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Soziale Medien während des russisch-ukrainischen Krieges

Die Botschaft verstärken

Warum Postings in den sozialen Medien den Zusammenhalt im Land stärken, wie Familien mit ihren Liebsten an der Front in Verbindung bleiben? Und welche maßgebliche Rolle die digitalbasierte Aufklärung spielt?

Artikel anhören! Gelesen von Kristin Wesemann

Der russisch-ukrainische Krieg brach 2023 mit altbewährten militärischen Paradigmen und stellte etablierte Lehrbuch-Weisheiten in Frage. Die ukrainischen Hoffnungen auf eine rasche Gegenoffensive im Frühjahr und Sommer 2023 beruhten auf dem weit verbreiteten Glauben an die Überlegenheit schwerer Waffen und an den Frontalangriff auf feindliche Stellungen, wie sie die Ukrainer bei der Befreiung der Regionen Charkiw und Cherson im Jahr 2022 erfolgreich praktiziert hatten.

Mangels Luftunterstützung und angesichts der Verwundbarkeit auch moderner westlicher Ausrüstung durch russische Drohnen, Landminen und Artillerie verlangsamte sich die Gegenoffensive und entwickelte sich während der Wintermonate zu einem Stellungskrieg.

Erfolgreiche Kriegsführung beginnt auf dem Schlachtfeld, doch die Wahrnehmung erfolgreicher Schlachten ist auf eine kompetente Medienberichterstattung angewiesen. Und die kommt nicht allein aus dem Nachrichtenstudio: Dafür braucht es Soldaten, Militäreinheiten, Armeesprecher, Blogger und OSINT-Experten. Es braucht Menschen, die Informationen, Berichte und Rohmaterial auf unterschiedlichsten Kanälen verbreiten – nicht zuletzt in den sozialen Medien.

Ukrainische Soldaten nutzen meist TikTok, YouTube oder Facebook, wenn sie sich von der Front melden. Der Großteil der Berichterstattung erfolgt allerdings über offizielle Kanäle, in denen man sich an die von der ukrainischen Regierung erlassene Vorschrift hält, während des Krieges, „mit nur einer Stimme zu sprechen“. Es wäre allerdings seitens der Regierung auch nicht zu leisten, die Konten in den sozialen Medien zu überwachen – allein in den ukrainischen Streitkräften dienen 850.000 Menschen. Und glaubwürdige Berichte aus erster Hand zeigen nun mal, wie es wirklich an der Front aussieht. Anzumerken ist, dass die ukrainische Regierung keine Kriegszensur eingeführt hat. Man versucht, die Freiheit der Medien aufrecht zu erhalten. Prominentester Sprecher des ukrainischen Freiheitskampfes ist Präsident Zelenskyi, der bei seinen Landsleuten, aber auch außerhalb der Ukraine sehr viel Zuspruch erfährt.

Ukrainische Militärangehörige kämpfen an der Front nicht nur. Sie nehmen sich auch immer wieder die Zeit und gewähren Einblicke in die harten Realitäten des Krieges. Oleg Sentsov, ein bekannter ukrainischer Filmemacher und Soldat der 47. Mechanisierten Brigade, teilt auf Facebook Videos und Geschichten aus den Schützengräben in der Region Donezk. Ausländische Journalisten wurden auf ihn aufmerksam, und seine Posts wurden ihnen zu einer verlässlichen Informationsquelle.

Die Beiträge von Sentsov und anderen sind wichtig, dokumentieren sie doch den Krieg aus Sicht all der begabten jungen Ukrainer, die sich der Armee angeschlossen haben. Oleg Sentsov ist in den vergangenen zwei Jahren mehrmals verwundet worden, hat sich aber immer wieder zum Dienst an der Front gemeldet.

TikTok

In den ersten Monaten nach dem Einmarsch der Russen traten Hunderttausende Zivilisten in die ukrainische Armee ein. Viele von ihnen waren vor dem Krieg in den sozialen Medien aktiv und nutzen die Plattformen nun, um mit Familie und Freunden in Kontakt zu bleiben, sich durch Teilen der Nachrichten auf dem Laufenden zu halten und am sozialen und politischen Leben in der Ukraine teilzuhaben – es gibt ihnen das Gefühl von Normalität, so wie sie sie vor der Invasion kannten. Posts von der Front sind für Militärangehörige äußerst riskant. Die ukrainischen Soldaten sind sich der Gefahren, insbesondere durch Geolokalisierung, sehr bewusst. Als Vorsichtsmaßnahme, auch um ihre Positionen nicht preiszugeben, wird das Bildmaterial grundsätzlich weichgezeichnet. Die Ukrainer haben ihre Lektion gelernt, dauert der Konflikt doch inzwischen schon zehn Jahre an. Ohne permanente Präsenz in den sozialen Medien geht es nicht: Nur so können die Soldaten ihre Angehörigen über ihr Wohlergehen auf dem Laufenden halten. Schwillt die Zahl der Kommentare plötzlich an, dann nicht selten wegen des Todes eines Soldaten. So wie der des ukrainischen Dichters Maksym Kryvtsov. Er postete am 6. Januar ein letztes Mal. Am 7. Januar 2024 starb er an der Front.

Facebook | Mit Genehmigung des Urhebers
Maksym Kryvtsov, gefallen am 7. Januar 2024.

Die sozialen Medien sind für Familien vermisster Soldaten oft der letzte Strohhalm. Da das Militär nicht immer über vollständige Informationen zu jeder Person verfügt oder Angehörige sich nicht nur auf offizielle Kanäle verlassen wollen, wenden sie sich in ihrer Verzweiflung oft über soziale Medien an die Öffentlichkeit und bitten um Hilfe oder Hinweise. Etwa über die Facebook-Gruppe "Suche nach Vermissten während des Krieges": Ihr gehören fast 500.000 Nutzer an. Entgegen der Regierungspolitik, Verluste der ukrainischen Armee unter Verschluss zu halten, decken Online-Communities oft das eigentliche Ausmaß und die genauen Standorte großer Schlachten auf und beziffern die Verluste beider Seiten.

Seit Beginn der Invasion im Februar 2022 haben ukrainische Militäreinheiten, und vor allem die Vertragssoldaten, ihre Präsenz in den sozialen Medien eigeninitiativ ausgebaut. Die Militärführung setzt vor allem auf filmische Inhalte, wenn sie neue Soldaten rekrutiert, um Unterstützung wirbt oder die Tapferkeit der eigenen Truppen würdigt. Prominentestes Beispiel ist die 3. Angriffsbrigade: Ihr YouTube-Kanal hat 890.000 Abonnenten und ihre Videos wurden mehr als 230 Millionen Mal abgerufen. Ihr populärstes Video aus dem Frühjahr 2023 zeigt die Erstürmung eines Schützengrabens mit Wagner-Kämpfern bei Bachmut. Es wurde fast acht Millionen Mal geklickt.

Die 3. Angriffsbrigade postet meist Aufnahmen direkt von der Front und von Kampfhandlugen in Echtzeit. Oft geben sie Einblicke in die Dynamik und die Taktik der Kämpfe gegen die russische Armee.

Das ukrainische Militär ist bestrebt, die Öffentlichkeit und die internationale Gemeinschaft in der Wahrnehmung der russischen Aggression zu sensibilisieren. Um in den sozialen Medien Reichweite zu erzielen, beziehen sie ihre Inhalte exklusiv von der Front. So folgen dem Generalstab der ukrainischen Streitkräfte auf Facebook mehr als eine Million Menschen und den Bodentruppen fast 850.000. Wie schon erwähnt, hat die ukrainische Regierung entschieden, die eigenen Verluste nicht zu veröffentlichen und nur über die der Russen zu berichten. Die Mehrzahl der im Internet verbreiteten Inhalte hat einen zuversichtlichen Grundton und betont das kollektive Heldentum im Kampf gegen die russischen Invasoren.

Die Videos, die man auf Social Media zu sehen bekommt, ähneln nicht selten Hollywood-Actionfilmen, allerdings in Echtzeit. Der einzige Unterschied: In diesen Filmen sind auch die Opfer echt. Die Filme wurden immer extremer, auch damit die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nicht abflaut. Gedreht werden sie zumeist mit sogenannten FPV-Drohnen. FPV steht für „First Person View“. Das Echtzeitbild der Drohnenkamera wird in eine Videobrille übertragen. Ursprünglich vom ukrainischen Militär entwickelt, haben die russischen Streitkräften sie schnell kopiert. Inzwischen werden sie in Russland industriell produziert. In der gegenwärtigen Phase des Konflikts, in der keine groß angelegten Bodenoffensiven durchgeführt werden, nutzen beide Seiten sie für strategische Angriffe.

Die militärische Effektivität dieser Drohnen hat in der Ukraine große Begeisterung ausgelöst und Tausende von Freiwilligen dazu veranlasst, landesweit Spenden für den Erwerb von FPV-Drohnen zu sammeln. Inzwischen stellen sogar Kommunen Mittel zum Drohnenkauf zur Verfügung. Kolomiya, eine Stadt mit 60.000 Einwohnern, 600 Kilometer von der Front entfernt, hatte sich verpflichtet, bis November 2023 500 FPV-Drohnen zu kaufen. Im Dezember 2023 hatte die Stadtverwaltung 450 von ihnen an die ukrainische Armee geliefert.

Die Ukraine ist auf die Unterstützung des "kollektiven Westens" angewiesen, sowohl in finanzieller als auch in militärischer Hinsicht – einschließlich der Lieferung schwerer Waffen. Und zugleich ist sie mit dem riesigen militärisch-industriellen Komplex Russlands konfrontiert und einem nachgerade gigantischen russischen Militärhaushalt für 2024. Auch deshalb ist der Ukraine die Ausweitung der internationalen Sanktionen gegen Russland so wichtig. Und die Ukrainer sind fest entschlossen, Russland für die Kriegsverbrechen, die es begangen hat, zur Rechenschaft zu ziehen.

In dieser Gemengelage betreibt die ukrainische Regierung "Twitter-Diplomatie" und bedient sich der unterschiedlichsten Kanäle, um ihre Zielgruppen zu erreichen. Präsident Zelenskyi, der schon während des Präsidentschaftswahlkampfs 2019 die sozialen Medien virtuos dafür genutzt hat, Wähler zu mobilisieren, setzt auch seit Kriegsbeginn auf diese Strategie. Es ist seither kein Tag vergangen, an dem er sich nicht mit Videobotschaften an das ukrainische Volk gewendet hat. Seine Botschaften werden über das Fernsehen, aber auch über Telegram, Twitter und Facebook verbreitet.

Das Fernsehen ist laut einer Umfrage von USAID/Internews nicht mehr die beliebteste Nachrichtenquelle für die Ukrainer. Die Mehrheit der erwachsenen Ukrainer – 76 Prozent – informiert sich in den sozialen Medien. Der dramatische Wandel im Nutzungsverhalten der Medien hat Analysten und politische Akteure aufgeschreckt, zugleich aber auch dazu geführt, dass die sozialen Medien immer wichtiger werden, wenn es darum geht, strategische Ziele zu erreichen. Über diese Kanäle bemüht man sich, die Legitimität der Regierung zu stärken und wirbt in der Bevölkerung um Unterstützung im Kampf gegen die russische Invasion. Dazu gehören auch die mediale Begleitung der Mobilisierung und die Berichterstattung über russische Verluste.

Der Krieg hat der Messaging Plattform Telegram zu ungeahntem Erfolg verholfen. Ihre Beliebtheitswerte bei den Ukrainern liegen bei sagenhaften 72 Prozent. Und obwohl Telegram weithin als ein von Russland kontrollierter Messenger gilt, der erhebliche Cybersicherheitsrisiken birgt, wird er auch von der ukrainische Regierung ausgiebig genutzt: Sie verbreitet über ihn Nachrichten und sammelt mit Telegram-Bots, die vom ukrainischen Geheimdienst betrieben werden, Informationen über Einsätze der russischen Armee.

Die russischen Geheimdienste ihrerseits nutzen Telegram, um die Verteidigungsbemühungen der Ukrainer zu untergraben. Über Telegram rekrutieren sie unter prorussischen Ukrainern Kollaborateure und versuchen, an Informationen über militärische Ziele zu gelangen. Im Oktober 2023 tötete eine russische Iskander-Rakete im Dorf Groza in der Region Charkiw 59 Zivilisten. Sie waren in ihr Dorf zurückgekehrt, um einen ukrainischen Soldaten zu betrauern. Man vermutet, dass die Informanten zwei Brüder waren, ehemalige Dorfbewohner, die mit den russischen Streitkräften kollaborierten.

Im Krieg in der Ukraine spielen OSINT-Techniken eine nicht zu unterschätzende Rolle: um Beweise gegen Kriegsverbrechen zu sammeln, Einsatzorte des russischen Militärs aufzudecken oder Verluste – an Ausrüstung oder militärischem Personal – auszumachen. Bis zum 6. Januar 2024 wurden in der Ukraine 3373 russische Offiziere getötet: Daten, die das von Tschechien aus agierende OSINT-Projekt „Killed in Ukraine“ gesammelt hat. Die Analysten kontrollieren Tag für Tag offene russische Quellen: Traueranzeigen, Nachrichten, Denkmäler und Gedenktafeln, und identifizieren so russische Offiziere, die in der Ukraine getötet wurden.

Da die Informationen von lokalen russischen Nachrichtensendern stammen oder aus anderen russischen Quellen, oft mit dem Vermerk „Nur für den internen Gebrauch“ versehen, müssen sie besonders sorgfältig geprüft werden. OSINT-Experten verfügen über das Handwerkszeug, große Datenmengen von Sozial-Media-Plattformen, aus Foren oder von Nachrichtenwebsites zu sammeln, zu verarbeiten und zu analysieren.

Die OSINT-Community, die sich mit der Ukraine befasst, ist seit 2014, seit Beginn des Krieges mit Russland, stark gewachsen. Als im Juli 2014 ein malaysisches Flugzeug mit 298 Zivilisten an Bord von aus Russland eingeschleusten, angeblichen Separatisten abgeschossen wurde, waren es vornehmlich OSINT-Analysten, vor allem von Bellingcat, die die Wahrheit ans Licht gebracht haben. Auch wenn es mehr als ein Jahr dauerte, bis die offizielle Untersuchung bestätigte, dass das Flugzeug von einer russischen Rakete abgeschossen worden war, die man dafür eigens aus Russland an den Abschussort gebracht hatte.

Die OSINT-Gemeinschaft befasst sich auch mit den russischen Kriegsverbrechen, sind ihnen doch eine alarmierende Zahl ziviler Opfer geschuldet. Die anhaltenden Bombardierungen haben der zivilen Infrastruktur schweren Schaden zugefügt. Am 14. Januar 2023 feuerte Russland eine ballistische Rakete ab, die in einem Wohnhaus in Dnipro, 200 km von der Frontlinie entfernt, einschlug. 72 Häuser wurden vollständig zerstört, 36 Zivilisten kamen ums Leben. Innerhalb von zwei Tagen identifizierte die OSINT-Community Molfar 44 russische Militärangehörige, die für den Anschlag verantwortlich waren.

DeepState - OpenStreetMaps

Das in der Ukraine wichtigste OSINT-Projekt im Zusammenhang mit dem Krieg ist DeepState. 2020 gestartet, erlangte es seit Kriegsbeginn mit seiner Karte DeepStateMap.live Berühmtheit – einer Echtzeitkarte der Frontlinie, die täglich aktualisiert wird. Schon vor der russischen Invasion im Februar 2022 verfolgte das DeepState-Team den Transport russischer Militärausrüstung und russischen Militärpersonals an der russisch-ukrainischen Grenze. Am 24. Februar ging die Karte online, zunächst unter Zuhilfenahme von Google Maps. Die Daten, mit denen die Karte „gefüttert“ wurde, stammten aus Generalstabsberichten und anderen offenen Quellen. Bereits im März 2022 blockierte Google die Nutzung von Google Maps und begründete dies mit der „Verletzung von Google-Datenschutzbestimmungen“. Das DeepState-Team hostete eine neue Website mit einer eigenen Karte: DeepStateMap.live. Sie gilt als vertrauenswürdige Quelle und wird täglich eine Million Mal von ukrainischen und ausländischen Medien, von Analysten, aber auch ganz normalen Menschen aufgerufen.

Es gibt skeptische Stimmen, auch unter Wissenschaftlern, die den Einfluss der sozialen Medien während des Krieges kritisch sehen. Sie argumentieren, sie hätten sich zu Propaganda- und Desinformationsquellen entwickelt und seien zum wichtigen Schlachtfeld im Informationskrieg geworden. Einem Schlachtfeld, auf dem sich die Ukraine und Russland gleichermaßen versuchten zu untergraben und bemüht seien, die Meinung der Weltöffentlichkeit zum jeweils eigenen Vorteil zu drehen. Dem gilt es zu erwidern, dass die Welt ohne die sozialen Medien vieles, was in der Ukraine passiert, nicht verstehen würde, ja sie wüsste es nicht einmal! Und als angegriffene Nation, ist die Ukraine nachgerade gezwungen, alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um ihre Stimme weltweit zu erheben und auf ihren Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit aufmerksam zu machen.

privat

Vitaliy Moroz ist Absolvent des Fulbright-Programms. Er studierte von 2012 bis 2014 Multimedia-Journalismus am Emerson College in Boston und beschäftigte sich in seiner Masterarbeit mit dem Einfluss sozialer Medien während der Anti-Regierungsproteste in der Ukraine. Er hat sowohl einen BA als auch einen MA in Politikwissenschaft von der Kyiv-Mohyla Academy. Heute arbeitet er in der Ukraine für eQualitie, eine kanadischen Technologieorganisation, die sich für den Schutz der Menschenrechte im Internet einsetzt und Tools zur Umgehung der Internetzensur entwickelt.

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