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Die „Letzte Generation“ zwischen Extremismusvorwurf und zivilem Ungehorsam

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Sie treten in den Hungerstreik, kleben sich an Straßen fest, manipulieren Pipelines – wie im Frühjahr 2022 etwa in Brandenburg – und verunstalten Kunstgemälde – zuerst zur „Rettung“ von Lebensmitteln, später zur Dekarbonisierung, schließlich, um ihren Forderungen nach „ersten Sicherheitsmaßnahmen“ für das Klima (Tempolimit auf Autobahnen und Fortführung des 9-Euro-Tickets) Nachdruck zu verleihen.1 Der „Aufstand der Letzten Generation“ ist aktuell der vermutlich radikalste Arm der Klimaschutzbewegung in Deutschland.

 

Verschwimmende Grenzlinien

 

Ihre Aktionen stoßen zwar kaum auf breites Verständnis,2 erzielen jedoch große Aufmerksamkeit. An ihnen scheiden sich die Geister: Den wenigen, die im Zugang der „Letzten Generation“ ein Lehrstück zivilen Ungehorsams sehen,3 stehen kritische Stimmen gegenüber, die den Vorwurf des Extremismus erheben: „Wenn Klimaschützer ihre Aggression gegen einfache Bürger richten und das mit Lebensgefahr und Notwehr begründen, kann einem mulmig werden. Extremismus ist der nächste logische Schritt“, prognostizierte Justus Bender in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 19. April 2022.4 In das gleiche Horn stieß Anfang November 2022 der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft Rainer Wendt.5 Andere verwenden zwar das „E-Wort“ nicht, ihre Kritik läuft aber auf dasselbe hinaus – etwa wenn sie sagen, dieses Handeln habe „mit Demokratie nicht mehr viel zu tun“ (Omid Nouripour) oder sei „demokratiefeindlich“ (Katja Mast).6 Wieder andere ziehen bereits Vergleiche zur Roten Armee Fraktion (RAF), darunter Michael Buback, Sohn des von der RAF ermordeten Generalbundesanwalts Siegfried Buback, Bettina Röhl, Ulrike Meinhofs Tochter, aber auch der ehemalige Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt und der Politikwissenschaftler Alexander Straßner.7

Die Vorwürfe wiegen schwer. Allein deshalb scheint es geboten, mit Blick auf die „Letzte Generation“ genauer zu untersuchen, wo die oftmals gar nicht so klare Grenzlinie zwischen Demokratie und Extremismus verläuft und ob die Aktionen strukturelle Defizite der Demokratie offenbaren.

Handelt es sich bei den Aktionen der „Letzten Generation“ um zivilen Ungehorsam, wie die Gruppe für sich in Anspruch nimmt und einige Beobachterinnen und Beobachter konstatieren? Anders gefragt: Sind ihre Gesetzesübertretungen – allein die Berliner Staatsanwaltschaft zählte bis Ende Oktober 2022 etwa 730 Verfahren8 – legitim?

 

Kriterien zivilen Ungehorsams

 

Kriterien hierfür hat Jürgen Habermas in einer Debatte der 1980er-Jahre unter Rückgriff auf John Rawls’ Gerechtigkeitstheorie entwickelt: „Ziviler Ungehorsam ist ein moralisch begründeter Protest, dem nicht nur private Glaubensüberzeugungen oder Eigeninteressen zugrunde liegen dürfen; er ist ein öffentlicher Akt, der in der Regel angekündigt ist und von der Polizei in seinem Ablauf kalkuliert werden kann; er schließt die vorsätzliche Verletzung einzelner Rechtsnormen ein, ohne den Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im Ganzen zu affizieren; er verlangt die Bereitschaft, für die rechtlichen Folgen der Normverletzung einzustehen; die Regelverletzung, in der sich ziviler Ungehorsam äußert, hat ausschließlich symbolischen Charakter – daraus ergibt sich schon die Begrenzung auf gewaltfreie Mittel des Protests.“9

Die ersten Kriterien sind bei der „Letzten Generation“ fraglos erfüllt: Den Verantwortlichen dürfte klar sein, dass sie mit ihrem öffentlichen Handeln das Gesetz übertreten. Es geht ihnen zudem nicht um partikulare Interessen, sondern um nicht weniger als den Fortbestand der Menschheit. Und die Akzeptanz des Rechtsstaates wird im kooperativen Umgang mit der Polizei erkennbar; man versucht nicht, sich der Strafe zu entziehen. Darum stellen die Rechtsbrüche auch keine prinzipielle Absage an das Gewaltmonopol des Staates dar (anders als etwa bei der „Antifa“, wenn sie Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten bedroht).

 

Verhältnis zur politischen Ordnung

 

Fraglich ist allerdings, ob „Klebeaktionen“, mit denen der Straßenverkehr zum Erliegen kommt, als „gewaltfrei“ eingestuft werden dürfen – jedenfalls unter Zugrundelegung der vom Bundesverfassungsgericht akzeptierten „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“. Leidtragende sind jene Autofahrerinnen und -fahrer, die durch die vor ihnen haltenden Autos an der Weiterfahrt gehindert werden.10 Und dass das Handeln der Gruppe keinen rein symbolischen, wachrüttelnden Charakter hat, macht sie selbst immer wieder klar. Sie will politisches Handeln erzwingen, indem sie der Politik immer wieder mit „Stillstand“, „Widerstand“ und der „Störung der öffentlichen Ordnung“ droht, sollte diese die Forderungen ins Leere laufen lassen. Dies weckt den Verdacht, dass es sich statt um Akte zivilen Ungehorsams schlicht um Nötigungsversuche handelt.

Wie verhält sich die „Letzte Generation“ zum demokratischen Verfassungsstaat? Wiewohl sich dies vorrangig aus den politischen Zielen ergibt, müssen die politischen Mittel ebenfalls berücksichtigt werden, lässt sich doch bisweilen von ihnen ebenfalls auf das Verhältnis zur politischen Ordnung schließen.

Zur Zielebene ist die Frage rasch beantwortet: Bei der „Letzten Generation“ sind nirgendwo Ansätze erkennbar, den demokratischen Verfassungsstaat etwa zugunsten einer „Ökodiktatur“ zu überwinden. Im Gegenteil: Die Bewegung befürchtet bei Fortschreiten des Klimawandels „den völligen Zusammenbruch sowohl unserer Demokratie als auch unserer globalen Gemeinschaft. […] Unsere freiheitlich demokratische Grundordnung wird ins Wanken geraten.“11 Die Aussage verdeutlicht, dass der Vergleich mit der linksterroristischen RAF, die eine Sozialrevolution anzetteln wollte, schnell an seine Grenzen gelangt. Die RAF wollte die konstitutionelle Demokratie – in der Auflösungserklärung von 1998 noch verunglimpft als „Nazi-Nachfolgestaat“ – beseitigen, die Aktivistinnen und Aktivisten der „Letzten Generation“ dagegen wollen sie nach eigener Aussage bewahren.

 

Missverständnisse über die Demokratie

 

Anders sieht es mit Blick auf die Mittel aus: Die „Letzte Generation“ stellt der Bundesregierung regelmäßig Ultimaten, droht mit einer Fortführung und Eskalation ihrer Aktionen, sollte diese nicht den Forderungen nachkommen; so geschehen zuletzt im Herbst 2022. Da hatte es, bevor im November eine „Gesprächseinladung“ (auch diese mehr drohend als freundschaftlich) ausgesprochen wurde, noch geheißen: „Sollten wir von Ihnen bis zum 07.10.2022 keine Antwort erhalten, die uns zeigt, dass Sie diese Maßnahme umsetzen werden, sehen wir keine andere Möglichkeit, als gegen Ihren aktuellen Kurs Widerstand zu leisten. Wir werden in diesem Fall ab dem 10.10.2022 erneut für eine maximale Störung der öffentlichen Ordnung sorgen.“12

Derartige Nötigungsversuche fußen auf einem „Missverständnis dessen, was Demokratie ist“13: Die Politik habe zu exekutieren, was die Wissenschaft längst bewiesen hat. Eine solche Argumentation ist im politischen Wettbewerb nichts Neues. Neu – und einigermaßen paradox – ist, wie sie nun mit dem Ziel der „Bewahrung der Demokratie und ihrer physikalisch-biologischen Voraussetzungen“14 verknüpft wird. Denn das führt dazu, dass das, was der Bewegung im Prinzip bewahrenswert erscheint, von ihr in der konkreten Sache als zu behäbig abgelehnt wird. An der Kritik zu langsamer Verfahren mag etwas dran sein, aber einen Shortcut zur Entscheidungsfindung kennt die Demokratie aus gutem Grund nicht: „Auch wissenschaftliche Erkenntnisse müssen durch die Schleuse demokratischer Entscheidungsprozeduren, wollen sie als legitime, autoritativ bindende Beschlüsse die Folgebereitschaft freier und bisweilen eigensinniger Bürger generieren.“15

Die „Letzte Generation“ tritt stattdessen mit dem Staat in etwas ein, das Bernd Ulrich einen „Erzwingungswettbewerb“ nennt,16 bei dem aus Sicht der Aktivistinnen und Aktivisten der Zweck die Mittel heiligt. Die Demokratie könnte darin ihrem dräuenden Tod durch den Klimakollaps allenfalls mit einem Suizid durch Nötigenlassen zuvorkommen. Auf dieser Ebene (aber eben nur dieser) trägt der Vergleich mit der RAF, die den Staat auch unter Handlungsdruck setzte. Dies ist der problematischste Aspekt der „Letzten Generation“.

 

Ein Lehrstück

 

Der Wirbel um sie lehrt damit drei Dinge, die über die Tagespolitik hinausgehen: Erstens kann man die Demokratie nicht retten wollen, indem man sie außer Kraft setzt. In diesem Widerspruch hat sich die „Letzte Generation“ verfangen. Dass die Demokratie Achtsamkeit gegenüber politischen Zielen und Mitteln verlangt, ist vor diesem Hintergrund recht und billig.

Es ist zweitens festzuhalten, dass die „Letzte Generation“ zwar voller Widersprüche sein mag – die Demokratie es jedoch nicht minder ist, wenn sie in ihrer streitbaren Variante zum eigenen Schutz Widersacher unschädlich machen will, sich aber durch eine fortwährende Diskontierung der Zukunft selbst in Gefahr bringt. Es ist bei aller Kontroversität ein Verdienst der „Letzten Generation“, diese Selbstgefährdung ins Bewusstsein zu rufen. Bedauerlich ist allerdings, dass der politische Diskurs stattdessen die Statthaftigkeit einzelner Aktionen in den Fokus rückt. Dafür trägt die Bewegung jedoch eine Mitverantwortung. Es wäre daher drittens „Symbolik statt Nötigung“ das Gebot der Stunde. Aktionen, die an die materiellen Interessen, das Gerechtigkeitsempfinden oder die Empathie der Menschen appellieren, indem sie etwa Ungerechtigkeiten am Einzelfall exemplifizieren, dürften ihrer Sache mehr dienen als eine auf Zwang setzende Politik. Dann stünden nicht nur Mittel und Ziele in Einklang, sondern das bedeutsame und uns alle angehende Anliegen erhielte gewiss auch mehr Legitimität.

 

Tom Mannewitz, geboren 1987 in Wurzen, Politikwissenschaftler, seit 2021 Inhaber der Professur für politischen Extremismus und politische Ideengeschichte, Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Nachrichtendienste am Zentrum für nachrichtendienstliche Aus- und Fortbildung (ZNAF), Berlin.

Der vorliegende Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung des Autors wieder.

 

1 Letzte Generation: Brief an die Bundesregierung, Herbst 2022 (ohne Datum), https://letzte-generation. de/brief-an-die-bundesregierung/ [letzter Zugriff: 09.11.2022].

2 Fabian Kluge: „Acht von zehn Deutschen verurteilen Klima-Proteste der ‚Letzten Generation‘“, in: Augsburger Allgemeine, 08.11.2022, www.augsburger-allgemeine.de/special/bayernmonitor/umfrage-acht-von-zehn-deutschenverurteilen-klima-proteste-der-letzten-generationid64479841.html [letzter Zugriff: 09.11.2022].

3 Siehe etwa Bijan Moini: „Der Staat muss sich mäßigen“, in: Deutschlandfunk Kultur, 11.11.2022, www.deutschlandfunkkultur.de/klimaaktivisten-ziviler-ungehorsam-hoehere-strafen-100.html [letzter Zugriff: 15.11.2022].

4 Justus Bender: „Hysterischer Aktivismus schadet allen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.04.2022, www.faz.net/aktuell/politik/inland/letzte-generation-wenn-klimaschuetzer-zu-extremisten-werden-17959765.html [letzter Zugriff: 09.11.2022].

5 Jonas Forster: „‚Letzte Generation‘: Klimakleber provozieren mit neuer dreister Drohung“, in: Der Westen, 08.11.2022, www.derwesten.de/politik/letzte-generation-klebeprotest-klima-aktivisten-id300112398.html [letzter Zugriff: 09.11.2022].

6 Tagesschau: Grünen-Politiker kritisieren Straßenblockaden, 21.02.2022, www.tagesschau.de/inland/ gruene-kritik-blockaden-101.html [letzter Zugriff: 11.11.2022]; Kevin Hagen / Guido Mingels / Sara Wess: „Nichts ist erwiesen, aber viele haben ihr Urteil schon gefällt“, in: Der Spiegel, 03.11.2022, www.spiegel.de/panorama/berliner-radfahrerin-nach-unfall-hirntot-druck-auf-klima-aktivistensteigt-a-1e33ffee-ecd4-47f0-8683-e5c8c696ff79 [letzter Zugriff: 10.11.2022].

7 Markus Decker: „‚Letzte Generation‘: Sohn eines RAF-Opfers warnt vor Radikalisierung“, in: RedaktionsNetzwerk Deutschland, 08.11.2022, www.rnd.de/politik/letzte-generation-sohn-eines-raf-opfers-warnt-vor-radikalisierung-der-klimaaktivisten-RKPMALBG7FAJHHNWTU6WH6WCRU.html [letzter Zugriff: 09.11.2022]; Alexander Straßner: „Die seltsamen Analogien zwischen Klimaextremisten und der jungen RAF“, in: Die Welt, 27.09.2022, www.welt.de/debatte/kommentare/plus241279903/Die-Analogien-zwischen-Klimaextremisten-und-der-jungen-RAF.html [letzter Zugriff: 09.11.2022]; Markus Langenstraß: „‚Letzte Generation‘ – Entsteht eine ‚Klima-RAF‘?“, in: BR24, 11.11.2022, www.br.de/nachrichten/bayern/letzte-generation-entsteht-eine-klima-raf,TMqdwJU [letzter Zugriff: 11.11.2022].

8 dpa: „Konsequenzen für die ‚Letzte Generation‘: Rund 730 Verfahren gegen Klimademonstranten in Berlin“, in: Der Tagesspiegel, 01.11.2022, www.tagesspiegel.de/berlin/konsequenzen-fur-die-letzte-generation-rund-730-verfahren-gegenklimademonstranten-in-berlin-8819344.html [letzter Zugriff: 10.11.2022].

9 Jürgen Habermas: „Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat“, in: Andreas Braune (Hrsg.): Ziviler Ungehorsam. Texte von Thoreau bis Occupy, Stuttgart 2017, S. 209 ff., hier S. 215 f.

10 Bundesverfassungsgericht: Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 07. März 2011 (1 BvR 388/05, Rn. 1-46).

11 Letzte Generation, a. a. O., siehe En. 1.

12 Ebd.

13 Wolfgang Merkel: „Neue Krisen. Wissenschaft, Moralisierung und die Demokratie im 21. Jahrhundert“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 26–27/2021, S. 4–11, hier S. 8.

14 Bernd Ulrich: „In der Schwebe“, in: Die Zeit, 03.11.2022.

15 Merkel 2021, a. a. O., siehe En. 13, S. 9.

16 Ulrich, a. a. O., siehe En. 14.

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