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Zu den politischen Folgen der Corona-Pandemie

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Nein, es besteht keine akute Gefahr, dass unsere parlamentarische Demokratie durch ein Virus dahingerafft wird. Unser Staat und unsere Gesellschaft befinden sich zwar seit Frühjahr 2020 im Ausnahmezustand, denn die Corona-Pandemie hat zu bislang kaum vorstellbaren Einschränkungen des öffentlichen Lebens geführt, auch wenn mittlerweile vorsichtige, schrittweise Lockerungen stattfinden.

Eine „demokratische Zumutung“ nannte Bundeskanzlerin Angela Merkel die zeitweilige Begrenzung von Grundrechten und die Kontakteinschränkungen. Über Wochen blieben kommerzielle Flugzeugflotten am Boden, Kindergärten und Schulen blieben ebenso geschlossen wie Theater, Kinos und Restaurants, viele Betriebe und Unternehmen haben ihre Arbeit reduziert oder eingestellt.

Auch am politischen Leben ist die Pandemie nicht spurlos vorbeigegangen. Parteitage mussten abgesagt werden, Parlamente mit verringerter Besetzung tagen, Ministerräte und internationale Konferenzen durch Telefon- oder Video-Formate ersetzt werden. Aber eine existenzielle Bedrohung für unsere Demokratie ist nicht entstanden. Wir können und sollten auf die Stabilität unseres politischen Systems in Deutschland vertrauen. Entgegen allen Unkenrufen und manchen Verschwörungstheorien erweist sich auch das föderale System der Bundesrepublik als der Krise gewachsen – das zeigt nicht zuletzt der Vergleich mit autoritären wie mit zentralistischen Staaten. Zu unserer Demokratie gehören eine kritische Berichterstattung, unabhängige Gerichte und engagierte Bürgerinnen und Bürger, die natürlich auch in Krisenzeiten Entscheidungen und beschlossene Maßnahmen der Bundesregierung oder der jeweiligen Landesbehörden hinterfragen und debattieren. Wenn die Steigerung von Aufgeregtheiten, von begründeter Besorgnis und verständlicher Verärgerung gelegentlich zu Überreaktionen führt, mag das zwar lästig sein, aber in Anbetracht der außergewöhnlichen Situation ist es kaum vermeidbar und sicherlich kein Alarmsignal für die Demokratie.

Neben den unmittelbaren Folgen wird die Pandemie mittel- und langfristige Auswirkungen auf unsere Gesellschaft und womöglich unser politisches System haben. Auch wenn viele Entwicklungen derzeit nicht abzusehen sind und die Ungewissheit, die vielleicht das zentrale Charakteristikum dieser Krise ist, uns weiterhin begleiten wird, sollten wir uns schon jetzt Gedanken darüber machen, wie die Pandemie und unser Umgang mit ihr unser Land politisch und gesellschaftlich verändern wird, und dabei voreilige Schlussfolgerungen vermeiden.

 

Die Stunde der Exekutive

 

Es ist eine bemerkenswerte, aber keine überraschende Entwicklung, dass in Zeiten einer außerordentlichen Krise die Zustimmungswerte für die Bundesregierung so gut sind wie schon lange Zeit nicht mehr. Nach dem „Krisenbarometer“ der Konrad-Adenauer-Stiftung – einer Trendumfrage, die seit dem 30. März 2020 die Dynamik im Meinungsklima der Corona-Pandemie analysiert – sagten zwischen Ende März und Ende Mai durchweg mehr als 60 Prozent der Befragten, dass sie großes oder sehr großes Vertrauen in die Bundesregierung haben. Ende April lag dieser Wert zeitweise sogar bei fast 80 Prozent.

Nur um diese Werte einzuordnen: Noch im Jahr 2019 kamen empirische Untersuchungen zu dem Schluss, dass das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat und seine Institutionen zur Problemlösung stark abgenommen hat und dass die Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen selten so groß war. Laut einer Umfrage von infratest dimap im Frühjahr 2019 war mehr als ein Drittel nicht mit der praktizierten Demokratie in Deutschland zufrieden; 50 Prozent der Befragten trauten den etablierten Parteien nicht zu, die Herausforderungen der Zukunft lösen zu können, sondern setzten auf neue Parteien oder Bewegungen. Zu einem ähnlichen Schluss kam auch eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach, wonach das Vertrauen in die politische Stabilität im Jahr 2019 im Vergleich zu 2015 von 81 Prozent auf 57 Prozent abgerutscht ist. „Zwei Drittel der Bevölkerung sind über die Entwicklung von Politik und Parteien besorgt. Sie haben den Eindruck von Führungslosigkeit und Planlosigkeit. […] Allmählich unterminiert die Unzufriedenheit mit der Regierung auch das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates insgesamt“, diagnostizierte Renate Köcher vom Institut für Demoskopie Allensbach in November 2019 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Das ist ein starker Kontrast zu den aktuellen Zustimmungswerten der Regierung.

Dieses Phänomen ist allerdings bekannt: In Zeiten der Krise schlägt die Stunde der Exekutive. Sie kann ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen und imponiert den Bürgerinnen und Bürgern damit. Ein Teil der Erklärung für die hohen Zustimmungswerte dürfte dabei auch der Tatsache geschuldet sein, dass die Bevölkerung ein berechtigtes Interesse und den nachvollziehbaren Wunsch hat, dass die Aktivitäten der Regierung Erfolge zeitigen und sie die Krise in den Griff bekommt. Gewöhnlich verpuffen diese Effekte jedoch schnell wieder.

Im Übrigen ist es auffallend, dass die CDU und CSU von dieser Entwicklung deutlich stärker profitieren als ihr Koalitionspartner: Bei der Sonntagsfrage zu den Bundestagswahlen lag die Union Ende Mai 2020 bei rund 40 Prozent; das ist ein Zuwachs von sieben Prozent im Vergleich zu den letzten Parlamentswahlen im September 2017 und beinahe doppelt so hoch wie am Tiefpunkt der Umfragen in der laufenden Legislaturperiode. Entgegen der Meinung von manchen Influencern verbindet ein beachtlicher Teil der Bürgerinnen und Bürger mit der Union offensichtlich mehr als mit anderen Parteien die Kompetenz, mit derartigen Krisen umgehen zu können.

 

Parlamentarismus und Populismus

 

Auch wenn es beruhigend scheint, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in einer schwerwiegenden Krise Vertrauen in die Regierung hat, darf nicht übersehen werden, dass der Bundestag signifikant weniger Vertrauen genießt. So zeigt das „Krisenbarometer“ der Konrad-Adenauer-Stiftung, dass etwa die Hälfte der Befragten dem zentralen Organ unserer Demokratie wenig oder gar nicht vertraut; insgesamt schwankten die Werte zwischen März und Juni von Woche zu Woche erheblich. Dieser Befund deckt sich schon eher mit den Ergebnissen der oben angeführten Umfragen aus dem Jahr 2019. Die Resultate weisen nicht erst neuerdings darauf hin, dass bestimmte Regeln und Funktionsweisen unserer parlamentarischen Demokratie von einer deutlichen Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern zunehmend in Zweifel gezogen oder für die angestrebte Lösung besonderer Probleme zur Disposition gestellt werden. Im Fokus der Kritik steht dabei der Kern der repräsentativen Demokratie, wie er im Parlament institutionalisiert ist. Paradoxerweise hängt dies gerade mit der enorm ausgeweiteten Partizipation am politischen Diskurs zusammen: Über die Sozialen Medien, aber auch durch neue Formen der Partizipation – beispielsweise durch Bürgerbegehren oder Mitgliederentscheide in den Parteien – kann der Einzelne direkt politische Geschehnisse kommentieren oder unmittelbar beeinflussen. Das befördert die Individualisierung und Entinstitutionalisierung von Einfluss und Erwartungen, die mit den gegenwärtigen Ansehensverlusten von Parlamenten korrespondieren, wie Philip Manow in seinem neuen Buch „(Ent-)Demokratisierung der Demokratie“ erklärt. Populisten greifen diese Entwicklung geschickt auf – sie sind in aller Regel nicht offen antidemokratisch, aber erklärte Gegner von repräsentativ-demokratischen Institutionen wie dem Parlament. Die Wahlerfolge der Populisten im letzten Jahrzehnt spiegeln deshalb die tief sitzenden Akzeptanzprobleme unserer parlamentarischen Demokratie wider.

 

Erwartungen und Erzählungen

 

Somit ist nicht zu erwarten, dass sich diese Problematik in Luft auflöst, sondern es ist vielmehr zu befürchten, dass der Populismus mittelfristig eher von der Pandemie profitiert. Zu verlockend erscheinen bei komplexen Fragestellungen die einfachen Antworten der Populisten. Deglobalisierung, Renationalisierung und Abschottung – das sind die vermeintlichen Patentlösungen, die von vielen populistischen Parteien und Bewegungen in Europa propagiert werden. Das gilt im Rahmen der Corona-Pandemie in verstärktem Maße. Denn wir befinden uns längst im „Kampf der Narrative“, in der Auseinandersetzung, welches Erklärungsmodell, welche „Geschichte“ am überzeugendsten Sinn aus dieser Krise machen kann und die Deutungshoheit gewinnt. In diesem Zusammenhang werden die Populisten erklären, dass die Globalisierung, Ausländer und offene Grenzen die Ursachen für die Ausbreitung der Pandemie sind. Sie werden fordern, Grenzkontrollen aufrechtzuerhalten; sie werden nicht müde werden, darauf zu hinzuweisen, dass die Europäische Union (EU) in der Anfangsphase der Pandemie keine überzeugende Figur machte; sie werden Ressentiments und Vorurteile schüren, und sie werden auf den vermeintlich überforderten Staat und die Eliten schimpfen, von denen sie gleichwohl die Lösung der Probleme erwarten. Das ist ebenso durchschaubar wie kurzsichtig.

Dieser aktuellen Stimmung sind historische Erfahrungen entgegenzuhalten. In Demokratien wird gezweifelt, gestritten und debattiert; es wird um Entscheidungen gerungen, und es werden Kompromisse geschlossen. Manche Entscheidungen werden korrigiert, weil es neue Erkenntnisse und/ oder neue Mehrheiten gibt. Sind das nachteilige Faktoren im Kampf gegen die Pandemie? Nachweislich nicht, denn den Bürgerinnen und Bürgern zugewandte, demokratische Regierungen sind langfristig die besseren Krisenmanager – nicht, weil in Demokratien alle Entscheidungen immer richtig und sofort zielführend sind; aber auf der Basis von unterschiedlichen Interessen gemeinsam verbindliche Entscheidungen zu formulieren, das ist ein gutes Korrektiv gegen voreilige Festlegungen und nachhaltige Irrtümer.

 

Die Pandemie hält uns den Spiegel vor

 

Mit Blick auf die internationale Ebene hat die Pandemie einmal mehr gezeigt, dass der Multilateralismus, verstanden als ein auf Vereinbarungen und Verträgen beruhendes Regelsystem, in der Krise steckt. Neu ist diese Erkenntnis nicht, aber dass nicht einmal der hohe Problemdruck eines sich rapide global ausbreitenden Virus die Staatenwelt zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit bringen konnte, ist bedenklich: Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen war unfähig, sich auf eine Resolution und eine international abgestimmte Vorgehensweise zu einigen. Auch die Europäische Union hat sich vor allem in der Anfangsphase der Pandemie nicht als handlungsfähig gezeigt. Die Grundfreiheiten im Binnenmarkt wurden von heute auf morgen zurückgefahren; Deutschland und elf andere Mitgliedsstaaten haben ihre Grenzen geschlossen; zum Teil wurden Ausfuhrverbote auch gegenüber Partnerländern erteilt. Allzu schnell zeigten sich die Grenzen der viel beschworenen europäischen Solidarität.

Doch gerade jetzt sollte einleuchten, dass wir international koordinierte, multilaterale Antworten brauchen, um derartige Herausforderungen in den Griff zu bekommen. Am besten funktioniert das in institutionellen Foren, wo sich Kommunikationskanäle und auch Wege der Entscheidungsfindung eingespielt haben – wie in der Europäischen Union, aber auch in internationalen Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisation. Denn wer jetzt zu Recht darauf hinweist, dass die Globalisierung die Ausbreitung der Corona-Pandemie begünstigt hat, darf nicht unterschlagen, dass die Globalisierung eben auch zu ihrer Eindämmung und Bekämpfung beiträgt.

Der Soziologe Andreas Reckwitz schrieb im Juni 2020 in der ZEIT: „Wir erleben nicht den Anfang vom Ende, nicht das Ende der Epoche von Globalisierung, Digitalisierung und Liberalisierung, sondern womöglich das Ende vom Anfang, von der hyperdynamischen Anfangsphase der Spätmoderne.“ In diesem Sinne und entgegen manchen Hoffnungen wie Befürchtungen, dass sich die Welt radikal verändern wird, vermute ich, dass sie nach der Überwindung der Corona-Pandemie nicht fundamental anders aussehen wird als davor, sondern dass die gegenwärtige Krise eher bestehende Trends wie das Erstarken des Populismus und die zunehmende Infragestellung des Multilateralismus verstärkt und beschleunigt.

Die Pandemie hält uns den Spiegel vor. Manches muss in der Tat anders, jedenfalls besser werden: die Ausstattung und personelle Verstärkung der Gesundheitsdienste, die Verfügbarkeit von Medikamenten und Schutzausrüstungen, die Verringerung der strategischen Abhängigkeiten durch hochkomplexe Lieferketten, der verlässliche und unverzügliche Austausch relevanter Informationen. Wir sollten daher aufmerksam betrachten, was sich gerade vor unseren Augen abspielt, und die richtigen Schlussfolgerungen ziehen, um das zu ändern, was uns an unserem Spiegelbild missfällt. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ist dafür eine besondere Chance – und eine ebenso große besondere Verantwortung.

 

Norbert Lammert, geboren 1948 in Bochum, Sozialwissenschaftler, 1998 bis 2002 kultur- und medienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 2005 bis 2017 Präsident des Deutschen Bundestages, seit 2018 Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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