Die erste und vermutlich einzige Fernsehdiskussion zwischen Kamala Harris und Donald Trump ließ die unterschiedlichen Strategien erkennen. Während Trump versuchte, Joe Bidens Vizepräsidentin dessen angebliche Misserfolge anzulasten, konzentrierte sich diese darauf, ihren Gegner zu provozieren, um dessen irritierenden Charakter vorzuführen. Ihre Unterstellung, gelangweilte Zuhörer verließen Trumps Auftritte vorzeitig, empörte den Selbstverliebten so sehr, dass er orientierungslos wirkte und schließlich mit der Behauptung, Migranten verzehrten Hunde und Katzen der Bewohner von Springfield, seinem Team einen wirklichen Katzenjammer bereitete. Nur im Schlusswort, das er per Losentscheid gewonnen hatte, punktete er mit der vorbereiteten Frage, weshalb Kamala Harris, die Verbesserungen, die sie in Aussicht stelle, nicht schon längst als Mitglied der Biden-Regierung auf den Weg gebracht habe. Diejenigen, die in Europa wie in Amerika das Schlimmste befürchtet hatten, atmeten jedenfalls auf, und die Umfragen schrieben Kamala Harris sogar einen kleinen Vorsprung zu.
Dennoch sprechen drei Gründe dagegen, das Rennen schon für entschieden zu halten. Erstens geht es Trumps Wählern kaum um die Person, weshalb die unverdrossenen Lügen, das weinerliche Selbstmitleid und der rüpelhafte Stil sie nicht abschrecken. Das gilt für die auffällige Problemgruppe, derentwegen die FAZ schrieb, Kamala Harris habe ein „Männerproblem“, nämlich die weißen Männer mit geringer Bildung, die man besonders dort finde, wo Qualitätszeitungen wie die New York Times oder auch das Wallstreet Journal die wenigsten Abonnenten haben. Sie billigen Trump zu, dass er ihnen „eine Stimme“ gebe, ganz gleich, ob sie davon eine Verbesserung ihrer Lage erwarten.
Auch evangelikale Pastoren machen feine Unterschiede. Während sie ihren Gemeinden sicher nicht den Lebensstil Donald Trumps empfehlen, glauben sie trotz seiner Unkalkulierbarkeit, er werde in puncto Abtreibung „liefern.“ Nur als Mittel zum Zweck betrachtet, profitiert er auch nicht im Sinne eines Mitleideffekts davon, dass auf ihn geschossen wird.
Zweitens ist Trump auch insofern nicht einzigartig, als er in der Tradition amerikanischer Denkweisen und Parolen steht. Isolationismus ist ein Grundmotiv amerikanischer Politik, das nur in dem halben Jahrhundert zwischen dem Angriff auf Pearl Harbor 1941 und dem vermeintlichen Ende der Systemkonkurrenz 1989 verblasste, als die USA eine internationale regelorientierte Ordnung etablierten (und von Präsidenten regiert wurden, die als Studenten den Kurs „Western Civilization“ absolviert hatten). Das zur Verhinderung des amerikanischen Kriegseintritts gegründete „America First Committee“ hat sich jedenfalls nach Pearl Harbor aufgelöst.
Populismus schließlich bezeichnet ebenfalls eine amerikanische „Erfindung“. Der Begriff taucht erstmals in den 1890er Jahren im Namen der „Populist Party“ auf, und die Sache blieb in wechselnden Formen seither im amerikanischen Parteiensystem virulent.
Drittens geht es aber um Bestandteile der Verfassungsordnung, von denen sich die Gründerväter die Einhegung der Politik versprachen, die heute aber antagonistische Politisierung und kulturelle Polarisierung begünstigen. Die Verfassungsväter hatten ein von europäischen Einwanderern besiedeltes, agrarisches Land mit wenigen Hafenstädten vor Augen, und ihre ideologischen Positionen resultierten nicht aus ethnischen Unterschieden oder dem Gegensatz ökonomischer Interessen (und zunächst auch nicht aus konfessionellen Differenzen), sondern aus klassischer Bildung und religiöser Tradition. So fürchteten sie mehrheitlich die Verführbarkeit der Massen und argumentierten dabei sowohl mit der aristotelischen Demokratiekritik (we want a republick not a democracy -in der damaligen Schreibweise.) wie auch der Erbsündenlehre, während eine aufklärerisch optimistische Minderheit auf die Vernunft des gemeinen Mannes hoffte. Sie konnten sich aber darauf einigen, dass sich die politischen Institutionen gegenseitig in Schach halten sollten (checks and balances) und dass der Präsident nur mittelbar von einem Wahlmännergremium, dem „Electoral College“, zu bestimmen sei.
Der Senat etwa sollte nach James Madison die Bürger nicht nur vor Machtmissbrauch, sondern auch vor dem Zeitgeist schützen. Mit zwei entsandten Mitgliedern pro Staat, längerer Amtszeit und gewichtigeren Zuständigkeiten, bildete er als die „würdigere“ Kammer zunächst ein Gegengewicht zu dem aus direkten Wahlen hervorgegangenen Repräsentantenhaus. Doch alles änderte sich, als durch Industrialisierung, Einwanderung, Verstädterung und Metropolbildung der Unterschied zwischen großen bevölkerungsreichen und kleinen dünnbesiedelten Staaten entstand, der auch die Zusammensetzung des „Electoral College“ veränderte. Da jedem Staat so viele Wahlmänner zustehen, wie er Mitglieder des Kongresses stellt (also Senatoren plus Abgeordnete im Repräsentantenhaus), entsteht ein folgenreiches Ungleichgewicht. In großen Staaten wie Kalifornien oder New York eine noch deutlichere Mehrheit zu erzielen, brächte den Demokraten keine zusätzliche Stimme im Wahlmännergremium, während die von der Bevölkerungsentwicklung unabhängigen zwei Senatoren das Gewicht der kleinen Staaten stärken. So konnte, wie etwa 2016, das Team Donald Trump/Mike Pence die Wahl gewinnen, obwohl es dem gegnerischen Gespann, Hillary Clinton/Tim Kaine, bezogen auf die landesweite Wählerschaft mit einer Differenz von nahezu 3 Millionen Stimmen unterlegen war. Wahlkämpfe werden daher besonders in den Staaten ausgefochten, in denen nicht schon eine der großen Parteien dominiert, besonders wenn sie sich – wie in Pennsylvania mit seinen 19 Wahlmännerstimmen – auch „lohnen“.
Solche „Swingstates“ sind rar, weil die Unterschiede der Entwicklung auch dazu geführt haben, dass es, in Begriffen der amerikanischen Farbenlehre, zu einem stabilen Gegensatz zwischen „roten“ und „blauen“ Staaten gekommen ist, der sich aber nicht als föderalistischer Wettbewerb um vergleichbare Ziele, sondern als Ausprägung konträrer ideologischer Profile, etwa im Schulwesen oder im Abtreibungsrecht, auswirkt.
Verändert hat sich die politische Kultur schließlich durch die „Demokratisierung“ der Vorwahlen zu nationalen und einzelstaatlichen Wahlen. Nach der „National Convention“ der Demokraten von 1968 in Chicago, die auch auf den Straßen zu chaotischen Zuständen führte, wurden die Vorwahlen so weit geöffnet, dass man sich, statt einen Abend in einer Turnhalle zuzubringen, auch per Briefwahl beteiligen konnte. Die Parteieliten, die angeblich alles in Hinterzimmern entschieden hatten, wurden entmachtet – doch stattdessen fielen die Parteien den jeweiligen Aktivisten mit ideologischer Agenda in die Hände, so dass sich die Kandidaten weniger vor den Wählern als vor der selbsternannten Basis fürchteten.
Sollte Kamala Harris gewählt werden, so blieben die USA international ein berechenbarer Akteur. Innenpolitisch wäre es psychologisch wichtig, dass die Demokraten eher als die gegenwärtigen Republikaner bereit sind, die Regeln zu respektieren. In der Wirtschafts- und Finanzpolitik stehen sich allerdings nur noch zwei protektionistische Parteien gegenüber, die an Subventionen glauben und die horrende Staatsverschuldung ignorieren. Doch auch darin wäre Kamala Harris wohl „weniger schlimm“, und durch die Wahl ihres Vizepräsidentschaftskandidaten hat sie Geschick bewiesen. Tim Walz repräsentiert eine kumpelhafte weiße Männlichkeit, die ihr eigenes Profil ergänzt, und er gefällt außerdem der Parteilinken, was seiner „Chefin“ wiederum etwas Beinfreiheit verschafft. Der größte Gewinn eines solchen Wahlausganges bestünde wohl darin, dass die Partei, die Trump in eine Art Sekte verwandelt hat, wieder zu der Republikanischen Partei Eisenhowers und Reagans oder auch McCains, Romneys und der Cheneys (Tochter und Vater) zurückfinden könnte.
Prof. Dr. Michael Zöller,