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Kinder, Jugendliche und ihre Familien brauchen mehr Beachtung

Konsequenzen aus zwei Studien über die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen in der Coronakrise

Die Corona-Pandemie zwang die Politik, kurzfristig die Prioritäten neu zu ordnen. Nach über einem Jahr hat sich der Blick geweitet und es wird mehr auf die intellektuelle und emotionale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen geachtet. Die Katholische Elternschaft Deutschlands e.V. (KED) hat in zwei Studien jeweils etwa 10.000 Eltern, Schüler und Lehrer in ganz Deutschland gefragt, wie sie die Schulschließungen in den beiden Lockdowns erlebt haben.

Die Erfahrungen aus der Corona-Pandemie zwingen die Politik, ihre Prioritäten neu zu ordnen und offenkundig gewordene Versäumnisse aufzuholen. Zu Beginn der Pandemie standen drei Ziele im Vordergrund: Vulnerable Gruppen mussten besonders geschützt, die Kapazitäten der Intensivmedizin möglichst geschont und Schlüsselindustrien produktionsfähig erhalten werden. Diese Priorisierung war richtig, und doch wurde einer zentralen Zukunftsfrage unserer Gesellschaft zu wenig Beachtung geschenkt: den Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen. Dabei ging zunächst ein Aufschrei der Entrüstung durch die Republik, als der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, vermutlich in Erinnerung an seine Zeit als Kinder- und Jugendminister, in aller Vorsicht die sozialen Folgen für Kinder und ihre Familien ansprach. Bereits am 19. April 2020 sagte Armin Laschet: „Aufstieg durch Bildung war das Versprechen für mehr soziale Gerechtigkeit. Was bedeutet es, Schülern wochenlang den Schulbesuch zu verweigern? Zur schwierigen Abwägung gehört es auch, über soziale Folgen und Verlierer des Lockdown zu sprechen“

Inzwischen hat sich der Blick geweitet: Wir sehen heute sehr viel klarer als vor einem Jahr, wie einschneidend es für die intellektuelle und emotionale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist, wenn sie über lange Zeiträume nicht mit Gleichaltrigen zusammen lernen. Die Diagnosen und Warnungen von Kinderärzten und Psychologen sind nicht mehr zu überhören. Inzwischen liegen empirische Befunde vor, die in diese Richtung weisen. So hat die Katholische Elternschaft Deutschlands e.V. (KED) 2020 und 2021 in zwei Studien jeweils etwa 10.000 Eltern, Schüler und Lehrer in ganz Deutschland online gefragt, wie sie die Schulschließungen in den beiden Lockdowns erlebt haben. Die große Bereitschaft, sich an den Umfragen zu beteiligen, ist ein Indikator dafür, dass wir ein drängendes gesellschaftliches und politisches Thema angesprochen haben.

 

Digitalisierung

Die größten Versäumnisse der Vergangenheit waren zu recht an der mangelnden Digitalisierung festzumachen. Das galt insbesondere für das Bildungssystem. Offenbar ist dort ein erheblicher Aufholprozess in Gang gekommen. Inzwischen muss der Fokus ein anderer sein: Der von der FDP im Bundestagswahlkampf 2017 proklamierte Slogan „Digital first. Bedenken second.“ war deshalb problematisch, weil er den Eindruck eines unreflektierten Aktivismus nach dem Motto „Erst mal machen, dann gucken“ vermittelte. Mit Blick auf die Schule implizierte er, Lernen würde sich mit zunehmender Digitalisierung im Selbstlauf verbessern. Um die Digitalisierung voranzubringen, wäre jedoch der Imperativ „Denken first.“ angezeigter gewesen. Lernen ist nicht nur ein kognitiver, sondern auch ein emotionaler Vorgang: Die Beziehung von Lehrendem und Lernendem und der Umgang mit Gleichaltrigen sind von entscheidender Bedeutung. Beide KED-Studien haben gezeigt, dass digitalisiertes Lernen persönliche Beziehungen nur sehr bedingt ermöglicht – und das gilt nicht nur während einer Pandemie. Das Miteinander von Kindern und Jugendlichen ist digital nicht zu ersetzen. So erklärten 85 Prozent der Schülerinnen und Schüler in der KED-Studie 2021, dass sie während des „Lernens zu Hause“ am meisten die Begegnung mit ihren Klassen- und Schulfreunden vermisst hätten.

Schule ist auch der Ort, an dem Kinder und Jugendliche lernen, mit digitalen Medien fachkundig, reflektiert und wertebewusst umzugehen. Auch hier gilt das Motto: „Denken first.“

Digitalisierung in der Schule verlangt von den Lehrkräften, sich auf neue technische und didaktische Methoden einzulassen. In der KED-Studie 2020 hatten viele Eltern nicht nur Ausstattungsmängel beklagt, sondern auch, dass die Lehrerinnen und Lehrer nur unzureichend auf die besonderen Anforderungen des Distanzunterrichts vorbereitet gewesen wären und jeder nach eigenem Gutdünken improvisiert hätte. Kritisiert wurde auch, dass es den Schulen an entsprechenden Konzepten fehlte – etwa einheitliche Lernplattformen und vergleichbare Standards bei Hausaufgabenüberprüfung und Leistungskontrollen. Die KED-Studie von 2021 hat hier Fortschritte festgestellt. Die technische Ausstattung habe sich verbessert, die Schulen verfügten über bessere Konzepte für den Distanzunterricht. Wenn es technische Probleme gäbe, dann seien sie meist in der öffentlichen Infrastruktur begründet: Vor allem fehle es an einem flächendeckenden schnellen Internet. Der flapsige Spruch, es könne „5G nicht an jeder Milchkanne“ geben, wurde von den Realitäten der Pandemie eingeholt.

 

Familien im Dauerstress

Beide KED-Studien haben aufgezeigt, dass der Unterrichtsausfall die Familien massiv belastet hat. Eltern mussten ganz oder teilweise im Homeoffice arbeiten und zugleich ihre Kinder betreuen. Es gab Eltern, die Angst um ihren Arbeitsplatz hatten, sich um ihre berufliche Zukunft sorgten oder in Kurzarbeit waren. Die seelische Belastung der Eltern übertrug sich auf die Kinder. Viele Familien hatten keinen Zugang zu einem Garten und mussten die Lockdownzeiten teils in engen Wohnungen ohne Balkon und ohne Spielplatz in der Nähe verbringen.

Der zweite Lockdown traf Eltern und Schüler noch härter als der erste, weil er länger dauerte und den Schülerinnen und Schülern mehr abverlangte. Während des ersten Lockdowns wurde im Wesentlichen bekannter Stoff wiederholt, im zweiten Lockdown wurden ging es vermehrt um neue Unterrichtsinhalte vermittelt, die sich die Schüler zum Teil selbst erarbeiten mussten. Dies geschah in Videokonferenzen und durch Hausaufgaben. Im Präsenzunterricht lassen sich Verständnisprobleme schnell im Gespräch mit dem Lehrer klären. Der Distanzunterricht offenbarte hier eine Lücke. Die Kinder wandten sich an ihre – fachlich oft überforderten – Eltern, fragten Klassenkameraden oder den nicht immer zuverlässigen „Dr. Google“. Eltern sahen sich mit einer Aufgabe konfrontiert, vor die sie in diesem Umfang noch nie gestellt waren. Die KED-Studie 2021 belegt deutlich, dass diese Konstellation häufig zu Stresssituationen in den Familien führte.

Mit ihren Umfragen von 2020 und 2021 hat die KED vor allem Familien erreicht, in denen man ein gutes Bildungsniveau und eine auskömmliche wirtschaftliche Situation voraussetzen darf. Wenn schon diese Familien von großen Problemen berichten, dann liegt es auf der Hand, dass bildungsferne und sozial schwache Elternhäuser durch den Distanzunterricht vor fast unlösbare Aufgaben gestellt waren. Noch schwerer haben es Zuwandererfamilien, in denen die deutsche Sprache nicht – oder nur unzureichend – gesprochen und geschrieben wird. Für diese Eltern ist es sehr belastend, sich ihren Kindern gegenüber als hilflos zu erleben. Es gibt Kinder mit wenig Sprachkenntnissen, die im Lockdown regelrecht verstummt sind. Für sie wird es besonders schwer, wenn die Lerndefizite aufgeholt werden müssen. Hier sind Gefahrenherde für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft entstanden.

 

Kinder vereinsamen

In ihrer Studie 2021 fragte die KED Schüler und Eltern, wie sich das seelische Befinden der Schüler während des Corona-Jahres 2020/21 verändert habe. Die Ergebnisse unterstreichen, was viele Kinderärzte und Psychologen berichten. Über 40 Prozent sowohl der Schüler als auch der Eltern geben an, das seelische Befinden der Kinder und Jugendlichen habe sich verschlechtert.

Die KED-Studie 2021 konkretisierte die Frage nach dem seelischen Befinden der Schülerinnen und Schüler. Die Ergebnisse müssen für die Politik ein Weckruf sein: Körperliche Beschwerden wie Bauch- oder Kopfschmerzen wurden ebenso genannt wie Ängste, schlechte Laune, Gereiztheit und Schlaflosigkeit. Die Tatsache, dass die Kinder- und Jugendpsychologen auf Monate ausgebucht sind, spricht Bände. Eltern, Lehrer und die jungen Menschen selbst beklagen, dass die die körperliche Fitness abgenommen habe – durch zu viel Essen und zu wenig Bewegung.

Schulen sind nicht nur Räume der Wissensvermittlung, sie sind Sozialräume, die auch ein als positiv empfundenes Familienleben nicht ersetzen kann. Kinder vermissen Kinder – und sie vermissen ihre Lehrerinnen und Lehrer. Der alte Grundsatz, dass Bildung Beziehungen braucht, bestätigt sich einmal mehr. Der Austausch, das Miteinanderlernen, das Nachfragen-stellen-Können und die vielen Aktivitäten, die einen lebendigen Schulalltag ausmachen, waren auf einmal nicht mehr möglich. Während in der KED-Studie 2020 noch vermehrt Videokonferenzen gefordert wurden, um sich wenigstens auf dem Bildschirm sehen zu können, gab es im zweiten Lockdown so viele digitale Unterrichtsstunden, dass alle Beteiligten nur zu gern Computer oder Tablet gegen eine leibhaftige Begegnung ausgetauscht hätten. Noch nie haben sich so viele junge Menschen darauf gefreut, wieder in die Schule gehen zu dürfen.

 

Ein Blick in die Zukunft

Die KED Studie 2021 hat sich auch damit befasst, wie sich die beiden Lockdowns aus Sicht von Eltern, Schülern und Lehrern auf die Lebenschancen junger Menschen auswirken. Es geht im Wesentlichen um die Frage, ob die im Coronajahr 2020/21 entstandenen Defizite aufgeholt werden können. Etwa 55 Prozent der Schülerinnen und Schüler aus den Klassen 8 bis 12 bezweifeln oder glauben nicht, dass ihnen das gelingen wird. Eltern äußern sich optimistischer: 51 Prozent sind sich sicher oder ziemlich sicher, dass es möglich ist. Von den Lehrkräften sind 68 Prozent sicher oder ziemlich sicher, dass es den Schülern gelingen werde, alles oder zumindest das meiste aufzuholen.

Ob man die Lage mehr pessimistisch oder optimistisch einschätzt, sei dahingestellt: Wie wir den Auswirkungen der Pandemie auf die junge Generation begegnen, ist für die Zukunft unseres Landes genauso entscheidend wie die heute im Vordergrund stehenden klima-, wirtschafts- und gesundheitspolitischen Themen. Corona schärft unseren Sinn für das Gebot der Generationengerechtigkeit und für die Gefahr einer Spaltung unserer Gesellschaft. Politik für Kinder, Jugendliche und Familien ist kein Randthema (oder „Gedöns“, wie der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder zu sagen pflegte), sondern der Schlüssel zu einer guten Zukunft. Kindeswohl und Bildungsgerechtigkeit müssen noch viel stärker als bisher Wertmaßstab guter Politik sein.

Und wir müssen aufhören, Politik für Familien, Kinder und Jugendliche von der Bildungspolitik getrennt zu sehen. Sie sind, wie die Pandemie klar gezeigt hat, zwei Seiten einer Medaille.

 

privat
Marie-Theres Kastner (geb. 1950 in Recklinghausen), Bundesvorsitzende der Katholischen Elternschaft Deutschlands (KED), 2000 – 2010 Mitglied des Landtages NRW, dort u.a. Sprecherin für Kinder- Jugend- und Familienfragen.

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