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Zu viel Mozart, zu wenig Salieri

Über falsche Fixierungen auf das Besondere

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Sie erinnern sich an „Amadeus“? Das 1979 uraufgeführte Theaterstück, 1984 durch Miloš Forman kinematografisch erheblich beschleunigt, provozierte mit einem Normalitätszuruf eigener Art die musikalische Elite: „Ihr Mittelmäßigen überall – jetzt oder in der Zukunft –, ich erteile euch meine Absolution. Amen.“ Der Bühnenautor Sir Peter Shaffer hatte diese Worte dem greisen Komponisten Antonio Salieri in den Mund gelegt. Salieri war als Komponist zwar kein Versager, doch, anders als Mozart, nicht singulär: eine Normalbegabung. Peter Shaffer hat ihn zum Schutzpatron des Mittelmaßes ausgerufen, doch damit nicht genug.

Der dramaturgische Clou bestand darin, dass Salieri die heimliche Hauptrolle spielt und das Genie Mozart in seinem Schatten steht. Gesundes Mittelmaß, so die Pointe, hat mehr Gewicht, als die Faszinationskraft des Singulären glauben macht.

Diese Absolution des Mittelmaßes vermag im Jahr 2018 erneut zu provozieren, dieses Mal vielleicht sogar die politische „Elite“. Denkt darüber nach! Gesundes Mittelmaß hat eine zentrale, gesellschaftlich tragende Normalitätsfunktion – durchaus auch in euren eigenen Reihen. Mittelmaß ist nämlich gar nicht so mittelmäßig. Es gilt, den Charme und die politische Stärke des Mittelmaßes wahrzunehmen. Kurz: Befasst euch stärker mit dem „Normalen“ und den „Normalen“, vor allem auch: Entdeckt in kritischer Selbstdistanz Normalität als Maßstab und stellt eure eigene politische Urteilskraft in ihrer Exklusivität infrage. Eine Gesellschaft ist keine Vereinigung von Spitzenkräften und Sonderfällen. Und sie lebt auch nicht ausschließlich von Spitzenleistungen, so faszinierend diese sein mögen. Mehr Salieri bitte, weniger Mozart!

Allerdings ist ein solches Plädoyer Missverständnissen ausgesetzt. „Normal“, diese schon akustisch graue Maus, scheint in der Nähe des Muffigen, Abgestandenen, Konventionellen, ja leicht Reaktionären und Regelversessenen ihren Ort zu haben. Hinzu kommt: Das Normale könnte verdächtigt werden, eine politisch riskante, ja gefährliche Bestimmung zu sein, mit der das Normenbewusstsein einer Gesellschaft manipuliert werde.

In der Tat ist zu beachten: Das Normale darf nicht mit dem Normativen gleichgesetzt werden (vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen 2013, S. 33–35). Denn wer das tut, agiert populistisch. Ebenso wenig darf das Normative kraft politisch-exekutiver Macht als das Normale definiert werden. Es war das Verfahren der sowjetischen Nomenklatura, das von ihr festgelegte Normative als das Normale durchsetzen zu wollen. Das führte zu einer unerträglichen Diktatur des normativitätsüberladenen Normalen, mit einer erzwungenen „Fassaden-Normalität“ (Jürgen Link).

Die Geschichte des Normalen weist jedoch auch Unbelastetes jenseits solcher politisch normativer Indoktrination auf. Anders, als es der lateinische Begriff (norma = Winkelmaß) vermuten lässt, beginnt die Rede vom Normalen spät und ist eine Frucht der Aufklärung. So spricht Immanuel Kant in seiner Kritik der Urteilskraft von einer „ästhetischen Normalidee“. Ende des 18. Jahrhunderts beschreibt Carl Friedrich Gauß die symmetrische, glockenförmige Verteilungskurve, Normalverteilung genannt, die zu einer der prägenden Figuren in der Erklärung und Aufschlüsselung von Normalität gesellschaftlicher Konstellationen werden sollte.

 

Und um gleich ins 20. Jahrhundert zu springen, sind nicht eben rechtsreaktionär veranlagte Intellektuelle wie Hans Magnus Enzensberger für das Normale eingetreten. Enzensberger verteidigte die Mehrheit in der Mitte einer gesellschaftlichen Normalverteilung gegen sich avantgardistisch wähnende Rechtsund Linksintellektuelle. Deshalb darf, emanzipiert vom Verdacht des Reaktionären, die Frage gestellt werden, wie das Nachdenken über das Normale zu einer politischen Kurskorrektur beitragen könnte – freilich hier im Sinne eines etwas gewagten Annäherungsversuchs.

 

Das Normale versteht sich nicht von selbst

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Politik – in einer „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz) – dazu neigt, ihr Augenmerk auf das Singuläre, auf Sondergruppen der Gesellschaft und deren Interessen zu richten. Mit welcher Verve sie das bisweilen tut, verdient Respekt. Die entsprechende Verve könnte allerdings auch damit zu tun haben, dass sich die Befassung mit Sonderinteressen einer größeren, durchaus auch medialen Aufmerksamkeit sicher sein kann. Sind dadurch möglicherweise die Proportionen in Schieflage geraten: zu viel Mozart, zu wenig Salieri?

Politik zielt auf das Gemeinwohl, das die Interessen aller Bürgerinnen und Bürger möglichst gleichermaßen arrangiert; Sondergruppen privilegiert es nicht. Deren berechtigte Interessen müssen ohne Frage beachtet werden, denn ein das Einzigartige deklassierender Terror des Normalen würde das Gemeinwohl zerstören. Auf den klugen und nicht ausschließlichen Sinn für das Normale kommt es also an. Das ist überaus anspruchsvoll zu „ermitteln“, denn das Normale versteht sich nicht von selbst.

Es gilt, einen leicht nachvollziehbaren, gehaltvollen Sinn des Normalen zu etablieren – einen Sinn, der Neugier und Interesse weckt und in einer öffentlichen politischen Auseinandersetzung produktiv werden kann. Das fordert gedanklich einiges ab, denn dieser Sinn erschließt sich weder durch Lektüre wissenschaftlicher Spezialliteratur noch dadurch, dass man sich einfach auf eine sprachliche Intuition oder O-Töne aus der Stammkneipe verlässt. Mit dem Literatur- und Sprachwissenschaftler Jürgen Link ein wenig hochgestochen sortiert: Es gibt erstens einen nicht weiter reflektierten umgangssprachlichen Elementardiskurs (völlig normal; total normal; der normale Wahnsinn). Der ist floskelhaft, beschwört Normalität und verrätselt deren Sinn eher, als dass er ihn aufschlüsselt. Es gibt zweitens einen von Klarheit und hoher Präzision der Bedeutung bestimmten terminologischen wissenschaftlichen Spezialdiskurs von der Mathematik und Physik über die Biologie und Medizin bis in die Sozialwissenschaften hinein. Was darin „normal“ bedeutet, entzieht sich dem normal-sterblichen, fachfremden Gemüt jedoch vollständig. Und es gibt schließlich einen „irgendwo zwischen Elementar- und Spezialdiskurs“ liegenden „Interdiskurs“ (Jürgen Link). Dieser vermeidet bloß die versichernde suggestive Rede, ist um Klarheit und differenzierende Präzisierung bemüht und kann zugleich von durchschnittlich interessierten Mitbürgerinnen und Mitbürgern ohne Weiteres erfasst werden. Einer solchen Diskursebene sind vor allem die Medien und die Politik verpflichtet. Auf dieser Ebene also gilt es sich zu verständigen, wenn nach der Relevanz des Normalen für das Politische gefragt wird.

Die Diskursakteure machen es allerdings der Politik in Sachen Normalitätsdiskussion heutzutage nicht leicht und nötigen sie, die Frage nach dem Normalen mit Kategorien zu überdecken, die besondere Interessen in den Vordergrund stellen. Inklusion und Singularität sind nur zwei Stichworte, die – wenn man sich näher mit ihnen befasst – einen Normalitätsdiskurs unumgänglich machen.


„Normal ist verschieden“

Inklusion fordert, dass der gesellschaftliche Normalzustand in seiner individuellen Vielfalt besteht. Erledigt hat sich die mit dem Integrationsmodell verknüpfte Vorstellung, dass die Abweichung von einer Normalität, in die integrierend einzugliedern ist, ein zwingend aufzuhebendes Defizit darstellt. Inklusion basiert insoweit auf dem sehr zu begrüßenden Gedanken, dass jeder Mensch seinen Lebensentwurf selbstbestimmt und gleichberechtigt entwickeln kann (vgl. hierzu: Es ist normal, verschieden zu sein. Inklusion leben in Kirche und Gesellschaft. Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland EKD, Gütersloh 2014). Dabei soll ihm die Politik die Zugänge ermöglichen und gegebenenfalls spezifische Einschränkungen ausgleichen. Damit wird eine Norm der „Gleichheit des Ungleichen“ gesetzt, mit überaus positiven Folgen. Denn an die Stelle der Vorstellung einer Abweichung vom Normalen tritt eine faszinierende Variabilität von Normalität. Wenn sich das im gesellschaftlichen Bewusstsein durchsetzt, fallen tragische Barrieren und Akzeptanzprobleme in der Selbst- und Fremdwahrnehmung, von denen etwa behinderte Menschen ein trauriges Lied singen können.

Im Zuge dessen wird die Politik aber veranlasst, Rechtsansprüchen und gesellschaftlichen Gestaltungsforderungen zu genügen, die sie kaum widerspruchsfrei einzulösen vermag – teils deshalb, weil ökonomische und personelle Ressourcen endlich sind, teils deshalb, weil sich die sozialen Gefüge sperrig verhalten. Schon daran kranken oft die Bemühungen, Schülerinnen und Schüler mit und ohne Behinderung gemeinsam an Regelschulen zu unterrichten. Eltern von Kindern mit Behinderungen klagen einerseits über nicht hinreichend qualifiziertes Personal; andererseits wird kritisiert, dass die Lehrkräfte „zu viel“ Zeit mit Kindern mit Behinderung verbringen würden und der Lernstoff zu langsam vermittelt werde.

Die Umsetzungsprobleme führen zu ungewollt negativen Effekten für die oftmals sozial benachteiligten lernschwachen Kinder. Es wird berichtet, dass sie, in den sozialen und pädagogischen Lernverband unmittelbar inkludiert, von ihren Klassenkameradinnen und Klassenkameraden sozial umso härter ausgeschlossen werden. Die manifest zunehmenden Differenzen in der häuslichen und Wohnsituation mit sich segregierenden Wohnvierteln arbeiten als Exklusionsmotoren dem auch noch zu. Normal ist verschieden – eia, wär’n wir da! Insofern muss Politik die Chance haben, sich einer realistischen gesellschaftlichen Normalitätsdynamik zu stellen, und sich mit dieser vor Augen an die Ausgestaltungsarbeit machen.

 

Sozialer Preis von Inklusion

Als ähnlich problematisch erweist sich die Situation mit Blick auf die soziale Unterstützung von Migranten. Insbesondere sozial schwächere Gruppen in Deutschland machen sich Sorgen, dass der Sozialstaat die ihnen gewährten Unterstützungsleistungen zugunsten von Migranten reduziert. Daher muss man auch hier offen feststellen: Inklusion hat einen sozialen Preis, sie justiert das Normale neu, produziert mit der Zeit eine neue Art von Normalität, die Menschen, die anderes gewohnt waren, möglicherweise irritiert oder sogar tatsächlich belastet.

Mit der Inklusionsdevise „Normal ist verschieden“ werden soziale Lasten verschoben: Vormals Diskriminierte werden entlastet, doch zuvor weniger oder nicht Benachteiligte werden belastet. Anders gewendet: Bei der Inklusion darf es nicht nur um eine Inklusion von Rechtsansprüchen und Zugängen zu gesellschaftlichen Ressourcen gehen, sondern auch um eine Inklusion von Grenzen: von Normalitätsgrenzen wie der Begrenztheit politischer Gestaltbarkeit und ökonomischer Ressourcen, aber auch von Grenzen individueller Fähigkeiten, schließlich auch Grenzen sozialer Inklusionsbereitschaft, mit denen zu rechnen ist und die in aller Geduld zu bearbeiten sind (vgl. Die Pflicht zur Inklusion und die Tugend der Barmherzigkeit. Ausarbeitung der Theologischen Kammer der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Kassel 2014, S. 21–23). Dabei müssten der Inklusion Solidarität und rechtes Maß als sinnige Geschwister zur Seite gestellt werden. Wer immer inkludierende Solidarität beansprucht, muss auch selbst Solidarität an den Tag legen, beides in einem menschlichen Maß. Wir sollen einander eben, wie Martin Luther meinte, Mensch sein und nicht Gott, das sei die Summe des gelingenden Zusammenlebens.


Entwertung des „Normalen“

In der Januar/Februar-Ausgabe der Politischen Meinung wurde herausgearbeitet, was passiert, wenn das Besondere zur Richtschnur wird und den Maßstab des Normalen abzuschaffen droht. Einschlägig ist vor allem die Analyse des Soziologen Andreas Reckwitz, nach der die Massenkultur auf ihr Ende zugehe. Es zähle – gefördert durch die digitalen Technologien – künftig nur noch das eigene „Profil“ und das Einzigartige. Schon die Erziehung sei ein einziges „Singularisierungsprogramm“ (vgl. Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten, Frankfurt am Main 2017, S. 331). „Heute ist Dein großer Tag, denn heute bist Du der Star“, lautet die Aufschrift auf einer im Niedersächsischen produzierten Glückwunschklappkarte zum Schulanfang 2018 (Grüße, die verbinden, Nr. 61-1127, bsb-obpacher gmbh, Steinhagen 2018).

Schluss mit dem Allgemeinen, Schluss mit Standards – in unserer Gesellschaft, so Reckwitz, gelte es erstens, einzigartig, originell und attraktiv zu sein, und zweitens, diese Attraktivität (medial) zu zeigen. Wer beides nicht beherrsche, werde sozial verschwinden. Nur kulturkosmopolitische und unternehmerisch Kreative würden demnach überleben. Die dadurch von sozialer Abwertung bedrohte „alte Mittelschicht“ sehe sich zu Gegenreaktionen veranlasst, setze auf das Eigene, das Traditionelle und Heimische, um sich gegen die Abwertung des Provinziellen und Konformen zu wehren. Manche Gruppierungen – rechtspopulistische, nationalistische, religiös-fundamentalistische und teilweise auch ethnische Gruppen – machen sich das zunutze und behaupten verstärkt die innere Homogenität einer kollektiven Identität.
 

„Stinknormal und superfein“

Insgesamt diagnostiziert Reckwitz eine sich spaltende Gesellschaft, was die Frage aufwirft: Könnte eine politisch produktive Befassung mit dem Normalen den Spaltpilz zwischen „Singularitätshipstern“ und „Mittelstandsabsteigern“ eindämmen? Immerhin bestreitet Reckwitz nicht, dass die zur Schau gestellten Singularitäten lediglich suggeriert sind. So stehen hinter den vermeintlich durchdesignten Singularitätsszenarien oft überaus alltägliche Biographien. Es etabliert sich ein Singularitätskonformismus eigener Art, eine Art überanstrengter Normalität des Besonderen, die es insbesondere Jugendlichen verbietet, unangestrengt normal sein zu dürfen.

Geradezu befreiend wirkt da, wenn sich ein Jugendlicher in einem Blog zu den Menschen zählt, die „stinknormal und superfein“ damit sind („Ich bin stinknormal und super-fein damit. Ehrlich!“, www.bento.de/gefuehle/ich-binstinknormal-und-super-fein-damit-ehrlich-2157954 zuletzt abgerufen am 13.08.2018). Bei sehr vielen Bürgerinnen und Bürgern sticht nun einmal nichts medientauglich heraus. Politische Initiativen sollten alles andere als den Eindruck erwecken, dass daran etwas tragisch wäre. Es gilt, zurück auf den Normalitätsteppich zu kommen, was erst recht der medialen Welt schwerfallen dürfte, aber umso notwendiger erscheint.

„Deutschland sucht den Superstar“ und findet ihn kaum, weil zwar viele Kandidatinnen und Kandidaten zu singen und zu tanzen wagen, aber es dann doch nicht außergewöhnlich gut können. Man sehnt sich geradezu nach einem Förderprogramm für realistische, heiter selbstdistanzierte 

junge Menschen, die sich reflektiert, aber glücklich als „Talentbefreite“ zu erkennen geben. Vielleicht sind die Hamburger Schülerinnen ein Anfang, die sich mit dem Lied „Not Heidi’s girl“ davon distanzierten, an den Maßen von Topmodels gemessen zu werden.

 

Eine Orientierung am Normalen ist keine Stammtischrederei. Gerade politisch ist sie anspruchsvoll. Mit ihr verbindet sich die Frage nach gesellschaftlichen Standards, die es zu bewahren oder zu erreichen gilt. Zwar darf es nicht darum gehen, das, was für normal gehalten oder empfunden wird, politisch einfach zu exekutieren oder zu verstärken. Doch es ist fraglos wichtig, über Normalitätsvorstellungen von Bürgerinnen und Bürgern im Bilde zu sein. Und die Politik sollte bei der Festlegung von solchen zentralen Standards öffentlicher Verantwortung ein gewichtiges Wort mitreden. Dabei ist selbstverständlich zu prüfen, welche Aufgaben in der Perspektive einer Gemeinwohlorientierung zu den Kernaufgaben politischer Gestaltung zählen sollten. Die Politik darf also niemals zur normativen Dienstmagd eines mehr oder weniger allgemeinen Normalitätsempfindens verkommen. Rechtsstaatlich und repräsentativ-demokratisch kultivierte Politik hat dem Volk „aufs Maul“ zu schauen, ihm aber nicht nach dem Mund zu reden. Politische Führung ist gefragt, eine Führung, die von Bürgerinnen und Bürgern ein Normalmaß an Eigenständigkeit erwartet und ein wenigstens durchschnittliches politisches Engagement fördert. So gesehen ist ein Interesse am Normalen der erklärte Gegner eines politischen Protektionismus, der „Menschen in Deutschland“ im Grunde zu einer Horde von politischen Pflegefällen macht, um die sich politisch Verantwortliche fürsorglich zu kümmern hätten.

 

 

„Ehe für alle“

 

Noch kümmert sich die Politik stark um Sonderthemen und Spezialfragen. Oder anders: Sie reagiert geradezu reflexartig auf die Sorge um das Besondere. So kam es im Sommer 2017 zu der Entscheidung mit Blick auf die „Ehe für alle“. Dabei kann es nicht darum gehen, das mit einer respektablen Mehrheit verabschiedete Ergebnis der Abstimmung infrage zu stellen. Der Weg dorthin jedoch wurde selbst von überzeugten Befürwortern als unwürdig empfunden. Sorgfältig rückgekoppelt war die Entscheidung besonders in der CDU nicht. Noch auf ihrem Parteitag 2007 in Hannover hatte sie „Grundsätze für Deutschland“ verabschiedet, in denen es heißt: „Die Ehe ist unser Leitbild der Gemeinschaft von Mann und Frau. Sie ist die beste und verlässlichste Grundlage für das Gelingen von Familie. … Wir respektieren die Entscheidung von Menschen, die in anderen Formen der Partnerschaft ihren Lebensentwurf verwirklichen. … Eine Gleichstellung mit der Ehe zwischen Mann und Frau als Kern der Familie lehnen wir jedoch ebenso ab wie ein Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare.“ Damit ist die Entscheidung vom Sommer 2017, in dieser Frage den Fraktionszwang aufzuheben, nicht in Einklang zu bringen. Die erhebliche Verschiebung in der Normalitätsdynamik im Blick auf die Ehe müsste aber gründlich erklärt und verständlich gemacht werden.

 

Hilfreich wäre, eine am Gemeinwohl orientierte sozial- und familienpolitische Gesamtstrategie offenzulegen – eine Gesamtstrategie, in die sich Spezialfragen wie die rechtliche Ausgestaltung einer „Ehe für alle“ einordnen lassen und die die ökonomischen, demografischen, sozialen und bildungspolitischen Perspektiven plausibel miteinander verknüpft. Diese Aufgabe macht zugegebenermaßen nicht leichter, dass sozialethische öffentliche Intellektuelle vom Format eines Oswald von Nell-Breuning, die der Politik zur Seite stehen könnten, nicht in Sicht sind oder sich jedenfalls nicht hörbar zu Wort melden.

Zunächst geht es, wie gesagt, um die Kenntnis von Normalitätsvorstellungen. Sie ist Aufgabe von Politik im Sinne einer kritischen Meinungsbildung und Überzeugungsarbeit, für intelligente Normalitätsstandards mit Sorge zu tragen. Dafür bedarf es Kraft und Ausdauer, um für klug erdachte politische Überzeugungen und Gestaltungsoptionen Mehrheiten zu gewinnen. Damit diese anspruchsvolle Hinwendung zum Normalen gelingt, benötigen wir eine breite öffentliche, politische und fachpolitische Diskussion.
 

Stephan Schaede, geboren 1963 in Neuwied, Theologe, seit 2010 Direktor der Evangelischen Akademie Loccum, Mitglied des Kuratoriums der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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