterschiedlich ein Wir im öffentlichen Raum gebraucht werden kann: als Versuch, die Gesellschaft der vielen Individuen mit ihren partikularen Interessen zu einer Gemeinschaft der verantwortungsvoll und solidarisch Handelnden zu formen wie bei Angela Merkel – oder als Versuch, die „Wir-gegen-die-anderen-Rhetorik“ aufrechtzuerhalten, wie etwa bei Donald Trump, der von einem „ausländischen Virus“ („foreign virus“) spricht und „die anderen“ für dessen Verbreitung verantwortlich macht. Die Coronakrise markiert eine in jeder Hinsicht herausfordernde Situation – auch, um über das Wir in der öffentlichen Rede nachzudenken, das unverzichtbar ist und zugleich hoch problematisch, weil es gegen seine Intention auf paradoxe Weise das Gegenteil des Intendierten erreichen kann. Jede Gesellschaft lebt davon, Wir sagen zu können. Und selbstverständlich leben auch Kirchen von einem Wir, weswegen uns die erste Person

Plural in vielen Predigten und geistlichen Worten begegnet. Predigende sind häufige „Wir-Sager“, und das „Wir alle …“ gehört zum typischen Predigtsound, zum kirchlichen Soziolekt, zur Konvention der Kanzelrede – wie es Otto Waalkes in seinem Klassiker „Wort zum Montag“, entstanden vor mehr als vierzig Jahren, bis heute gültig zeigt.1 „Kirchensprech“ sagen manche dazu; es klinge „churchy“, sagen andere. Die Intention aber ist klar: Es soll Nähe hergestellt, eine Gemeinschaft der Hörenden mit dem Redner konstituiert, durch die Einbeziehung in die erste Person Plural Wertschätzung, Empathie und das Gefühl vermittelt werden, gemeinsam auf der richtigen Seite zu stehen.

 

Paradoxie der Kommunikation

 

Doch diese rhetorische Strategie kann nach hinten losgehen. Sobald jemand behauptet, wir alle würden etwas wissen oder kennen, würden uns moralisch an einer bestimmten Maxime ausrichten oder auf ein gemeinsames Ziel zugehen, werden viele Hörende skeptisch und gehen auf Distanz. Ausgelöst wird dann nicht eine Identifikation mit dem Gesagten, sondern vielmehr eine Reflexionsschleife zur inneren Klärung der Frage, ob es denn stimmt, was da gerade von mir behauptet wird. Wenn die Antwort „Nein“ lautet, bringt das Wir alle statt intendierter Nähe maximale Distanzierung hervor. Als besonders anfällig für eine paradox gegenteilige Wirkung erweist sich das Wir dann, wenn mit ihm eine bestimmte moralische Position verbunden und den Hörenden auf (subtile, aber durchschaubare) Weise nahegelegt wird. „Wir müssen ein Herz haben für …“, „Wir dürfen Schritte tun, um …“ – solche Sätze sind faktisch Imperative, die sich aber in der ersten Person Plural verstecken, anstatt in der zweiten Person Plural direkt adressiert zu werden. Die erste Person Plural wird im schlimmsten Fall als mehr oder weniger plumpe Überwältigungsrhetorik entlarvt. Der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke schreibt: „Nicht nur Exklusion, auch Inklusion ist eine potentiell gewalttätige Operation; sie unterdrückt innere Differenzen und erzwingt die Ausrichtung an gemeinsamen Normen.“2 Das Wir erweist sich rhetorisch vielfach als hochgradig dysfunktional, weil es das Gegenteil des Intendierten hervorbringt.

Gleichzeitig ergibt sich aus dem Wir (alle) nicht selten implizit oder explizit eine Rhetorik der Abgrenzung gegenüber anderen. In Predigten kann die Wir alle-Rhetorik auch dazu dienen, die „Menschen da draußen“ als die darzustellen, die nicht so leben wie wir und anderen Idealen nachfolgen – wodurch teilweise hoch stereotype Klischees der „Menschen von heute“ oder der „modernen Menschen“ in Umlauf gebracht werden.

Die gesuchte Integration in ein Wir kann zur Exklusion und Desintegration führen. Das Problem betrifft nicht nur Kirchen, sondern auch die Sprache der Politik. Die noch existierende Volkskirche wird durch ein Wir beschworen, wie gleichzeitig politisch die „Mitte“ von den noch immer so genannten Volksparteien reklamiert wird. Das Wir ist hier wie dort ein potenziell dysfunktionaler Teil rhetorisch-sozialer Identitätspolitik.

Warnungen vor dem Wir gibt es schon lange. In seinem Gedicht „Einzahl“ von 1964 warnt Erich Fried sogar vor jeder Mehrzahl:3

 

Deine Rede sei / ICH DU ER SIE ES / was darüber ist / das ist vom Übel // Wir sind die Wirrnis / Ihr seid der Irrtum / Sie sind / die Sintflut

 

Fried plädiert für ein radikales Ernstnehmen des Singulars, des Einzelnen und Individuellen – gegen jede kollektive Vereinnahmung. Das ist verständlich. Aber ohne Wir geht es gesellschaftlich eben auch nicht. 1887 erarbeitete der Soziologe Ferdinand Tönnies die Unterscheidung von „Gemeinschaft und Gesellschaft“.4 Unter Gemeinschaft versteht er eine kollektive Gruppierung, die von einem gemeinsamen Willen und der Orientierung des Handelns Einzelner an einem übergeordneten Zweck getragen ist. Exemplarisch wäre eine Kirche beziehungsweise eine Partei zu nennen. In der Gesellschaft hingegen sei diese Gemeinsamkeit nicht gegeben, und der Einzelne brauche die anderen als Mittel zu einem übergeordneten Zweck.

Gegenwärtig ist selbst in Gemeinschaften das Wir fraglich und problematisch geworden. Großinstitutionen tun sich zunehmend schwer, das Verbindende auch verbindlich zum Ausdruck zu bringen. Erst recht gilt das für Gesellschaften, die aber gleichzeitig nicht darauf verzichten können, wenigstens den übergeordneten Zweck ihres Miteinanders sprachlich zu artikulieren. Das Wir erweist sich als ebenso nötig und unumgänglich wie problematisch. Es ist eine Gratwanderung, auf der immer wieder Abstürze drohen: auf die Seite des radikalen Wir-Verlustes und der Pluralität, womit jede Gemeinschaft und Gesellschaft unmöglich würden; oder auf die Seite der Behauptung und Beschwörung eines Wir, die zur Ablehnung und Distanzierung führen und massiv verärgern kann.

 

Desintegriert Euch !?

 

Das zeigt das 2018 erschienene, hoch emotionale Buch Desintegriert euch! des Politikwissenschaftlers und Lyrikers Max Czollek.5 Es spiegelt den Ärger eines jüdischen Deutschen angesichts des beschworenen und vielfältig inszenierten Wir. Das „Integrationsparadigma“ bezeichnet Czollek als „Konstruktion eines kulturellen und politischen Zentrums, das sich implizit oder ausdrücklich als deutsch versteht“ (S. 15) und dabei durch unterschiedliche, jeweils scheiternde Konstrukte (wie „Leitkultur“, „christlich-jüdisches Abendland“ et cetera) definieren muss, was dieses Deutsch-Sein eigentlich ausmache. Jedes Wir, das andere integrieren möchte, stabilisiere letztlich einen Unterschied zu den anderen. Daher bleibe nur die Dekonstruktion des Wir als gesellschaftlich heilsamer Akt. Czollek vertritt so – mit einem hohen moralischen Anspruch – ein Modell radikaler Pluralität, womit er freilich paradoxerweise die Kriterien der Identitätspolitik erfüllt, die er den „anderen“ vorwirft.

Geht es auch anders? Ist Sprache in der Lage, ein Wir nicht in einer Form zu behaupten, die dazu führt, dass sich Menschen distanzieren, sondern vielleicht sogar ein solches, solidarisch empfundenes Wir hervorzubringen? In seiner Vorlesungsreihe „How to do things with words“6 zeigte John Austin in den frühen 1960er-Jahren, wie Sprache Wirklichkeit schafft. Und auch das gibt es: Ein Wir in der Rede muss nicht als Vereinnahmung gehört, sondern kann durch Sprache geschaffen werden.

Die Fernsehansprache von Angela Merkel auf dem Höhepunkt (oder am Beginn?) der Coronakrise Mitte März 2020 ist ein herausragendes Beispiel dafür. Das Ziel war es, an die Verantwortung von uns allen zu appellieren und so eine handlungsfähige und solidarische Gesellschaft hervorzubringen. In der Ansprache begegnet die erste Person Plural insgesamt 85-mal, fünfmal als „wir alle“. Aber siebzehnmal sagt die Kanzlerin auch „ich“, siebenmal „mich“. Immer wieder adressiert Angela Merkel auch die Zuhörerinnen und Zuhörer direkt in der zweiten Person Plural. Die Kommunikationssituation ist klar: „[…] ich möchte Ihnen […] vermitteln, warum es Sie […] braucht […]“. Die Kanzlerin legt ihre Zielsetzung offen, scheut nicht vor direkten Appellen zurück: „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst.“ Sie bringt sich mit ihrer eigenen Erfahrung ein: „Für jemanden wie mich […]“. Und artikuliert ihre eigene Gewissheit: „Dass wir diese Krise überwinden, dessen bin ich vollkommen sicher.“ Auf diese Weise gelingt es, das Wir in eine klare Konstellation einzubinden, die sie selbst als Rednerin und die Angesprochenen ins Verhältnis setzt und Solidarisierung im Wir ermöglicht.

 

Alternativen zum „Wir“

 

So wie am 18. März 2020 kann es gehen. Aber es lassen sich auch Alternativen zum Wir finden.

Erstens: In der Homiletik gab es im 20. Jahrhundert eine intensive Diskussion, ob man auf der Kanzel Ich sagen dürfe. Es gehe doch in der Predigt schließlich nicht um das Ich des Predigers, sondern um „die Botschaft“ – so meinte man in einer Phase der evangelischen Predigtlehre, die von den 1920er-Jahren bis in die 1960er-Jahre andauerte. Erst danach wurde die Chance und Notwendigkeit des Ich in der Kanzelrhetorik neu entdeckt und gewürdigt. Es ist auch hier paradox, aber gerade die erste Person Singular eröffnet weit unproblematischer die Chance zur Identifikation, als es die erste Person Plural tut. Als Zuhörender kann ich in Freiheit überlegen, ob es mir auch so geht oder ganz anders. Es ist ein Zeichen der Wertschätzung der Zuhörenden, ein authentisches Ich anzubieten, mit dem sich die Auseinandersetzung lohnt.

Der große Lehrer der Predigt Friedrich Niebergall schilderte in einem eigenen Paragraphen seiner Predigtlehre anschaulich die ermüdende Konventionalität der Kanzelrede und fasste das Problem dann in dem Satz zusammen: „Es predigt.“7 Da war kein Ich mehr, das individuell und angreifbar etwas gesagt hätte. Da war nur noch Kanzelmonotonie.

Zweitens: Eine weitere Möglichkeit, Gemeinschaft in der Rede und durch die Rede zu schaffen, liegt im Erzählen von Geschichten. Das klingt banaler, als es gemeint ist. Menschen leben in Geschichten; Identität wird narrativ konstruiert, und unsere Welt ist immer narrativ strukturiert. Wenn es eine Gemeinschaft gibt, für die ein Wir sinnvoll verwendet werden kann, dann muss es Geschichten geben, die dieses Wir miteinander verbinden. Das gilt für Familien genauso wie für Freundeskreise, aber auch für Kirchen oder Parteien. Es ist der Verlust dieser Erzählungen, der die Institutionenkrise der Gegenwart begründet und jenen an den Rändern Auftrieb gibt, die alte Geschichten neu aufwärmen: die neue Rechte mit ihrem völkisch-nationalen Narrativ oder fundamentalistische religiöse Gruppierungen. Die Schwäche der „Mitte“, der Volkskirchen und Volksparteien könnte in ihrer Unfähigkeit liegen, Geschichten zu erzählen, die Menschen verbinden und motivieren. Wer mag, kann vom Gleichniserzähler Jesus lernen. Er fordert Zuhörende heraus, mit ihm auf Bilder oder Geschehnisse zu blicken. Viele dieser Geschichten wurden kulturelles Erbe der westlichen Welt: der barmherzige Samariter, der verlorene Sohn. Durch Geschichten wird es möglich, dass sich Zuhörende in Freiheit identifizieren, ihren eigenen Ort in der Erzählung finden, über Nähe und Distanz selbst entscheiden. Gerade durch den Verzicht auf ein Wir kann ein Wir geschaffen werden.

Es kann sein, dass die Zeit der Krise ein Wir auf neue Weise möglich macht – als ernst gemeinten und tief empfundenen Ausdruck der Gemeinschaft von Menschen, die solidarisch eine gemeinsame Herausforderung meistern. „Yes, we can …“ – so ähnlich sagte das auch Angela Merkel am 18. März 2020: „Wir sind nicht verdammt, die Ausbreitung des Virus passiv hinzunehmen.“ Das „wirksamste Mittel gegen die zu schnelle Ausbreitung des Virus […] sind wir selbst.“

 

Alexander Deeg, geboren 1972 in Rehau (Oberfranken), Professor für Praktische Theologie, Theologische Fakultät der Universität Leipzig.

 

1  Vgl. Jan Feddersen / Philipp Gessler: Phrase unser. Die blutleere Sprache der Kirche, München 2020, S. 18.

2  Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, 4. Aufl., Frankfurt am Main 2017, S. 98.

3  Erich Fried: Gesammelte Werke, Bd. 1: Gedichte, hrsg. von Volker Kaukoreit und Klaus Wagenbach, Berlin 1993, S. 336.

4   Vgl. Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, hrsg. von Arno Bammé, München/Wien 2017.

5   Max Czollek: Desintegriert euch!, München 2018.

6   John L. Austin: How to do things with words, Oxford 1963.

Friedrich Niebergall: Wie predigen wir dem modernen Menschen?, zweiter Teil: Eine Untersuchung über den Weg zum Willen, 3. Aufl., Tübingen 1917.

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