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Über das Unsicherheitsgefühl der Deutschen

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Einer der am besten gesicherten, auch international immer wieder bestätigten Befunde der Umfrageforschung ist, dass das Ausmaß der Angst der Bürger vor Verbrechen nur wenig zu tun hat mit der tatsächlichen Entwicklung der Kriminalität im Land. In Deutschland nahm in den 1970erJahren die Zahl der polizeilich registrierten Gewaltdelikte deutlich zu, erreichte in den frühen 1990er-Jahren einen Höhepunkt und ist seitdem tendenziell etwas rückläufig. Die Einwanderungswelle in den letzten Jahren hat, wie von vielen befürchtet, tatsächlich zu einem leichten Anstieg der Gewalttaten in Deutschland geführt: von rund 181.000 im Jahr 2015 auf 194.000 im Jahr 2016. Doch auch diese Zahl liegt noch deutlich unter der vom vorangegangenen Jahrzehnt: 2006 waren 216.000 Gewalttaten in Deutschland registriert worden.

In den Umfrageergebnissen des Instituts für Demoskopie Allensbach spiegelt sich diese Entwicklung nicht wider. Zwar schwankt die Zahl der Befragten, die sich Sorgen aufgrund der Kriminalität machen, durchaus im Zeitverlauf, doch ein Zusammenhang mit der Kriminalstatistik ist kaum zu erkennen. Hierfür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe: Erstens sind die meisten Menschen den Umgang mit statistischen Daten nicht gewohnt. Dementsprechend sind Informationen über die Entwicklung der Zahl der Straftaten für die meisten Menschen auch nicht besonders beeindruckend. Offensichtlich fällt es vielen Menschen außerordentlich schwer, die abstrakten Proportionen der Statistik zu erfassen. Wer mit redlichen Mitteln versucht, eine aufgeheizte politische Debatte durch die Darstellung von Zahlen und Fakten zu beruhigen, steht nicht selten auf verlorenem Posten. Der Mainzer Publizistikwissenschaftler Gregor Daschmann hat mit einer eindrucksvollen Serie von Experimenten gezeigt, dass, wenn sich veröffentlichte Umfrageergebnisse und die ihnen zur Seite gestellten Straßeninterviews gegenseitig widersprechen, die Mediennutzer den Straßeninterviews glauben und nicht den eigentlich viel verlässlicheren Repräsentativumfragen. So ist das Bild der Bürger von der Kriminalität auch eher von spektakulären Einzelfällen geprägt, die eine umfangreiche Berichterstattung nach sich ziehen, als von den statistischen Fakten.

Zweitens rührt das Thema Kriminalität an tiefe Ängste vieler Menschen. Das Gefühl, selbst bedroht zu sein, hat sich, wie die Repräsentativumfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach zeigen, in den letzten Jahren nicht verändert. Auf die Frage „Machen Sie sich manchmal Sorgen, dass Sie selbst gewalttätig angegriffen werden könnten, dass Sie Opfer einer Gewalttat werden?“ antworteten im August 2017 31 Prozent der Befragten, sie machten sich darüber sehr große oder große Sorgen, im Dezember 2010 waren es mit 29 Prozent praktisch gleich viele. Auch die Zahl derjenigen, die angeben, selbst schon einmal das Opfer einer Gewalttat geworden zu sein, ist in der gleichen Zeit praktisch unverändert geblieben. 2017 lag sie bei 7 Prozent. Schlagzeilen machten in den letzten Jahren Umfrageergebnisse, wonach sich große Teile der Bevölkerung aus Angst vor Kriminalität nicht mehr in bestimmte Stadtviertel trauen. Dies bestätigen auch die Allensbacher Daten. Im November 2016 wurde gefragt: „Gibt es hier in der Nähe eigentlich ein Gebiet, durch das Sie nachts nicht alleine gehen wollen?“ Immerhin 43 Prozent der Befragten antworteten daraufhin, es gebe ein solches Gebiet. Was in der Berichterstattung über solche Ergebnisse meist übersehen wurde, ist aber die Tatsache, dass dieser Wert nicht höher liegt als vor zwanzig Jahren. 1998 hatten 46 Prozent der vom Allensbacher Institut Befragten gesagt, es gebe in ihrer Nachbarschaft eine Gegend, die sie nachts mieden.

Während sich also die eigenen Erfahrungen und Beobachtungen der Bürger nicht verändert haben, ist dennoch eine klare Mehrheit der Ansicht, dass das Leben in Deutschland immer gefährlicher werde. Auf die Frage „Wie ist Ihr Eindruck: Gibt es in Deutschland in den letzten Jahren eher mehr Gewalttaten oder eher weniger, oder hat sich da nicht viel verändert?“ antworteten im August 2017 78 Prozent, ihrer Ansicht nach gebe es eher mehr Gewalttaten. Und bei der Nachfrage „Sind die Gewalttaten Ihrem Eindruck nach heute brutaler als früher oder weniger brutal, oder hat sich da nicht viel verändert?“ zeigten sich 84 Prozent davon überzeugt, dass die Gewalttaten heute brutaler seien als früher.

Wahrnehmung der Kriminalität ist teilweise verzerrt

Zum Teil mag man in solchen Reaktionen das erkennen, was man in der Literaturwissenschaft „Topos“ nennen würde: eine Art feststehende Erzählung, die immer wieder wiederholt wird. Im August 2016 stellte das Allensbacher Institut die Frage: „Ob unser Leben in der heutigen Zeit gefährlicher ist als noch vor 20, 30 Jahren, darüber kann man verschiedener Ansicht sein. Was meinen Sie, halten Sie das Leben jetzt in unserer Zeit alles in allem für gefährlicher, als es noch vor 20, 30 Jahren war, oder für weniger gefährlich als damals, oder hat sich da nicht viel verändert?“ 58 Prozent der Befragten antworteten auf die Frage, sie hielten das Leben zum Zeitpunkt der Befragung für gefährlicher als zwei, drei Jahrzehnte vorher. Dass das Leben weniger gefährlich geworden sei, meinten nur 7 Prozent, obwohl einiges dafür spricht, dass dies tatsächlich die richtige Antwort ist. Man denke nur an die Entwicklung der Lebenserwartung und die sinkende Zahl der Unfallopfer.

Bemerkenswert ist nun, dass auch die Menschen im Jahr 1991, also in der Zeit, die nach Ansicht der Deutschen weniger gefährlich gewesen sein soll als die Gegenwart, ebenfalls der Ansicht waren, zwei, drei Jahrzehnte zuvor sei das Leben sicherer gewesen: 62 Prozent gaben damals die entsprechende Antwort. Wenn man also nicht die offensichtlich unplausible These akzeptieren will, dass das Leben der Menschen bereits seit sechzig Jahren immer gefährlicher geworden ist, bleibt als Erklärung nur eine gewisse Neigung übrig, generell die Gegenwart für gefährlicher zu halten als die Vergangenheit, wo bei vermutlich eine Rolle spielt, dass die Vergangenheit rückblickend über sichtlicher erscheint, als sie von den Zeitgenossen empfunden wurde. Ganz ähnliche Ergebnisse erhält man übrigens, wenn man fragt, ob das Leben heute einfacher oder komplizierter sei als früher.

Neben einer solchen – verständlichen – menschlichen Disposition wird man jedoch auch die Berichterstattung der Massenmedien für die zumindest in Teilen verzerrte Wahrnehmung der Kriminalität durch die Bürger verantwortlich machen müssen. Das Muster, wonach das eigene Erleben, die eigene Beobachtung, im Widerspruch steht zur Einschätzung der Lage im Land allgemein, ist typisch bei Themen, bei denen die Meinungsbildung wesentlich über die Massenmedien stattfindet. Es ist beispielsweise auch bei der Einstellung gegenüber Politikern und bei Fragen zur Einschätzung des Zustandes der Umwelt zu beobachten.

Der amerikanische Kommunikationswissenschaftler George Gerbner zeigte bereits Anfang der 1970er-Jahre mit seiner sogenannten Kultivierungstheorie, dass die Weltsicht der Menschen umso mehr von der Realität abwich, je mehr sie fernsahen, weil das Fernsehen – unvermeidlicherweise – eine verzerrte Darstellung der Wirklichkeit bot. Dies hatte gerade beim Thema Kriminalität Folgen: Vielfernseher neigten dazu, die Wirklichkeit für viel brutaler zu halten, als sie tatsächlich war. Es spricht einiges dafür, dass Gerbners Beobachtung im Kern auch heute noch Bestand hat.

Schließlich wird der Blick der Deutschen auf das Thema Kriminalität noch von einem weiteren Faktor wesentlich mitbestimmt, von dem man annehmen kann, dass er in Zukunft an Bedeutung gewinnen wird: der außerordentlich ausgeprägten Sicherheitsorientierung der Deutschen.

Lieber sicher als frei

Das Institut für Demoskopie Allensbach blickt auf eine lange Tradition der Werteforschung zurück. Seit den 1950erJahren wurde immer wieder in Grundlagenuntersuchungen das Spannungsfeld zwischen den gesellschaftlichen Grundwerten Freiheit, Gleichheit und Sicherheit untersucht. Der Fokus lag dabei meist auf dem Konflikt zwischen Freiheit und Gleichheit, doch tatsächlich ist in Deutschland die Sicherheit das stärkste dieser drei Ziele, und zwar unerheblich, ob die innere oder die soziale Sicherheit im Fokus der Aufmerksamkeit steht. Für das Versprechen der Sicherheit sind viele Bürger bereit, auch grundlegende Freiheitsrechte infrage zu stellen.

Bei einer zum ersten Mal im Juli 2006 gestellten Frage lasen die Interviewer nacheinander verschiedene mögliche Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung vor mit der Bitte an die Befragten, jeweils anzugeben, ob sie diese Maßnahme befürworten würden oder nicht. Darunter waren auch eindeutig verfassungswidrige Dinge wie der verstärkte Einsatz der Bundeswehr im Inneren, die Idee, von allen Bürgern den genetischen Fingerabdruck zu speichern, damit man Verbrecher sofort identifizieren könne, oder das vorsorgliche Abschieben von Asylbewerbern auf den bloßen Verdacht hin, sie könnten an einem Verbrechen beteiligt sein. Alle drei Maßnahmen fanden die Billigung einer Mehrheit der Befragten, der letzte Punkt sogar von 80 Prozent. Als die Frage 2016 wiederholt wurde, waren die Ergebnisse praktisch die gleichen wie ein Jahrzehnt zuvor.

Man muss annehmen, dass die Neigung, die Freiheit, aber auch andere gesellschaftliche Werte und Ziele wie Innovations- und Leistungsbereitschaft der Sicherheit unterzuordnen, in den kommenden Jahrzehnten zunehmen wird. Man kann das beispielhaft illustrieren an den Antworten auf eine Dialogfrage vom Januar 2016. Die Interviewer überreichten ein Bildblatt, auf dem zwei Personen im Schattenriss zu sehen waren. Jeder Figur war wie in einem Comic eine Sprechblase zugeordnet. Die erste Figur sagte: „Ich finde Freiheit und möglichst große Sicherheit eigentlich beide wichtig. Aber wenn ich mich für eines davon entscheiden müsste, wäre mir die persönliche Freiheit am liebsten, dass also jeder in Freiheit leben und sich ungehindert entfalten kann.“ Die Gegenposition dazu lautete: „Sicher sind Freiheit und möglichst große Sicherheit wichtig. Aber wenn ich mich für eines davon entscheiden müsste, fände ich eine möglichst große Sicherheit am wichtigsten, dass man also sicher leben kann und vor Verbrechen wirklich geschützt ist.“ Die Frage zu diesem Bildblatt lautete: „Welcher von beiden sagt eher das, was auch Sie denken?“ 37 Prozent der Befragten insgesamt entschieden sich für die erste Position, 51 Prozent, also eine klare absolute Mehrheit, für die zweite.

Betrachtet man die verschiedenen Altersgruppen getrennt, dann er kennt man, dass sich von den unter 45-Jährigen jeweils gleich viele für die Freiheit und die Sicherheit entschieden. Von den 60-jährigen und älteren Befragten wählten dagegen nur 30 Prozent die Freiheit und 59 Prozent die Sicherheit. Da aber die heute ältere Generation, wie Allensbacher Langzeittrends zeigen, in ihrer Jugend nicht weniger freiheitsorientiert war als die heutige junge Generation, bedeutet dies, dass mit dem Alter das Sicherheitsbedürfnis zunimmt. Und dies bedeutet wiederum, dass es in einer alternden Gesellschaft immer schwerer werden wird, Freiheitsrechte gegen den wachsenden Drang nach Sicherheit und die mit ihm verbundenen Forderungen nach immer kompromissloserer Bekämpfung der Kriminalität wie auch anderer Bedrohungen des Sicherheitsgefühls durchzusetzen.

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Thomas Petersen, geboren 1968 in Hamburg, Kommunikationswissenschaftler und Meinungsforscher, Projektleiter beim Institut für Demoskopie Allensbach (IfD).

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