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Politikwissenschaft als Demokratiewissenschaft

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Die Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland begann als Demokratiewissenschaft. Nach dem Kollaps der Weimarer Republik und der Katastrophe der nationalsozialistischen Barbarei sollte das Fach auf Drängen der Besatzungsmächte, allen voran der USA, neu aufgebaut werden, um den Deutschen die Demokratie näherzubringen. Viele seiner Gründerväter wie Ernst Fraenkel, Arnold Bergstraesser und Eric Voegelin kehrten aus dem Exil in den USA zurück, wo sie geforscht, gelehrt und ihren freiheitlichen Geist verinnerlicht hatten. Folgerichtig beschäftigte sich die westdeutsche Politikwissenschaft in den 1950er- und 1960er-Jahren mit den philosophischen, kulturellen und institutionellen Grundlagen der westlichen Demokratie. Natürlich gab es damals auch andere Schulen, etwa die analytisch-empirische in Köln oder die marxistische in Marburg, die prägende war jedoch die demokratiewissenschaftliche in Freiburg und in München.

Dieses Selbstverständnis der deutschen Politikwissenschaft als Demokratiewissenschaft erfuhr eine große Bewährungsprobe durch die 68er-Bewegung. Zwar lehnten ihre Vertreter ein rein empirisches und wertneutrales Verständnis des Faches ebenso ab wie die Gründergeneration, aber es ging ihnen nicht mehr um „Demokratie“, sondern um „Demokratisierung“, das heißt ein aus der Missbilligung der bestehenden Regierungsform geborenes Emanzipationsprojekt.

Mechanistische Politikwissenschaft

Die normative Dimension der Politikwissenschaft, egal ob in ihrer Demokratie- oder Demokratisierungsvariante, verschwand mit dem Ende des Kalten Krieges der 1980er-Jahre mehr und mehr. Die linke Demokratisierungsschule erlitt mit dem Kollaps des sowjetischen Imperiums einen Schlag, von dem sie sich lange Jahre nicht erholte. Der Triumph des liberalen Staatsmodells, 1989 von Francis Fukuyama in seinem Aufsatz vom „Ende der Geschichte“ gefeiert, schien aber auch die klassische Demokratiewissenschaft überflüssig zu machen. An ihre Stelle trat mehr und mehr eine wertneutrale, theorielastige, datenfokussierte und mechanistische Politikwissenschaft. Seit zwei Jahrzehnten dominiert in den USA wie in Europa der Trend zu Statistik und Mathematik das Fach.

Seit den 1950er-Jahren der Demokratiewissenschaft verpflichtete Universitätseinrichtungen wurden im Zuge dieser Neuausrichtung grundlegend verändert. Zwei Beispiele: Das von Eric Voegelin maßgeblich mitgestaltete Münchner Geschwister-Scholl-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität rückte von seiner normativen und pluralistischen Tradition ab und verschrieb sich dem Governance-Ansatz, also der Erforschung von Steuerungs- und Regelungssystemen politischer Organisationen. Die Hochschule für Politik, ebenfalls in München beheimatet, wurde auf Veranlassung der amerikanischen Besatzer 1950 mit dem Ziel der Erziehung zur Demokratie gegründet. Mit ihrer Übernahme durch die Technische Universität München 2015 erhielt sie vom Träger, dem Bayerischen Landtag, sieben neue Professuren finanziert. Fast alle sind an der Schnittstelle zu Wirtschaft und Technik angesiedelt mit Widmungen wie „Political Data Science“, „Computational Social Science and Big Data“ oder „Environmental and Climate Policy“.

Der Weg zu einer Politikwissenschaft, die sich primär als Methode, Handwerk und Theorie versteht, ist im besten Fall nicht der alleinige Weg zum wissenschaftlichen Glück, im schlimmsten ein Irrweg. Die Folgen sind bereits absehbar: Die Forschungsarbeiten orientieren sich an kleinen und kleineren Problemen, sind empirisch extrem aufwendig, sprachlich oft unzumutbar und für das Verständnis der realen Welt meist irrelevant. Zusammen mit dem fatalen Trend zur Konstruktivismustheorie, nach der allgemein verbindliche Erkenntnisse nicht möglich sind, führt dies dazu, dass die Politikwissenschaft zur L’art pour l’art verkommt und sich die Diskurse im Fach mehr und mehr in der gesellschaftlichen und politischen Belanglosigkeit verlieren. Folgerichtig war es kein Politikwissenschaftler, der am 8. Mai 2015 die zentrale Rede zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges im Bundestag hielt, sondern mit Heinrich August Winkler ein Historiker. Große Themen, Sprachgewalt, einprägsame Ideen und Werteorientierung sind offenbar heute mit wenigen Ausnahmen Merkmale der Geschichts- und nicht mehr der Politikwissenschaft.

Siegeszug des Populismus

Dabei wäre das Forschungs- und Lehrprogramm einer normativen, am Leitstern der Demokratie orientierten Politikwissenschaft aktueller denn je. Fukuyamas Vorhersage, das westliche Staatsmodell werde nach dem Bankrott des Kommunismus ein weltanschaulicher Selbstläufer, ist nicht eingetreten. Vielmehr ist die Demokratie in den vergangenen Jahren in die Defensive geraten: durch den Aufstieg von Populisten im Inneren und durch die aggressive Politik autoritärer Herrscher im Äußeren.

Der Siegeszug des Populismus in Europa und in den USA zeigt, dass die repräsentative Demokratie als Leitbild an Bindekraft verliert. Junge Demokratien wie in Ungarn und Polen schränken Gewaltenteilung, Medienfreiheit und Unabhängigkeit der Justiz ein. Selbst in etablierten Demokratien wie Großbritannien und den USA erreicht die Wut auf das politische Establishment ungeahnte Ausmaße. Politischer Kompromiss und internationale Zusammenarbeit werden verdammt, der Wunsch nach einfachen, radikalen Lösungen und nach Volkstribunen führte zum Brexit und spülte Donald Trump ins Präsidentenamt.

Deutschland ist keine Ausnahme. Zum einen nimmt die Zustimmung zur Demokratie ab: 2008 identifizierten sich in einer Forsa-Umfrage noch 95 Prozent der Deutschen mit der Staatsform Demokratie, 2016 waren es nur mehr 88 Prozent. Zum anderen wächst der Zynismus: Mehr als sechzig Prozent der Bürger fanden laut einer Erhebung des Meinungsforschungsinstituts infratest dimap im Jahr 2015, dass in Deutschland keine echte Demokratie herrscht, weil die Wirtschaft die Politik bestimme. Im Westen des Landes halten 37 Prozent, im Osten sogar 59 Prozent kommunistische und sozialistische Ideen für eine gute Sache, die bisher nur schlecht ausgeführt worden sei. In der gesamten westlichen Welt sind nationalistische, fremdenfeindliche und autoritäre Parteien und Bewegungen auf dem Vormarsch.

„Eindämmung der Demokratien“

Autoritäre Staaten, die ihre Existenz durch demokratische Entwicklungen gefährdet sehen, ergeben sich zugleich keineswegs in ihr Schicksal, sondern schlagen mit aller Macht zurück. Seit den Farbenrevolutionen Mitte des vergangenen Jahrzehnts in Georgien, der Ukraine und Kirgisistan, seit der Rebellion der Mittelklasse im Arabischen Frühling 2011 und seit dem Maidan-Aufstand 2013/14 wird den Diktatoren von Peking über Kairo bis Moskau und Ankara eines immer klarer: Nationalismus und Wohlstand allein reichen nicht aus, ihre Herrschaft dauerhaft zu legitimieren. Die westliche Demokratie – als Idee und als Staatsform – sehen sie als die größte Gefahr für ihren Machtanspruch. Deshalb gehen diese Staaten immer aggressiver gegen sie vor. Christopher Walker von der amerikanischen Demokratie-Stiftung National Endowment for Democracy spricht sogar von einer neuen Politik „der Eindämmung der Demokratien“.

Dazu drängen sie nicht nur demokratische Entwicklungen in den eigenen Ländern zurück, sondern wollen die Demokratie auch insgesamt diskreditieren. Russland und China bauten in den vergangenen Jahren mit RT und mit CCTV teure Fernsehauslandssender auf, die den Westen und seine demokratischen Errungenschaften verächtlich machen. Die „Trolle“ des Kremls und ihre Fußtruppen im Westen nutzen Twitter und andere soziale Medien, um Moskau-Kritiker zu beschimpfen, Gerüchte über angebliche Chemieunglücke, Ebola-Ausbrüche und Vergewaltigungen durch Flüchtlinge im Westen zu streuen sowie homo- und xenophobe Hetze zu verbreiten. In den amerikanischen Wahlkampf griff Russland laut FBI und CIA mit dem Ziel ein, den demokratischen Prozess in den USA zu verunglimpfen und Misstrauen zwischen den USA und ihren Alliierten zu säen. Zugleich unterstützt der Kreml nationalistische, EU- und NATO-feindliche Parteien mit Propaganda, Aufmerksamkeit und Geld. Marine Le Pens Front National (FN) erhielt 2014 einen Zwölf-Millionen-Dollar-Kredit von einer russischen Bank und weitere 2,5 Millionen Dollar von der Holding eines früheren KGB-Agenten. Viele Kader des Front National arbeiten für den französischen Ableger von RT. Fünfzehn der 24 wichtigsten rechtsradikalen Parteien in Europa stehen offen zu Putin und seinem Ziel, die EU und die NATO zu zerstören. Von Paris aus orchestriert das russische „Institut für Demokratie und Zusammenarbeit“ die europaweite Vernetzung der Rechtsradikalen.

Die westliche Demokratie ist heute unter massivem Druck. Die Vorstellung, „Demokratie“ sei irgendwann aufgebaut und ungefährdet oder auf einem globalen Siegeszug, ist naiv und macht viele Staaten des Westens selbstgefällig und behäbig. Dasselbe gilt für ihre Hochschulen. Auch deshalb ist die demokratiewissenschaftliche Tradition fast völlig aus dem universitären Betrieb verschwunden. Laut studieren-studium.com, einem Portal für Studieninteressierte, finden sich bei den 167 politikwissenschaftlichen Masterstudiengängen an deutschen Universitäten nur eine Handvoll, die „demokratisch“ oder „Demokratie“ im Namen tragen: „Demokratische Politik und Kommunikation“ in Trier, „Empirische Demokratieforschung“ in Mainz, „Demokratie und Regieren in Europa“ in Tübingen, „Demokratie und Governance“ in Gießen und – als einziges Masterprogramm, das sich dezidiert so nennt – „Demokratiewissenschaft“ an der Universität Regensburg.

Legitimation gerechter Herrschaft

Der Regensburger Studiengang bekennt sich zur abendländischen Demokratietradition und hat sich zum Ziel gesetzt, die Demokratie in allen Teildisziplinen in den Mittelpunkt ihrer Lehre zu stellen. Die Politische Ideengeschichte reflektiert über Genese und Geltung des modernen Demokratiebegriffs, die Vergleichende Regierungslehre/West untersucht die Demokratien Europas und Nordamerikas, die Vergleichende Regierungslehre/Ost behandelt posttotalitäre Entwicklungen demokratischer und autoritärer Systeme insbesondere in Mittel- und Osteuropa, die Internationale Politik beschäftigt sich mit dem außenpolitischen Handeln großer westlicher Demokratien und der Rolle der von ihnen geschaffenen internationalen Institutionen, die Methodenlehre vermittelt das Handwerkszeug zur empirischen Demokratieforschung. Zentral für den Studiengang ist – in der Tradition der klassischen Demokratiewissenschaft – die praxisorientierte Ausrichtung, die die Absolventen attraktiv für nationale und internationale Arbeitgeber macht.

Natürlich ist die Anwendbarkeit nicht das zentrale Kriterium universitärer Forschung und Lehre. Aber die Politikwissenschaft ist nun einmal kein „normales“ Fach wie Physik oder Chemie, sondern kann nur in Demokratien existieren. Nicht umsonst gab es in totalitären Systemen linker oder rechter Ausprägung das Fach an den Universitäten nicht. Politikwissenschaft, verstanden als „Demokratiewissenschaft“, kann und muss deshalb etwas tun, was andere Fächer, selbst die Soziologie und die Geschichtswissenschaft, nicht leisten können: die Legitimation von gerechter Herrschaft ergründen, ein realistisches Bild von der schwierigen Kompromissfindung in Demokratien vermitteln, die politischen Absolutheitsansprüche autoritärer Demagogen und ihre Mittel und Methoden hinterfragen und die Bedeutung der Kooperation demokratischer Staaten herausstellen.

Es ist höchste Zeit, dass sich Wissenschaftsminister, Universitätspräsidenten und Dekane, vor allem aber auch die Politikwissenschaftsprofessoren selbst auf die Wurzeln des Fachs besinnen. Ohne starke demokratiewissenschaftliche Komponente droht der Politikwissenschaft in Deutschland der Abstieg in die gesellschaftliche und politische Bedeutungslosigkeit.

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Stephan Bierling, geboren 1962 in Oberammergau, Professor für Internationale Politik an der Universität Regensburg, Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, Vertrauensdozent für die Universität und die Hochschule Regensburg.

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