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Der Brexit - persönlich genommen

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Am 29. März 2019, um 23.00 Uhr britischer Zeit, wird der Brexit rechtskräftig und Großbritannien verlässt die Europäische Union (EU). Damit endet auf absehbare Zeit eine vierzigjährige Beziehung mit gegenwärtig 27 EU-Partnern, die gemeinsam die größte Union freier und friedlicher Demokratien sowie den größten Binnenmarkt freier Nationen weltweit bilden.

Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union hat Großbritannien Wohlstand gebracht, seit 1973 hat sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) nahezu verdoppelt. Das Vereinigte Königreich ist nach dem wirtschaftlichen Niedergang der 1950erund frühen 1960er-Jahre zur fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt aufgestiegen. Im Jahr 2016 stammten 63 Prozent der Investitionen in Großbritannien aus den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union (E-27). Fünfzig Prozent des Handels finden mit der EU statt – sogar 65 Prozent, wenn man den Handel über die EU mit Drittstaaten einrechnet. Großbritannien war das Land mit der niedrigsten Arbeitslosenquote in der Europäischen Union, es fehlten Arbeitskräfte. Die Wiedereinführung von Zöllen und anderen Hindernissen, die der Brexit verursachen wird, werden das Vereinigte Königreich in bisher nie gekannter Weise treffen und die Arbeitslosigkeit steigern.

Der Brexit ist ein Schlag ins Gesicht all jener Menschen, die sich – wie ich selbst – als Schulkinder und Studenten von den neuen Möglichkeiten mitreißen ließen, die ein „Eintritt nach Europa“ in den frühen 1960er-Jahren, als ich zur Schule ging, bot. Studieren in Europa wurde einfach gemacht. In meinem Fall erhielt ich Stipendien aus Oxford und vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und profitierte vom Studium der politischen Ideen und jüngsten Geschichte in der Bundesrepublik der 1970er-Jahre an den Universitäten Bonn und Göttingen. Die Erfahrung, dass wir unabhängig von unserer Nationalität gemeinsame Werte und Ambitionen teilen, die ich während meiner eigenen akademischen Laufbahn gemacht habe, versuchte ich vielen Generationen meiner eigenen Studenten nahezubringen. All das geht jetzt zu Ende. Die Gemeinsamkeit ist vorbei. Beim Brexit geht es zum einen um persönliche und zum anderen um intellektuelle und politische Verluste.

Jeder steht schlechter da

Dass eine Regierung der Tories, die sich stets für die Verteidigung der Freiheit eingesetzt hatte, damit prahlen würde, die Freizügigkeit von Menschen (darunter vier Millionen Briten, die in der EU leben) zu stoppen, ist für mich unfassbar, insbesondere als lebenslanger Tory-Anhänger. Kein Wunder, dass ich, meine Familie, meine Freunde sowie viele meiner akademischen Kollegen nicht nur in politischer Hinsicht, sondern auch persönlich zutiefst verstört sind. Was so viele von uns nachts wach hält, ist nicht nur das Verlustgefühl, sondern die Sinnlosigkeit dieses Verlustes. Am 26. Juni 2016 wurden Vernunft, gesunder Menschenverstand und Pragmatismus in einem Anfall von Massenzorn, Ressentiments und Unvernunft aus dem Fenster geworfen.

Für viele, die hart daran gearbeitet haben, Karrieren aufzubauen und ihre Steuern zu zahlen, sind die riesigen Summen, die jetzt rücksichtslos an den Brexit verschwendet werden, erschreckend genug. Nach Schätzungen der (unabhängigen) Bank of England gibt Großbritannien bereits 727 Pfund pro Sekunde (440 Millionen Pfund pro Woche) für die Brexit-Planung aus. Was die verschiedenen Deals von Premierministerin Theresa May betrifft, so schätzt das Centre for European Reform, dass ein „Norwegen-Deal“ in den nächsten fünfzehn Jahren jährlich siebzehn Milliarden Pfund an staatlicher Kreditaufnahme, ein „Kanada-Deal“ 57 Milliarden Pfund sowie ein  „No-Deal“ 81 Milliarden Pfund kosten würde; der am 15. Januar abgelehnte Deal von Theresa May hätte vierzig Milliarden Pfund gekostet. Ein „No-Deal“ würde ferner zu einem Rückgang des britischen BIP von acht Prozent und einem Verlust von mindestens 750.000 Arbeitsplätzen führen. Die britische Wirtschaft ist bereits um zwei Prozent geschrumpft, und jeder Bürger ist um 1.000 Pfund ärmer, als er es ohne Brexit-Votum wäre. Bei jedem einzelnen Deal steht Großbritannien schlechter da als zurzeit.

Der Brexit hat nicht einmal sein Hauptziel, die Beendigung der vierzigjährigen Auseinandersetzung um die Europäische Union innerhalb der Tory-Partei, erreicht, sondern den zwanghaften Streit verjüngt und von „Europaskeptizismus“ zu „Europafeindlichkeit“ verschärft. Die EU-Länder sind für manche zu Gegnern, ja sogar zu Feinden geworden. In den Tory-Kreisen gibt es keinen Frieden, und es kann ihn auf absehbare Zeit auch nicht geben.

Dennoch meinte Frau May, sagen zu können: „Ich denke, wir werden außerhalb der EU besser dran sein, wo wir die Kontrolle über unsere Grenzen, Gelder und Gesetze haben und in der Lage sind, um den Rest der Welt herum zu handeln“ (Sky News, 23. November 2018). Das ist Wahnsinn in jeder Hinsicht: Wir werden finanziell nicht bessergestellt sein, die Kontrolle unserer Grenzen wird sehr viel schwieriger werden, und der einzige Weg, den Handel zu befördern, würde bedeuten, die EU-27-Preise zu unterbieten – was aber auch bedeutet, dass wir nicht in den Binnenmarkt verkaufen könnten.

Hammerschlag gegen die Ratio

Für jemanden wie mich, der durch seine Forschung und Publikationen ein wenig davon versteht, wie oft wirtschaftliche Verzweiflung in den vergangenen Jahren zu politischem Extremismus geführt hat, wann immer es Demagogen und andere gibt, die bereit sind, diese auszunutzen, ist die Rücksichtslosigkeit gegenüber den ökonomischen und politischen Kosten des Brexit-Experiments in einer scheinbar stabilen und reifen Demokratie wie Großbritannien wahrlich erschreckend. Für diejenigen (also wiederum solche wie mich), die sich ihren Unterhalt verdienen, indem sie Politik lehren, ist die Brexit-Abstimmung doppelt beunruhigend, denn sie offenbart, dass in der heutigen britischen Politik die Emotionen über Fakten und eine evidenzbasierte Politik triumphieren können. Beweise, Information und Ratio sind die Grundbausteine des wissenschaftlichen Studiums und der Lehre. Als Michael Gove (ein potenzieller Nachfolger von Theresa May) während der Brexit-Kampagne sagte, dass die Briten „genug von den Experten hätten“, war dies ein Hammerschlag gegen die Ratio. Die größten Experten wie Mark Carney, Gouverneur der Bank of England, waren natürlich aus rationalen und manchmal sogar emotionalen Gründen „Remainers“ – also diejenigen, die beim Referendum 2016 für den Verbleib in der EU stimmten.

Dieser unheilvolle Mangel an Respekt gegenüber Experten war heuchlerisch: Die meisten, wenn nicht sogar alle wirtschaftlichen Brexit-Argumente basierten auf der Meinung eines einzigen Experten, nämlich Professor Patrick Minford von der Cardiff University. Das Vereinigte Königreich stand ihnen als eine Art „großes Singapur“ vor Augen. Damit verbunden war die Erwartung eines viel größeren Wachstums außerhalb der EU, indem man nach den Regeln der Welthandelsorganisation (World Trade Organisation, WTO) Handel treiben würde – mit billigeren Lebensmitteln, Schuhen und billigerer Bekleidung. Obwohl viele auf die Schlussfolgerungen Minfords aufmerksam wurden, beschäftigten sich nur wenige mit seinen dahin gehenden Forderungen, dass etwa die Industrieproduktion und die Agrarproduktion eingestellt, das Pfund weiter abgewertet und Millionen Menschen umgeschult werden müssten, allein um im IT-Bereich zu arbeiten.

Gegen die EU, für die NATO?

Das Expertenargument, dass die Souveränität der europäischen Staaten zum gegenseitigen Vorteil gebündelt werden müsse, galt den Brexit-Befürwortern als Ketzerei, obwohl die NATO-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs von den meisten unter ihnen unterstützt wird und die Bündniszugehörigkeit eine wesentlich weitreichendere Teilung von Hoheitsrechten erfordert. Ernstzunehmende Wissenschaftler wie mein Kollege Nick Rees glauben, dass Großbritannien den Verstand verloren hat.

Warum die Menschen für den Brexit gestimmt haben, ist kein Geheimnis: Schon David Camerons Idee eines Referendums war unklug. Schließlich gibt es immer ausreichend Gründe dafür, gegen einen Status quo zu stimmen. Hinzu kam: Das Vereinigte Königreich leidet unter enormen sozialen und wirtschaftlichen Problemen, insbesondere in den Randregionen – genau dort, wo der Brexit am meisten Unterstützung erfuhr. Der Brexit war in erster Linie ein englisches und walisisches, kein schottisches oder nordirisches Phänomen. Nicht Brüssel, sondern die Westminster-Regierung hatte die Verpflichtung, den regionalen Benachteiligungen entgegenzuwirken. Es gab weitere grobe Versäumnisse der britischen Regierung: Zehn Jahre Sparpolitik im Zeitraum von 2008 bis 2018 bedeuteten, dass die Reallöhne seit 2008 nicht mehr gestiegen waren. Kein Wunder, dass sich die siebzehn Millionen Wähler vergessen fühlten, aber auch hieran war die EU unschuldig.

Selbst wenn die Brexit-Anführer heute darauf bestehen, dass sich der Ausstieg lohnen wird, egal zu welchem Preis (auch um den Preis größerer Armut), war dies nicht die Perspektive, die den Bürgern damals in Aussicht gestellt worden war. Ihnen wurde gesagt, dass der Nationale Gesundheitsdienst das an EU-Beiträgen eingesparte Geld erhalten würde. Auch Nahrungsmittel und Kleidung würden deutlich billiger zu haben sein.

Das Versprechen des „Cakeism“

Im Mittelpunkt der Brexit-Abstimmung stand aber das Versprechen eines „Cakeism“ (im Deutschen „Rosinenpicken“), das sowohl von Vote.Leave als auch von Leave.EU gegeben wurde. Brexit-Befürworter, insbesondere Boris Johnson, erklärten beispielsweise, dass der EU-Austritt Großbritannien ermöglichen würde, von den massiven Vorteilen der Zollunion und des Binnenmarkts zu profitieren, ohne sich aber an die Vorschriften halten oder in den gemeinsamen Haushalt einzahlen zu müssen. Dabei handelt es sich übrigens um einen Betrag von weniger als einem Prozent des britischen BIP, etwa acht Milliarden Pfund im Jahr 2017. Dem steht ein Ertrag, so der Verband der britischen Industrie, von circa neunzig Milliarden Pfund gegenüber.

Die Unterstützung für die „Cakeism“-Idee prägte das Denken von Millionen Menschen, politisierte viele und radikalisierte das politische Leben. Bis heute folgen sie Theresa Mays „Mantra“ eines Vereinigten Königreiches, das den freien Handel mit der EU ohne Zollgrenzen zwischen Irland und Nordirland fortführt, während es gleichzeitig völlig frei ist, eigene Handelsabkommen mit der übrigen Welt abzuschließen, was zur Folge hätte, dass man die Preise für Waren und Dienstleistungen aus der EU unterbieten könne.

Romantische Linien: Die „Englishness“

Deutet die Brexit-Abstimmung darauf hin, dass alle Aufklärung, alles Lehren über die EU und ihre Geschichte umsonst und Großbritanniens Weg untrennbar mit den Ereignissen auf dem europäischen Kontinent verbunden war? Die Antwort lautet: Nein. Die Wahlanalyse zeigt, dass diejenigen, die den größten Zugang zu Bildung, zu Logik und Vernunft haben, viel eher für „Remain“ stimmten: Je älter, ärmer und weniger gebildet die Wähler waren, desto wahrscheinlicher war es, dass sie für den Brexit stimmten. Der Brexit war ein Votum gegen etabliertes Expertendenken, sei es in der Industrie, in der Berufswelt oder im Bildungswesen, zugunsten eines vermeintlichen Wisdom of Crowds („Weisheit der vielen“).

Niemanden scheint zu interessieren, dass es weltweit gar keine Nation gibt, die ausschließlich nach den WTO-Regeln Handel treibt; alle WTO-Mitglieder sind Teil regionaler oder bilateraler Blöcke. Niemand scheint zu verstehen, dass Verwaltungsvorschriften Verbrauchern wie auch den Herstellern nutzen und die Kosten im Lauf der Zeit senken und eben nicht erhöhen.

Die meisten Hochschulabsolventen haben wohl für „Remain“ gestimmt, selbst wenn es eine kleine, aber sehr einflussreiche Gruppe von Brexit-Intellektuellen gab, die die Debatte maßgeblich mitgestaltet haben. Einige, darunter der Historiker und Churchill-Biograph Andrew Roberts, argumentierten, dass eine Nation, die über ein Imperium geherrscht hat, mehr als fähig sei, nach den Regeln der WTO weltweiten Handel zu betreiben und das eigene Schicksal zu bestimmen. Andere, wie der Philosoph Roger Scruton, verfolgten eine ebenso romantische Linie und betonten die typisch englische Wesensart („Englishness“), die Liebe zum Land und zur Natur, welche die EU auf unerklärliche Weise zersetzt habe. Das deutsche Denken des 19. Jahrhunderts scheint sich irgendwie in eine britische Volkshaltung des 21. Jahrhunderts verwandelt zu haben.

„Flucht vor der Vernunft“

Die Entscheidung, die EU zu verlassen, muss meiner Meinung nach respektiert werden, wenn die Demokratie einen Sinn haben soll. Es gibt nach wie vor eine Debatte darüber, wie sie durchgeführt werden soll – ob der Verlust aller wirklichen Autorität durch Theresa May bedeutet, dass das Parlament den Prozess kontrollieren wird, oder ob es zu einem No-Deal-Brexit oder zu Neuwahlen kommen wird. Aber was auch immer passiert, Großbritannien wird infolge des Brexit ein ganz anderes Land sein.

Ein Traum wird nicht allein dadurch wahr, dass eine Mehrheit für ihn stimmt, auch wenn siebzehn Millionen Wähler sagen, dass er existiert. Die Realität wird aber sicherlich durch Extremismus und die „Flucht vor der Vernunft“ verändert. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Wähler einfach sagen würden: „Oh, wir haben uns geirrt, lasst uns wieder in die EU zurückkehren.“ Aller Wahrscheinlichkeit nach wird ein ohnehin schon radikaler „Rumpf“ von Brexit-Anhängern noch extremer und noch EU-feindlicher werden und alles so darstellen, als ob die EU das Recht Großbritanniens, das zu tun, was es will, auf bösartige Weise vereitelt.

Was diejenigen anbelangt, die denken, dass wir uns in einer Zeit des Nachdenkens über grundlegende Fragen befinden: Sollte man ins „innere Exil“ gehen? Sollte man versuchen, für „übermorgen“ zu planen? Wie ich aus meiner eigenen Familiengeschichte weiß, müssen Menschen manchmal auswandern: Ich vermute, dass die 27 EU-Staaten viele Menschen erwarten können, die England genau jetzt verlassen wollen. Durch einen „Unfall in der Geschichte“ habe ich Anspruch auf einen deutschen Pass – ich selbst könnte daher einer von diesen „Weggehenden“ sein.

Redaktionsschluss für diesen Beitrag war der 18. Januar 2019.

Anthony Glees, geboren 1948 in Oxford, Historiker und Politikwissenschaftler, seit 2008 Professor an der University of Buckingham und Leiter des Centre for Security and Intelligence Studies (BUCSIS).

Übersetzung aus dem Englischen: KERN AG, Bonn

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