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Das große Gedenken nach der Spaltung der Linken

Auch das Medienjahr 2024 beginnt scheinbar unausweichlich mit Bildern vom Demonstrationszug auf den Sozialistenfriedhof in Berlin-Friedrichsfelde, jenem „Marsch der Scheinheiligen und Selbstgerechten“, wie er gern spöttisch, nicht nur von Anti-Kommunisten, genannt wird. Diesmal darf man gespannt sein, ob es angesichts der Spaltung der Linken noch zu einer Wiederholung des sattsam bekannten Einheitsrituals vor den Gräbern der Ikonen kommen wird.

Am 14. Januar gilt es, des 105. Jahrestages der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zu gedenken. Wie wird der Kampf um das Deutungsmonopol über Rosa Luxemburg entschieden werden? An „Feuerkopf“ Liebknecht scheint ohnehin kein ernsthaftes Interesse mehr zu bestehen.

Versucht die trotzige Restlinke um Martin Schirdewan & Co. eine Art Erstanspruch auf das heilige Erbe der beiden Märtyrer zu behaupten? Oder will Sahra Wagenknecht mit ihrem nicht minder sektiererischen Tross dagegen halten? Gibt sie gar das narzisstische Ritual auf, weil ihr als künftiger Querfront-Aktivistin, die auch vor rechter Ranschmeiße nicht zurückschreckt, ein dezidiert linker Anspruch nicht mehr karrieredienlich erscheint?

Da das düstere Weimarer Kapitel einer populistischen Querfront nur kaum vorzeigbare Figuren zu bieten hat –  wie den hingerichteten Freikorpsterroristen Karl Leo Schlageter, seinen kommunistischen Hymniker Karl Radek, den SA-Linken der NSDAP, Gregor Strasser, oder den russophilen Schriftsteller Ernst Niekisch – bleibt als eine neue Ikone statt Rosa wohl nur Sahra selbst übrig.     

Trennung von Schicksal und Werk

​​In der Weimarer Republik glorifizierte die KPD den gemeinsamen Tod Liebknechts und Luxemburgs als Anfang eines neuen „kommunistischen Zeitalters“. Das Gedenken an die beiden Mordopfer folgte einem „gründungsmythischen Narrativ“, das auf ein „heilsgeschichtliches Telos“ verwies.1 Der vom Magistrat ersatzweise bereit gestellte Zentralfriedhof in Friedrichsfelde avancierte in den zwanziger Jahren zum zentralen „Wallfahrtsort“ eines kommunistischen Totenkultes. Nach dem Tod Lenins 1924 gestaltete die moskautreue KPD das Zweier- in ein Dreier-Gedenken um, statt der bisherigen L-L- fand nunmehr eine L-L-L-Demonstration statt: Lenin-Liebknecht-Luxemburg.

Irgendwann musste Lenin – trotz aller ideologischen Verbundenheit – aber wieder weichen, denn das Liebknecht-Luxemburg-Gedenken strahlte nur als ein reiner Märtyrer-Kult aus, ob in Weimarer KPD-Zeiten oder unter dem SED-Regime. So war nur der gemeuchelte Leichnam der früheren linken Sozialdemokratin, aber nicht ihre von Lenin abweichende Theorie von propagandistischer Relevanz für die deutschen Kommunisten. Der Sowjetführer hatte auf eiserne Parteidisziplin gesetzt, sie auf die revolutionäre Kraft der Massen. Weshalb Rosa Luxemburg über lange Phasen in KP-Kreisen von der Weimarer Republik bis zum Ende der DDR aus der marxistisch-leninistischen Tunnelperspektive als Vertreterin eines „Irrwegs“ oder sogar als „Verräterin“ galt. Eine der KPD-Vorsitzenden in den 1920er Jahren, Ruth Fischer, verteufelte 1924 den sogenannten „Luxemburgismus“ als „Syphilisbazillus im Blut der deutschen Arbeiterschaft“.2

Doch das Gedenken blieb, zusätzlich überhöht durch ein 1926 vom Architekten Mies van der Rohe entworfenes Revolutionsdenkmal der „Verheißung“ mit einem großen Sowjetstern obenan. Am Ende von Weimar hielt die stalinistische KPD im Januar 1933 zwar noch eine L-L-L-Demonstration ab, ohne jedoch Luxemburgs Namen in der eigenen Berichterstattung überhaupt zu erwähnen. Das Erbe der Ermordeten wurde nur unter massiven ideologischen Vorbehalten gepflegt. Es ging hauptsächlich um ihr persönliches, propagandistisch auszuschlachtendes Schicksal, an dem der „Verrat“ der Mehrheitssozialdemokratie während der Novemberrevolution 1918 demonstriert werden konnte. Da bei der Ermordung von Liebknecht und Luxemburg durch die Garde-Kavallerie-Schützen-Division der Volksbeauftragte für Militär und Marine, Gustav Noske, eine zwielichtige Rolle gespielt hatte, zimmerte die KPD ihre Version einer „Dolchstoßlegende“.

Thälmann kommt

In der frühen DDR gewann das Opferschicksal des im KZ Buchenwald ermordeten KPD-Führers Ernst Thälmann für die Erinnerungspolitik der SED zeitweise eine noch größere Bedeutung als das Liebknecht-Luxemburg-Gedenken. Dieses schlug vom einst „revolutionär-mobilisierenden Mythos“ in eine platte Affirmation der SED um. „Die Sakralisierung der Partei bildete den eigentlichen Kern der Märtyrerverehrung.“3, so die Historikerin Barbara Könczöl.

Rosa Luxemburgs Werk stand auf dem Index der moskautreuen SED. Der Grund: Während der Haft in den letzten beiden Jahren des Ersten Weltkriegs hatte sie sich in ihrer Schrift über die „Die Russische Revolution“ von Lenins despotischem Konzept einer Parteidiktatur distanziert und – reichlich versponnen, aber später ruhmbildend – auf die revolutionäre Spontaneität der Massen vertraut. Zur späteren Kultparole geriet dabei ihre Feststellung „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.“4 Ulbricht, Pieck und die SED sahen in diesem Ansatz ihre angemaßte avantgardistische Rolle als „Partei neuen Typs“ in Frage gestellt. 

Karl vor Rosa

So ließ Ulbricht das Märtyrerpaar ideologisch spalten, indem er Karl Liebknecht zum nationalen Helden „im Kampf gegen Militarismus und Imperialismus“ küren ließ. Erst als Teile der 68er-Bewegung in der Bundesrepublik sich Rosa Luxemburgs Erbe wieder emphatisch annahmen und Universitäten nach ihr umbenennen wollten, sah sich die SED genötigt, anlässlich des 50. Jahrestags der Novemberrevolution 1968 auf ihre Deutungshoheit zu pochen.

Der in der DDR stets aufs Neue zelebrierte „Karl- und Rosa“-Kult stieß erst 1988 auf Widerstand, als Dissidenten wie Freya Klier, der Liedermacher Stefan Krawczyk, Bärbel Bohley und Wolfgang Templin für das gehisste Transparent mit der strikt verbotenen Kultparole „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“ von Stasi-Mitarbeitern vor Ort verhaftet wurden. Hinterher legte man ihnen erpresserisch das Verlassen der DDR nahe unter Androhung hoher Haftstrafen.   

Das ritualisierte Gedenken Anfang Januar hat bis heute das SED-Regime überlebt, nachdem der 8. Mai als „Tag der Befreiung vom Faschismus“ und der 7. Oktober als Gründungsdatum der DDR mit der Deutschen Einheit historisch ausgedient hatten. Doch der stets in frömmelnder Peinlichkeit vollführte Aufmarsch der Gysi & Modrow, Lafontaine & Wagenknecht hatte längst nichts mehr von einer beeindruckenden Kampfdemonstration. Eher glich er einer Trotzreaktion enttäuschter Alt-Linker, die wenigstens an diesem sozialistischen Feiertag ihres jämmerlich geendeten Staates festhalten wollten.

Die Gysi & Co. benutzten die Adaption des verlogen beanspruchten Erbes der Rosa Luxemburg, um sich von der SED abzugrenzen, ohne dabei deren historische Mission in Frage zu stellen. Beleidigte SED-Hinterbliebene sahen hernach in der Anbringung eines unweit platzierten Gedenksteins für die „Opfer des Stalinismus“ eine Schändung des alljährlichen Rituals bzw. eine zweite posthume Hinrichtung der Märtyrer.   

Rosa & Willy

Auch Linkssozialisten in der Sozialdemokratie stricken bis heute an der Legende von der »demokratischen Rosa« und versuchen seit dem Ende der DDR, den Postkommunisten das Erbe der tragischen Heldin streitig zu machen. Freilich ohne erkennbaren Erfolg, denn mit der Namensgebung der öffentlich subventionierten PDS-Parteistiftung in Rosa-Luxemburg-Stiftung schien der Erbfolgestreit entschieden. Dabei driftete der Rosa-Mythos unter linken Sozialdemokraten wie Peter von Oertzen, dem neomarxistischen SPD-Vordenker, phasenweise in kitschige Verklärung ab. Denn er einte allerlei Versäumniselegiker, Bewegungsromantiker und Verschwörungsideologen. So entstand die kühne Legende, wonach einer »luxemburgistisch« geprägten KPD in den zwanziger Jahren die Stalinisierung unter Ernst Thälmann wohl erspart geblieben wäre. Luxemburg-Biograf Ernst Piper widerspricht vehement: „Hätte sie damals in der Sowjetunion gelebt, hätte sie den Großen Terror gewiss nicht überlebt“5. Willy Brandt ging in seinen Lebenserinnerungen aus der Zeit des Spanischen Bürgerkriegs auf die posthume Idealisierung Rosa Luxemburgs ein: „Die wiederholte Frage `Was würde Rosa gesagt haben?` begann mir zum Hals herauszuhängen“6. Trotzdem versuchen sich immer noch Historiker aus diesem parteinahen Randmilieu an der posthumen Vermählung des frühen Willy mit der mittleren Rosa.

Mit der Huldigung der gefühlten Jahrhundertformulierung von der „Freiheit der Andersdenkenden“ hat die nicht-kommunistische Linke den historisch fatalen Irrtümern der begnadeten Rednerin mit ihrem Glauben an die Sendung der Massen stets eine Generalabsolution erteilt. Der SPD-Parteihistoriker Bernd Faulenbach glaubte gar in ihrer Formel von der „Freiheit der Andersdenkenden“ die Vision einer „vollendeten Demokratie“ erkennen zu können. Weit gefehlt, denn Rosa Luxemburg stand immer im Widerspruch zwischen einer positiven Würdigung von Demokratie, dem ersehnten »Hammerschlag der Revolution« und der propagierten Machtergreifung des Proletariats, „denn Diktatur des Proletariats, das ist Demokratie im sozialistischen Sinne.“7

Sahra statt Rosa

Ein postkommunistischer Treppenwitz, dass Sahra Wagenknecht mit der sozialen Entdeckung der „nationalen Frage“ – zum Beispiel aktuell beim Thema Migration – eher in der Tradition eines Karl Liebknecht als in jener der dezidierten Internationalistin Luxemburg zu verorten wäre. Dazu gehört, dass Wagenknecht in ihrer einst unverhohlenen Trauer um den Verlust des Unrechtstaates DDR als Mitstreiterin der „Kommunistischen Plattform“ in der PDS zahlreiche radikale Bekenntnisse abgelegt hat, in denen sie die anti-totalitäre Unterscheidung zwischen liberaler Demokratie und kommunistischer Diktatur wie der ganze Karl und die halbe Rosa als bürgerliche Schimäre verwarf.

Ebenso bewegt sich Wagenknechts Gleichgültigkeit gegenüber möglichen Wählern aus dem AfD-Spektrum in der Schleifspur ihrer SED-Vorfahren, die trotz aller antifaschistischen Schwüre und Kampagnen gegen die Bundesrepublik keine Skrupel hatten, sich bisweilen ebenso die loyalen Dienste ehemaliger NSDAP-Mitglieder zu sichern. Auch Wagenknechts Abrüstungsdiskurs deckt sich mit der einstigen SED-Propaganda, der alten Bundesrepublik Militarismus sowie der NATO und den USA Imperialismus zu unterstellen.

Aus diesem verblendeten Blickwinkel wird aus dem barbarischen Ukraine-Überfall ein verständlicher Präventivschlag gegen die vermeintliche Bedrohung aus dem US-dominierten Westen. Der aktuelle Aufruf zur traditionellen Demonstration am 14. Januar 2024 zum Friedrichsfelder Sozialistenfriedhof enthält jedenfalls keinen Satz, der nicht von Janine Wissler und Sahra Wagenknecht gemeinsam unterschrieben werden könnte. Warum also getrennt marschieren? 

Putin & Rosa 

Im Demonstrationsaufruf zum 105. Todestag – Titel: „Gegen Krieg und Krise! Für Frieden und Solidarität!“8 – heißt es zum Beispiel, dass ein „nukleares Inferno“ drohe, weshalb nicht etwa die russischen Bombardements auf die ukrainische Zivilbevölkerung und Infrastruktur sofort einzustellen seien, sondern die Waffenlieferungen der NATO-Staaten an die überfallene Ukraine. Die abwegige Rede vom „maßgeblich provozierten völkerrechtswidrigen Krieg Russlands gegen die Ukraine“ verwendet das Schuldumkehr-Narrativ, den barbarischen Überfall als Reaktion auf die „seit 2014 andauernden Angriffe der ukrainischen Armee auf die Ostukraine“ – will sagen: den Kampf gegen seine kriminellen Söldner – zu deuten.

Gleichzeitig sieht der Aufruf in der Aufrüstung der Bundeswehr ein „Erstarken des deutschen Militarismus“ und aufkeimende „Weltmachtambitionen“. Daneben wird – ganz im Sinne Wagenknechts – die steile Verschwörungsthese vertreten, dass die Waffenlieferungen wie die angeblich „völkerrechtswidrige Sanktionspolitik“ unsere Gesellschaft in Inflation und Armut getrieben hätten: „Dieser »Kanonen statt Butter«-Politik müssten wir einen Riegel vorschieben“9. Der Aufruf endet mit dem szeneüblichen antifaschistischen Appell, „das Vermächtnis von Rosa und Karl zu wahren: „Wir kämpfen gegen jeglichen Rassismus, gegen Antisemitismus, Antiziganismus und gegen Russophobie.“10 Mit dieser Parole gelingt den unverdrossenen Betreibern der traditionellen Kampfdemo der obszöne Propagandatrick, Wladimir Putin in die Opfergalerie der Geknechteten mit einzureihen.  

Norbert Seitz, geboren in Wiesbaden, Soziologe, Buchautor und freier Mitarbeiter des Deutschlandfunk.
norbert.seitz.fm@deutschlandradio.de

 

Quellen:

(1) Barbara Könczöl: Märtyrer des Sozialismus. Campus 2008.
(2) Zitiert nach Ernst Piper: Rosa Luxemburg. Ein Leben. Blessing, 2018.
(3) Könczöl, a.a.O.
(4) Rosa Luxemburg: Die Russische Revolution, in: Politische Schriften, hrsg. von Ossip K. Flechtheim. EVA 1975.
(5) Piper, a.a. O.
(6) Willy Brandt: Links und Frei. Mein Weg von 1930 bis 1950. Hoffmann & Campe 2012.
(7) Zitiert nach Manfred Scharrer: „Freiheit ist immer…“. Die Legende von Rosa & Karl. Transit 2002.
(8) Klaus Meinel: Gegen Krieg und Krise! Für Frieden und Solidarität! LL-Bündnis, Berlin Oktober 2023.
(9) ebd.
(10) ebd.

 

 

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