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Wie sie sich darstellt, welche Themen sie bestimmen

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Während sich der Diskurs über die Zivilgesellschaft als ein globales Phänomen verbreitet, erscheint die Debatte darüber recht festgefahren. Die „Spaltung der heutigen Welt der Gesellschaftstheorie in Skeptiker und Gläubige“ ist wohl der Hauptgrund dafür: „Die einen verwerfen das Konzept ‚Zivilgesellschaft‘ als Schwindel, Illusion oder analytisch zu ungenau, um nützlich zu sein; die anderen stellen es heraus als normatives Ideal und theoretischen Angelpunkt der heutigen politischen Philosophie.“1 Diese Pattsituation beschränkt die Debatte, indem beide Positionen als einander ausschließend betrachtet werden. Hier wird aber von der Möglichkeit ausgegangen, einen kritischen Umgang zu entwickeln, indem das Konzept der Zivilgesellschaft als analytisches Hilfsmittel verwendet wird, welches die Dynamik des soziopolitischen Lebens einer Gesellschaft erschließen kann. So lässt sich zum Beispiel nachweisen, dass es lehrreich ist, sich die Zivilgesellschaft der Türkei sorgfältig daraufhin anzusehen, „was ihre einzelnen Strukturen tun, wie sie organisiert sind und welche politischen und wirtschaftlichen Kräfte wirken.“2

Zunächst gewinnt man auf diese Weise Einblicke in die politische Teilhabe in der Türkei. Obwohl weitgehend Einigkeit darüber besteht, dass die Türkei über ein etabliertes Verbandsleben verfügt, wurde im Rahmen einer Feldstudie 2011 ermittelt, dass die Zahl der Verbände in der Türkei im Vergleich zu den westeuropäischen Ländern immer noch sehr gering ist (etwa 150.000).3 Außerdem hat die Hälfte aller türkischen Verbände lediglich sechs bis zwanzig Mitarbeiter/Mitglieder und verfügt lediglich über ein Jahresbudget von weniger als 10.000 türkischen Lira (knapp 3.000 Euro).4 Eine wirkliche Verbands- und Lobbyarbeit scheint vor diesem Hintergrund kaum Wirkung entfalten zu können. Die politische Partizipation beschränkt sich so offenbar weitgehend auf die Teilnahme an Wahlen.

Deutlich wird bei der Betrachtung der Zivilgesellschaft ebenfalls die Beziehung zwischen Religion und Politik. Während der Regierungszeit der „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP) erhielt die Diskussion über die Verbindungen zwischen dem Islam, der Zivilgesellschaft und der Demokratisierung eine neue Dimension. Die Zahl der islamischen Verbände in der Türkei wuchs, und gleichzeitig kam eine Debatte über deren Rolle bei der (Ent-)Demokratisierung des Gemeinwesens auf. In dieser Hinsicht sind zwei miteinander verbundene Probleme wichtig: die ideologisch-politische Affinität dieser Verbände untereinander und ihre Beziehung zur AKP. Die Popularität eines philanthropischen Konzeptes ist so weit gewachsen, dass sich dieses zivilgesellschaftliche Engagement mittlerweile auf Wohltätigkeit beschränkt. Heute behaupten die islamischen Verbände in der Türkei, dass „Vorschriften und Berichtspflichten“ während der Regierung der AKP „gelockert wurden und sie jetzt mehr Freiheit haben, ihre Meinung öffentlich zu äußern“.5 Die Politikwissenschaftler Ani Sarkissian und İlgü Özler äußern ironisch dazu: „Obwohl wir unsere offenen Fragen an eine anscheinend vielfältige Gruppe von Organisationen richteten, stellten wir fest, dass die Antworten der verschiedensten religiös orientierten Organisationen ähnlich und manchmal identisch gehalten waren. […] Des Weiteren merken wir an, dass die Gestaltung der Antworten strategisch zu den ideologischen und moralischen Affinitäten der AKP passt.“6

 

Armutsbekämpfung jenseits des Staates

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die steigende Anzahl karitativer Organisationen, zu denen auch religiös motivierte (islamische) Verbände gehören. Diese Organisationen haben eine sehr wichtige Rolle für den Wandel des Diskurses über soziale Rechte gespielt, selbst wenn das nicht immer ihrer eigentlichen Intention entsprochen haben mag: Sie haben aktiv die Armut bekämpft und damit eine Aufgabe wahrgenommen, die laut Artikel 2 der türkischen Verfassung wesentlich in die Verantwortung des Staates fällt. Die Erfahrung der Türkei entspricht dabei dem weltweiten Trend, der darauf hinausläuft, die Armut zu entpolitisieren, indem sie zivilgesellschaftlichen Organisationen überantwortet wird. Für die Demokratisierung könnte dieser Diskurs jedoch einen Rückschlag bedeuten, weil er konzeptionelle Entwürfe von Demokratie auf der Grundlage gleicher Bürgerrechte behindert. So wird eine Auffassung (wieder-) belebt, die die Armen der Gnade der Wohlhabenden ausliefert. Da die akademische Literatur zur Zivilgesellschaft in der Türkei weitgehend von der fixen Idee geprägt ist, ein sogenannter „starker Staat“ sei gefährlich, hat sie auch zur Verbreitung des Klischees beigetragen, es sei erforderlich, den Staat zurückzudrängen.7

Eine Betrachtung der türkischen Politik aus der Perspektive der zivilgesellschaftlichen Entwicklung sagt zudem viel über Gleichstellungsfragen aus. Obwohl die Türkei zurzeit im Hinblick auf Fortschritte bei der Gleichstellung nicht gut dasteht,8 hat die Frauenbewegung am Bosporus eine lange Geschichte. Immer wieder ist es ihr gelungen, Frauenfragen auf die politische Tagesordnung zu setzen. Heute existiert eine stark institutionalisierte Frauenrechtsbewegung; die Anzahl der Frauenrechtsorganisationen (FROs) ist enorm gestiegen, und die unterschiedlichsten FROs mit teilweise entgegengesetzten ideologischen Standpunkten arbeiten zusammen.9

 

Diskriminierung als politisches Problem

Unter dem Aspekt „Frauen und Zivilgesellschaft in der Türkei“ müssen mehrere Fragen bedacht werden. Zunächst ist das geringe Ausmaß, in dem Frauen aktiv an der Politik teilnehmen und in höheren politischen Funktionen vertreten sind, charakteristisch.10 Die im Rahmen einer Studie kürzlich befragten Nichtregierungsorganisationen gaben dafür vier Begründungen an: Als Erstes nannten sie eine „Indifferenz der Frauen gegenüber der Politik“. Zweitens wiesen Vertreterinnen einer FRO darauf hin, dass es FROs gelegentlich „vorziehen, sich aus der Politik herauszuhalten“ und sich stattdessen auf andere Fragen konzentrierten, zum Beispiel, „Frauen zu mehr Selbstvertrauen und wirtschaftlicher Unabhängigkeit anzuhalten und ihnen Gelegenheiten zu bieten, die es ihnen ermöglichen, aktiver am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen“. Der dritte Grund für die Kluft zwischen den Geschlechtern bestehe darin, dass manche FROs „politisches Engagement für ‚riskant‘ halten und nicht mit der Politik in Verbindung gebracht werden wollen“. Der vierte Ansatz stellt die Ungleichheit der Geschlechter bei der politischen Teilhabe in den Mittelpunkt und betrachtet die Frage der Exklusion und Diskriminierung als ein politisches Problem.11

Die Frauenbewegung in der Türkei ist nach Religions-, Volks- und Klassenzugehörigkeit vielfach aufgespalten, wobei sich die FROs auch an verschiedenen politischen Richtungen orientieren (kemalistisch, sozialistisch, liberal, feministisch, islamistisch und kurdisch). Interessanterweise sind die FROs jedoch in der Lage, zusammenzuarbeiten, wenn es um den Kampf gegen die Geschlechterhierarchie geht. Dies könnte allerdings auch ein Nachteil für die Bewegung sein, da sich hieraus eine Internalisierung eines unternehmerischen politischen Führungsstils entwickeln könnte.12

 

Annäherung an Europa stärkt die Zusammenarbeit

Ein letztes heißes Thema, das hier unter dem Aspekt der Zivilgesellschaft diskutiert werden soll, ist die potenzielle Mitgliedschaft des Landes in der Europäischen Union (EU). Obwohl oft vermutet wird, dass die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft die Demokratisierung in der Türkei voranbringen könne, indem sie die Beziehungen zwischen dem Staat und der Zivilgesellschaft ändere, zeigt Ahmet İçduygu, Soziologe und Professor für Internationale Beziehungen, die Grenzen dieser These auf: „Bei ihrer Beteiligung an der Integration in die EU haben sich die Verbände weitgehend auf interessenbezogene, pragmatische Ansätze konzentriert, wie Kapazitäten aufzubauen, finanzielle Mittel einzufordern bzw. bereitzustellen oder für die EU zu werben.“13 Das Engagement der Verbände sollte jedoch „über Fragen der organisatorischen Stärkung oder die Förderung der EU hinausgehen“ und „die Anstrengungen zur Stärkung der Verbände zu einem Beitrag zu den normativen Aspekten der Zivilgesellschaft in den Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft sowohl in der Türkei als auch in Europa wandeln“.14 Bislang genießen aber die praktischen Aspekte dieses Engagements Priorität vor den normativen Dimensionen.

Die Wirtschaftswissenschaftlerin Selcen Öner bietet eine andere Analyse. Auf der Grundlage von Gesprächen mit einigen führenden türkischen Verbänden vertritt sie die Meinung, dass die normative Dimension des Engagements der Verbände mit Blick auf die Annäherung an die EU so schwach nicht sein könne. Kernpunkt ihrer Analyse ist die Unterscheidung zwischen „EU-isierung“ und „Europäisierung“, wobei die „EU-isierung“ ein formeller Prozess der Anpassung an das Recht, die Politik und die Institutionen der EU ist, wohingegen „Europäisierung“ einen von innenpolitischen Akteuren verwendeten „breiteren normativen und soziopolitischen Kontext“ darstellt.15 Aus dieser theoretischen Perspektive „besteht trotz der Langsamkeit der Verhandlungen zwischen der Türkei und der EU die ‚Europäisierung als Kontext‘ immer noch weiter, die den Verbänden eine Atmosphäre des sozialen Lernens sowie einen inhaltlichen Kontext bietet“.

Die Fortschrittsberichte der EU-Kommission und die Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte stellen für die türkische Zivilgesellschaft immer noch wesentliche Bezugspunkte dar. Das gilt sogar für die Gegner einer EU-Mitgliedschaft in der Türkei. Ein weiterer, von den türkischen Verbänden besonders hoch eingeschätzter Aspekt besteht in der Annahme, dass der Annäherungsprozess an die EU dabei helfe, ideologische Differenzen und Polarisierungen in der türkischen Zivilgesellschaft zu überwinden. In der Tat zeichnet sich unter anderem ab, dass sich unter dem Einfluss der Europäisierung bei den türkischen Verbänden allmählich eine Kultur der Zusammenarbeit entwickelt hat.

Die Finanzierung ist für die türkischen Verbände ein großes Problem. Einige behaupten, dass die Behörden manchen Verbänden bevorzugt Mittel zur Verfügung stellten. Daher ist es nicht überraschend, dass die „EU die Haupteinnahmequelle für die türkische Zivilgesellschaft darstellt“. Diese Auffassung ist jedoch unter den türkischen Verbänden umstritten: Einige betonen die Bedeutung der finanziellen Autonomie für die institutionelle Unabhängigkeit, verlassen sich auf freiwillige Spenden sowie Mitgliedsbeiträge und sind gegen eine staatliche Finanzierung, ganz gleich, ob sie aus der Türkei, aus dem Ausland, von internationalen Organisationen oder der EU stammt.

Funda Gençoğlu Onbaşı, geboren 1974 in Bandırma (Türkei), Professorin für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen, Başkent-Universität, Ankara (Türkei).

Übersetzung aus dem Englischen: Wilfried Becker, Germersheim


1 Fine, Robert: „Civil Society Theory, Enlightenment and Critique“, in: Civil Society Democratic Perspectives, hrsg. von Robert Fine und Shirin Rai, Frank Cass., London 1997, S. 7.
2 Ehrenberg, John: Civil Society: The Critical History of an Ideal, New York University Press, New York 1999.
3 İçduygu, Ahmet / Meydanoğlu, Zeynep / Sert, Deniz S.: Türkiye’de Sivil Toplum: Bir Dönüm Noktası, Istanbul 2011, S. 61–62.
4 Ebd.
5 Sarkissian, Ani / Özler, Ş. İlgü: „Democratization and the Politicization of Religious Civil Society in Turkey“, in: Democratization, 2013, Bd. 20, Nr. 6, S. 1014–1035.
6 Ebd., S. 1021–1022.
7 Gençoğlu Onbaşı, Funda: „Güçlü Devlet-Zayıf Toplum İkiliği, Hayırseverlik ve Yoksulluk“, 7. Uluslararası STK’lar Kongresi: Çanakkale On sekiz Mart Üniversitesi Çanakkale, 03.12.–05.12.2010, Tagungsband, S. 389–393.
8 Http://www.ka-der.org.tr/tr-TR/Page/Show/400/istatistik.html.
9 Coşar, Simten / Gençoğlu Onbaşı, Funda (2008): „Women’s Movement in Turkey at a Crossroads: From Women’s Rights Advocacy to Feminism“, in: South European Society and Politics, 13:3, S. 325–344.
10 Sener, Tulin: „Civic and Political Participation of Women and Youth in Turkey: An Examination of Perspectives of Public Authorities and NGOs“, in: Journal of Civil Society, Bd. 10, Ausgabe 1, 2014, S. 69–81, DOI: 10.1080/17448689.2013.862083.
11 Ebd., S. 75.
12 Coşar, Simten / Gençoğlu Onbaşı, Funda: „Women’s Movement in Turkey at a Crossroads“.
13 İçduygu, Ahmet: „Interacting Actors: The EU and Civil Society in Turkey“, in: South European Society and Politics, Bd. 16, Ausgabe 3, 2011, S. 381–394, S. 384, DOI: 10.1080/13608746.2011.598351.
14 Ebd., S. 392.
15 Öner, Selcen: „Internal factors in the EU’s transformative power over Turkey: the role of Turkish civil society“, in: Southeast European and Black Sea Studies, Bd. 14, Ausgabe 1, S. 23–42, DOI: 10.1080/14683857.2014.882089 (weitere Zitate und Bezüge aus den Seiten 34 bis 38 dieser Quelle).

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