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Komm! Ins Offene, Freund. Kultur im Ausnahmezustand.

Warum schreiben in schwierigen Zeiten? Welche Lektionen, wenn es sie denn gibt, hat die Literatur angesichts von Lockdown und social distancing für uns parat?

Über eine unausgefüllte, aber nicht freie Zeit wusste die 1902 in Odessa geborene Lidia Ginsburg viel zu sagen. Sie überstand in großer Not die neunhundert Tage dauernde Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht, während ihre Mutter vor ihren Augen verhungerte. Da Ginsburg mir nun wieder in den Sinn kommt, stelle ich fest, dass ich erstaunlicherweise fast auf den Tag genau vor einem Jahr ihre „Aufzeichnungen eines Blockademenschen“ bei einem Aufenthalt im amerikanischen New Hampshire gelesen habe. Ihre Texte bildeten damals einen starken Kontrast zur durchorganisierten, bunten Welt der Shoppingmalls und zu all jenen scheinbar federleichten Verlockungen eines überall auf Konsum ausgerichteten Blicks, der selbst in der Provinz mit kleinen idyllischen Weilern das Leben bestimmt. Die hungernde Lidia Ginsburg hingegen beschreibt eine Existenz ohne Farben und fern jeden Grüns, eine Stadt unter Beschuss und unerbittlicher Besatzung. Die ihr Nächsten sind „Blockademenschen“, die nicht in einem Lager, sondern mitten im urbanen Raum dem Tod ausgeliefert sind, zusammen mit ihren Arbeitskollegen, im Kreis ihrer Familie und in den Wohnungen, wo sie „wie erfrierende Polarforscher um ihr Leben kämpfen“. Als am 27. Januar 1944 die Rote Armee den Belagerungsring schließlich sprengte, war die Literaturwissenschaftlerin Lidia Ginsburg ungewollt auch eine Erzählerin und Verhaltensforscherin geworden. Als eine der wenigen Intellektuellen, die sich nicht ausfliegen ließen, war sie ihrer alten Mutter wegen in der Stadt geblieben. Das Lesen der Bücher und der Menschen ist beides mit der Schrift verbunden, mit dem Erzählen und Sehen. Wie Sehen Bewusstsein stiftet und Veränderung anstoßen kann, davon handelt Literatur in ihrem Kern.

Ginsburgs in Leningrad verfassten Erzählungen von Mitleid und Grausamkeit fielen mir sofort wieder ein, als in einem nahezu kosmisch anmutenden Lockdown der Welt die Menschen von heute auf morgen weltweit auf ihre Wohnungen zurückgeworfen waren. Unter ganz anderen Vorzeichen, die für uns mit Covid-19 sichtbare Wirklichkeit wurden, erlebten aber auch wir „das Aufhören von Betriebsamkeit“. Immerzu kam mir in den ersten Wochen unseres inneren Exils das Bild von Ginsburgs sterbender Mutter in den Sinn. Der Tod umlauerte auch die Tochter, die stundenlang in der Kälte in riesigen Schlangen für eine Handvoll Essen anstand und akribisch alles in kleine Portionen aufteilte, damit es auch für den Tag reichte. Während in ihrem Bericht täglich alles schlimmer wurde, der Hunger, die Dunkelheit, der Frost, die Verrohung, die entsetzliche Hast auf der Suche nach Essbarem, klagten bei uns die Menschen darüber, dass sie kein Schokoeis in der Frühlingssonne schlecken konnten. Zurückgeworfen auf die Familie, die Lidia Ginsburg als „das letzte ethische Faktum“ unter Belagerung beschrieb, erschien mir unsere Lage als weniger misslich oder dramatisch, zumal die Zurückgeworfenheit auf unsere Wohnungen anderen Menschen half und die Krankenhäuser entlastete, es also (endlich!) nicht nur um das Ich ging.

Vielleicht liegt dieses Empfinden aber auch an meiner frommen und zeitgleich sozialistischen Kindheit und der rigorosen, mein inneres Leben prägenden Erfahrung des Mangels, der aber, wenn man klein ist, nicht als solcher erlebt wird. Da ich nichts anderes kannte, war das Leben einfach das Leben. Ein mit einem schlichten Ofen geheiztes Zimmer war schon ein großer Segen, der Rest des Hauses blieb in den Wintern kalt. Wenn ich jetzt das Wort Verzicht höre, kann ich zudem nicht anders, als an die Belagerung von Sarajevo zu denken, die noch länger als die von Lidia Ginsburg beschriebene dauerte. Sarajevo hielt mit ganzen 1425 Tagen der längsten Belagerung des 20. Jahrhunderts stand. Unter Beschuss. Bei Kälte. Mit einer als Kriegsküche bekanntgewordenen Leidenszeit. Wir waren und sind nicht auf diese Weise gefährdet. Ich sehe meine bosnische Freundin vor mir, die Schneiderin Ismeta, die diese Zeit wie durch ein Wunder unversehrt in ihrer Stadt überstanden hat. Sie und andere bosnische Freunde erzählten mir darüber, wie sehr die Menschen damals die Bücher liebten und bei frostigsten Temperaturen ihren Kant, Rousseau und Shakespeare nicht verbrannten, um zu heizen, denn irgendwann mangelte es an Holz. Selbst wenn das eine aus der Rückschau gefertigte idealistische Korrektur des eigenen Gedächtnisses gewesen sein mag, so ist diese Liebe für das Wort dennoch wahr. Noch etwas anderes ist wahr: das Bedürfnis nach Schönheit, der ich, wie die Frauen von Sarajevo, von Beginn an während der Pandemie folge. Dabei ist die Schönheit nicht vom Lippenstift abhängig, sondern von der Form, die eine starke Energie ist. Ich trage morgens meinen Lippenstift auf, achte auf Farben und Kleidung, so, wie es mir entspricht. Diese Achtung vor sich selbst, die sich auch auf das Erlebnis der Zeit auswirkt, das habe ich von den Frauen von Sarajevo gelernt. In diesem Bewusstseinsvorgang liegt für mich ein Text verborgen, der mich in genauer Freundlichkeit anblickt. Das Innere, meine eigentliche Art zu schauen, ist nun für ein paar Wochen der Ort unser aller Leben geworden. Ich sehe, dass der alte Kreis, in dem die Menschen sich von morgens bis abends bewegt haben, ein Teufelskreis, ein bewusstseinsferner Kreislauf war, in dem vor allem das Wegrennen vor sich selbst sichtbar wird. Derweil erobert der Gesang der Vögel den städtischen Raum. Hört man hin, weiß man, dass Amseln nicht lügen. Der Kreis sei, so Lidia Ginsburg, das Blockadesymbol des in sich geschlossenen Bewusstseins. Plötzlich frage ich mich, wann eigentlich wir in diesem geschlossenen Bewusstsein gelebt haben werden, vor Covid-19 oder mitten in der Pandemie? Ich glaube der Wachheit der Amseln. Ginsburg fragt, wie der Kreis sich denn durchbrechen lasse. „Die Menschen rennen im Kreis und erreichen die Realität nicht“, sagt sie. Was ist „die Realität“? Endlich ist diese Frage für alle, die ich kenne, lebenswichtig geworden. Wer schreibt (und das gilt für mich als auch für den, der liest), notiert Ginsburg, beginne, ob er es wolle oder nicht, ein Gespräch mit dem Außerpersönlichen. „Denn die Schreibenden sterben, und das Geschriebene bleibt, ohne sie zu fragen.“ Über den Kreis zu schreiben bedeutet auch, den Kreis zu öffnen – eine Tür in ihm mitzudenken. Immerhin sei das irgendeine Tat. Ginsberg beschreibt das als „gefundene Zeit im Meer der verlorenen“. Für die Menschen in den genannten belagerten Städten im Kriegszustand war es, wie „Die Aufzeichnungen eines Blockademenschen“ erzählen, die zu den größten literarischen Zeugnissen des 20. Jahrhunderts gehören, „stets ein unerreichbarer Traum gewesen, ihr Leben und Arbeiten zu ordnen. Es hätte zu viel Mühe gekostet, das Leben zu entrümpeln.“ In der sogenannten Leningrader Atempause geschah genau das: „Jetzt wurde es entrümpelt: von allerlei Geschwätz, von diversen Substituten und Täuschungen, von Unstimmigkeiten in der Liebe, von den Anforderungen eines zweiten oder dritten Berufs, vom quälenden Ehrgeiz, der die Menschen dorthin gebracht hatte, wo sie nicht hingehörten…“ Diese Worte von Lidia Ginsburg klingen seltsam vertraut und nah, so klar treten ihre Denkkonturen in unserem heutigen Raum und in unserer Zeit hervor, als sei das von ihr Erlittene und das im Leiden durchschrittene (nicht abgekürzte) Leben eine direkte Einbringung in diesen betörend schönen Frühling unseres wildausschlagenden Jahres, das schon in der Wiederholung der Zahlen etwas andeutet, das nicht nach Abkürzung aussieht, sondern eher eine Vehemenz in sich trägt, die uns nicht erlauben wird, um diese Frage herumzukommen:

Wir können überhaupt nicht getrennt voneinander leben. Seitdem wir wissen, dass die Atombombe uns alle auf die gleiche Weise zerstören kann, ist dies nicht nur ein bloß romantischer Gedanke. Die tödliche Wucht, mit der dieses Wissen nach den Barbarismen des Zweiten Weltkrieges in unser aller Leben getreten ist, ist die gleiche, die uns mit einem Virus wie Covid-19 wieder daran erinnert, dass auf dieser Erde nichts und niemand voneinander getrennt ist. Die nun erneuerten Beziehungen, die uns, dem Himmel sei Dank, wie so oft in der Geschichte der Menschheit nicht in Hunger, Krieg und Belagerung offenbar wurden, sind unser eigentliches, unser wahres Leben. „Wenn ihr nur wüsstet“, schreibt Lidia Ginsburg, „was Kälte und Finsternis bedeuten, wenn sie keine Metaphern sind.“ So wie diese extremen Leidenserfahrungen für sie keine Metaphern waren und auch für uns nicht sein dürfen, so ist auch der Mensch, heute und zu allen Zeiten, kein Symbol, sondern bleibt immer ein atmendes Wesen, dem das Leben geschenkt ist.

So oder so hilft es, an die Einfachheit zu glauben und ihre große Kraft zu erleben, die Henry David Thoreau in seinen „Briefe[n] an einen spirituellen Sucher“ auf den Punkt gebracht hat. Es sei sowohl erstaunlich als auch traurig, sagt er, welch große Menge banaler Angelegenheiten selbst der weiseste Mensch im Laufe des Tages meint erledigen zu müssen. Der Mathematiker hingegen, sobald er ein schwieriges Problem lösen wolle, befreie die Gleichung zunächst von allen Behinderungen und reduziere sie auf ihre einfachsten Glieder. „Vereinfachen Sie also“, schreibt Thoreau am 27. März 1848, „das Problem des Lebens, nehmen Sie das Notwendige und das Wirkliche wahr. Erkunden Sie die Erde, damit Sie sehen, wo Ihre Hauptwurzeln verlaufen.“ Die inneren Blicke offenbaren weitaus gewichtigere äußere Tatsachen als wir gemeinhin glauben wollen. Es ist Zeit, das Innere als Landschaft in der Landschaft zu erkennen, die wir unser Leben nennen. Und wir können sie nur lesen und gestalten, wenn wir den vielfachen Spiegelungen unseres Bewusstseins nachspüren. Das Sehen allein ändert mehr als fortwährendes, vom eigenen Atem abgewandtes Tun. Poesie ist nicht nur Schrift, sondern auch Teil dieses Atems der Welt in der Welt der Welt.

 

 

Marica Bodrožić kam 1973 in Dalmatien zur Welt. 1983 siedelte sie nach Hessen über. Sie schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen und Essays. Für ihre Bücher erhielt sie zahlreiche Preise und Stipendien, darunter den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2015. Marica Bodrožić lebt als freie Schriftstellerin in Berlin.

 

 

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