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Die Statistik verzeichnet über 10.000 „Corona-Gestorbene“ in Deutschland

Seit dem 23. Oktober 2020 verzeichnen wir in Deutschland über 10.000 "Corona-Gestorbene". Wie muss es auf Menschen wirken, die einen Menschen verloren haben, wenn es dann heißt: „Wir sind bislang in Deutschland ‚erstaunlich gut‘ oder gar ‚super‘ durch die Krise gekommen“? Und kann ein Staat Menschen in ihrer Trauer helfen?

Die Myriade ist tief in das kulturelle Gedächtnis der Menschheit eingelagert. 10.000 ist in der Bibel die Zahl der Engelmächte (Off. 5,11), war eine heilige Zahl bei den Maya. In Lenthe befindet sich eine Kirche, die 10.000 heiligen Rittern geweiht ist. In ganz anderer Weise steht die Zahl 10.000 dieser Tage im Raum – unheilvoll, als bittere Tatsache. Rascher als gedacht, muss Deutschland seit dem 23. Oktober 2020 über 10.000 Tote beklagen. Sie sind seit Beginn der Corona-Pandemie an den Folgen einer Covid-19-Infektion gestorben.

 

10.000, diese Zahl führt vor Augen: Die Corona-Pandemie durchkreuzt Lebensentwürfe, von vielen Individuen, aber auch unserer Gesellschaft. Da hatte der Hoffnungsschimmer des Sommers und die für den Herbst angekündigte Verordnungslandschaft „Lockerung“ verheißen. Nicht nur das ist nun passé.

 

Bereits Anfang September haben Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundesminister Jens Spahn angeregt, eine offizielle Trauerveranstaltung zum Gedenken an die Toten der Corona-Pandemie in Deutschland auszurichten. „Der Corona-Tod ist ein einsamer Tod“, sagte der Bundespräsident, und ergänzte: „Wir müssen den Menschen in ihrer Trauer helfen – und darüber nachdenken, wie wir unser Mitgefühl ausdrücken könnten“.

 

Kann ein Staat Menschen in ihrer Trauer helfen? Liegt es nicht in der Natur der Sache, dass angesichts des Todes alle staatliche Hilfe zu spät kommt? Unbestreitbar zählt zum Reichtum unseres Staates, über engagierte Kräfte der Hilfe, über ökonomische Mittel zu verfügen, die Krankheit einzudämmen, Kranken zu helfen ­­– auf dass sie wieder gesund werden. Das ist ein Grund zur Dankbarkeit. Aber angesichts des Todes darf der Staat bei allem Gestaltungsreichtum seine essenzielle Armut eingestehen. In der Konfrontation mit dem Tod ist selbst der Staat schwach: ein Grund zur Demut.

 

Mitgefühl auszudrücken, das steht dem Staat, einem Land allerdings an. Dafür bedarf es empathischer Staatsdienerinnen und -diener, die sich auf die Kunst des Schweigens, berührender Gesten und einer Sprache jenseits von Pathos verstehen: „Ja, wir sehen sie, all die Gestorbenen, wir sehen Euch, die Angehörigen.“ Es ist hohe Zeit für diese Kunst, die angesichts von über 10.000 Gestorbenen aber schwer einzulösen ist.

 

Denn wer erzählt die vielen Einzelbiographien? Kaum jemand spricht darüber, wie hart gelitten und gestorben wurde. Der Corona-Tod blieb für die meisten diskret, trat öffentlich hauptsächlich in Statistiken zutage. Solche Zahlen haben ihr eigenes Gewicht und ihre Bedeutung, vor allem für jene, die sich damit politisch und gesellschaftlich befassen müssen. Aber als „nackte Zahlen“ haben sie auch etwas Erbärmliches, für echtes Mitgefühl sind sie nicht erreichbar, überfordern den Empathiehaushalt von Menschen. Die meisten der „Corona-Gestorbenen“ blieben verborgen Gestorbene – und das ist Segen und Fluch in einem. Einerseits gibt es einen Segen der Diskretion, als Einzelschicksal nicht für mahnende Lerneffekte herhalten zu müssen. Der Fluch der Diskretion liegt andererseits darin, dass das anonym bleibende Einzelschicksal von jenen, die es nicht persönlich betrifft, allzu leicht ausgehalten werden kann. Nackte Zahlen lassen sich in ein Verhältnis setzen, in eine Abwägung zwischen Leben und Leben, zwischen aufs Spiel zu setzenden elementaren Lebensperspektiven und Lebensperspektiven, die „gesamtgesellschaftlich“ nicht verstellt werden dürfen.

 

Das Virus hat viele alte und sehr alte Menschen zu Tode gebracht. Vor allem zu Beginn der Corona-Krise wurde nicht nur in den Pflegeheimen einsamer als sonst gestorben. In keinem Fall darf übersehen werden, was Pflegekräfte und ärztliches Personal in dieser Situation zusätzlich geleistet haben. Mitmenschlichkeit gab es auch da, wo die Angehörigen fernbleiben mussten. Allerdings: Die elementare Geste, als Angehörige dem sterbenden Menschen die Hand zu halten, der Austausch, was dem Sterbenden auf dem Herzen liegt, die vertraute Stimme zu hören, blieben aus. Schwer auszuhalten ist der Gedanke, was es für verwirrte Menschen hieß, die die Orientierung auf dem Weg in den Tod vollends verloren hatten. Manchmal geriet die seelsorgerliche Begleitung in eine Lage, die unerträglich war. Die Aufgabe blieb, Menschen zur Seite zu stehen. Aber sie wurde nicht immer eingelöst, weil die Gefahr bestand, ungeahnt infiziert zum Todesengel für eine Familie oder eine ganze Einrichtung zu werden.

 

Der Tod hat auch junge Menschen getroffen. Es fuhr den Nachbarinnen und Nachbarn in die Glieder, dass ein kaum 40-jähriger Familienvater starb. Die Risiken sind zwar unterschiedlich verteilt, doch wird von Tag zu Tag deutlicher: Es kann jede und jeden treffen. Über die damit verbundene Angst, deren Bewältigung und abwegige Form ihrer Verdrängung auch in Gestalt von Corona-Partys stattfindet, wird viel gesprochen. Dieser Tage zeigt sie sich auch in der Neigung, Freunden um den Hals zu fallen, in der vermeintlichen Sicherheit, sich selbst als „Risikofaktor“ und Risikofaktoren recht gut einschätzen zu können.

 

Es geht kein Weg daran vorbei: Das Virus hat – auch ohne über die beklemmenden sozialen Erfahrungen, die vor allem Frauen und Kinder in prekärem Umfeld erleben mussten, zu sprechen – über 10.000 Mal Leben angetastet und zerstört. Da gibt es in einem Land, das die unantastbare Würde hochachtet, nichts zu beschönigen. Wer sein physisches Leben verliert, kann es hier und jetzt nicht wiedergewinnen. Das mahnt zur Vorsicht im Ton und in der Sache. Denn die private und öffentliche Rede von der Krise und dem Umgang mit der Krise muss sich an den Toten und ihren Angehörigen bewähren.

 

Wie muss es auf Menschen wirken, die einen Menschen verloren haben, wenn es heißt: „Wir sind bislang in Deutschland ‚erstaunlich gut‘ oder gar ‚super‘ durch die Krise gekommen“? Wie muss es sich anhören für Menschen, die ohne Partner, Vater, Mutter oder Kind weiterleben müssen, wenn Gruppierungen oder ignorante Persönlichkeiten behaupten, das Virus sei nicht so schlimm, in etwa so „harmlos“ wie ein Grippevirus?

 

Die Toten erinnern uns daran, dass Menschen Krisen eigentlich nicht „bewältigen“ können. Die Art von Krise konfrontiert uns in aller Härte mit der Endlichkeit des menschlichen Lebens, aber auch mit der Endlichkeit staatlicher Kräfte, für das Dasein ihrer Bürgerinnen und Bürger Vorsorge tragen zu können. Dass weltweit über eine Million Menschen – am 24. Oktober waren es 1.145.070 gemeldete Fälle – zu Tode gekommen sind und es also noch schlimmer kommen könnte, kann also kein Grund sein, zu glauben, im Herzen von Europa werde die Krise immerhin noch „bewältigt“.

 

Umso mehr empfiehlt sich äußerste Sparsamkeit im Umgang mit der Rede von der Chance, von der redlich nur hinter einem stählernen Paravent jenseits der Toten und Leidenden der Krise gesprochen werden kann. Das Virus ist ein Lebensgegner und kein Glücksbringer für bislang verpasste Gelegenheiten dringend anstehender Reformen. Dennoch zwingt es zum Umdenken, nötigt zum Verzicht, um schlimmere Verluste zu verhindern. Vor allem aber muss klar werden: Nicht durch das Virus, sondern durch uns selbst, durch unsere humane Ausstattung und kulturelle Prägung sind wir Menschen in unserer Mitmenschlichkeit aufgefordert, klugen Verzicht zu leisten, mit Augenmaß für das uns verliehene Leben, über das wir immer nur bedingt verfügen können. Es wäre kein gutes Zeichen, wenn dafür die Krise als Lehrmeisterin herbeizitiert werden muss, um Menschen vom Machbarkeitswahn zu befreien und auf das endliche Maß des Menschlichen existenziell aufmerksam zu machen.

 

Deutschland hat über eine Myriade Gestorbener zu beklagen. Über 10.000 Tote sind ein symbolisches Signal, mit einem Gedenken nicht mehr lange zu warten. Den richtigen Zeitpunkt zu finden, ist freilich schwierig. Denn den 10.000 Toten, das ist leider zu befürchten, werden weitere folgen. Ein Gedenktag auch für die Tode, die unweigerlich noch gestorben werden, ist ein heikles Unterfangen.

 

Ohne Zweifel aber steht eine offizielle Trauer zum Gedenken an die Toten der Corona-Pandemie zu Gebote. Sie kann einfach nicht warten, bis die Krise irgendwann einmal überstanden ist. Die Frage ist aber, ob überhaupt und wenn ja, dann wie, die offizielle Trauer in einer Veranstaltung Gestalt annehmen soll? Soll in eine solche Veranstaltung Musik erklingen und der infektionsbiologisch so kritisch beäugte Gesang? Werden Reden gehalten? Das allein kann es nicht sein. Was auf keinen Fall fehlen dürfte, ist dies: eine Form – fast klingt es altmodisch – der öffentlichen Klage, ein starkes Ritual der Trauer und Zuwendung. Wie aber gelingt dies?

 

Vielleicht empfiehlt es sich, der offiziellen Trauer eine Gestalt im Umfeld jener Gedenktage zu geben, die die christlichen Kirchen begehen und die nun bevorstehen: Allerseelen, Allerheiligen, Totensonntag. Womöglich sind zivilgesellschaftliche Organisationen und Institutionen dem Staat in Fragen des Totengedenkens überlegen und können ihm so beistehen, ganz einfach deshalb, weil sie über sich und über die (politische) Praxis hinausweisen können. Die Stärke vieler Religionen liegt darin, dass die Klage nicht ins Leere geht, sondern einen klaren Adressaten hat, Gott nämlich. „Sammle meine Tränen in deinen Krug; ohne Zweifel, du zählst sie“, heißt es in einem Psalm (Ps. 56,9). Über die Klage hinaus werden Kerzen angezündet, auf den Gräbern, in den Kirchen im Gedenken an die Toten. Sie sind Zeichen der Hoffnung und gemeinsamer Protest gegen den Tod. Der christliche Glaube ist so verwegen, seine Totenklage an einen Gott zu richten, der der grausamen Sinnlosigkeit des Todes einen Strich durch die Rechnung gemacht hat, indem er sich selbst dem Tod aussetzte, um dessen Macht von innen heraus auszuhöhlen. Der evangelische Pfarrer Jochen Klepper, der am Ende seines Lebens nicht mehr ein noch aus wusste, zehrte davon und fasste es in einem seiner Gedichte so: „Der Du allein der Ewige heißt und Anfang, Ziel und Mitte weißt im Fluge unserer Zeiten, bleib Du uns gnädig zugewandt und führe uns an Deiner Hand, damit wir sicher schreiten.“ Ein Satz, in diesen Tagen täglich zu lesen, für jene in Politik und Gesellschaft, die versuchen, mit Gründen auf Gott zu vertrauen.

 

Stephan Schaede, geboren 1963 in Neuwied, Theologe, seit 2010 Direktor der Evangelischen Akademie Loccum, Mitglied des Kuratoriums der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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