Regelmäßig ist in Zeitungen, Talkshows, Nachrichtensendungen von der „Spaltung der Gesellschaft“ die Rede. Unter dem #Spaltung auf Twitter erscheinen fast im Minutentakt neue Tweets. Mal wird befürchtet, die Corona-Politik und die Impfkampagne führten zu einer Spaltung, die zu überwinden zehn Jahre oder länger brauche, mal geht es um das Scheitern des synodalen Wegs in Deutschland, mal um Rassismus, Politikverdrossenheit, Geschlechterpolitik oder um Mieten in München.1
Dass bei so unterschiedlichen Themen eine Spaltung diagnostiziert wird, irritiert. Ohne Frage, es gibt einen politischen Extremismus, der sich von der Gesellschaft abgespaltet hat, spalten will und die Demokratie mit Gewalt gefährdet. Der Sturm aufs Kapitol im Januar 2021 war für demokratisch gesinnte Menschen auf der ganzen Welt ein erschreckendes und alarmierendes Ereignis. Haben wir die Spaltungsbestrebungen von Extremisten zu lange ignoriert? Auch in Deutschland wird mit Blick auf die Querdenker und andere Verschwörungsgläubige klar, dass wir Einheit, Gemeinschaftssinn und demokratische Werte nicht als selbstverständlich erachten dürfen. Es gibt diese eindeutigen Fälle, die man auch als solche benennen muss. Doch Spaltung wird bei vielerlei Gelegenheiten im Munde geführt. In fast jeder öffentlichen Debatte kommt der Begriff vor. Nur, wer bedient sich dieses Vorwurfs und mit welcher Absicht? Warum nennt man es nicht Pluralismus oder Meinungsverschiedenheit, sondern immer gleich Spaltung? Spoiler: Das inflationäre Sprechen von Spaltung führt nicht dazu, sie zu reduzieren.
„Corona-Krise verschärft die Spaltung von Arm und Reich“,2 titelte die Süddeutsche Zeitung im März 2021. Die Öffentlich-Rechtlichen produzieren Podcasts und Videos mit Titeln wie „Soziale Ungleichheit – Die Spaltung der Gesellschaft“,3 und politische Stiftungen schreiben Konzepte, wie man durch Verringerung der Ungleichheit die Spaltung des Landes überwindet.4 Spaltung wird als direkte Folge von Ungleichheit verstanden. Während sich Ungleichheit empirisch belegen lässt – mit Hochschulabschluss hat man am Ende seines Erwerbslebens etwa doppelt so viel verdient wie jemand ohne Berufsausbildung5 – bleibt Spaltung ein diffuser Begriff. Was mit Spaltung der Gesellschaft durch Ungleichheit gemeint ist, worin sie besteht, ab wann Ungleichheit spaltet und bis wohin sie noch vertretbar ist – darüber gibt es unendlich viele Ansichten. Warum wird trotz dieser Unklarheiten so oft mit Spaltung argumentiert?
„Spaltung“ ist ein aufgeladener Begriff. Die eingangs beschriebenen Extremismen und Verschwörungsideologien haben ihren Anteil daran. Ängste vor dem Zerfall nationalen Zusammenhalts, vor schwindender Solidarität oder Vereinzelung schwingen mit. „Spaltung“ ist die Drohkulisse, die es unter allen Umständen zu vermeiden gilt.
Deshalb lässt sich mit dem Spaltungsvorwurf au
ch außerhalb des radikalen Spektrums so gut argumentieren: Wer sich des Begriffes bedient, verleiht Forderungen, die überhört oder für nicht so wichtig befunden werden, größeres politisches Gewicht. Der Gender Pay Gap, struktureller Rassismus oder die schlechteren Arbeitsmarktchancen von Menschen mit vielen Kindern bekommen mit dem Argument, Ungleichheiten spalten die Gesellschaft, endlich das nötige Gehör. Von gesellschaftlicher Spaltung zu sprechen, ist also nicht nur eine Gegenwartsdiagnose. Das Signalwort „Spaltung“ wird im Diskurs verwendet, um politischen Druck aufzubauen.
Aber es gibt noch eine zweite, gegenläufige Strategie: Man benutzt den Begriff, um nicht mehr über etwas zu sprechen, sondern weniger. Bundestagspräsident a.D. Wolfgang Thierse fragte im Februar 2021: „Wie viel Identitätspolitik stärkt die Pluralität einer Gesellschaft, ab wann schlägt sie in Spaltung um?“6 Die „Grabenkämpfe“ von linker und rechter Identitätspolitik, die Aggressivität, mit der sie geführt würden, zerstörten den Gemeinsinn, rechter Hass und linke Cancel Culture ließen Vielfalt verstummen. Die linke Cancel Culture sei demokratiefremd, sogar demokratiefeindlich.7 Das ist harter Tobak: Wer spalte, trüge nicht nur zur Verschärfung der Diskurse bei, sondern stelle sich laut Thierse gegen die Einheit unseres Landes, unser politisches System und unsere Verfassung. Stärker kann man Positionen kaum abwerten, als ihnen eine demokratische Grundhaltung abzusprechen. Sein Appell ist: Die Akteure sollen aufhören zu spalten; keine Cancel Culture mehr, weniger Identitätspolitik. Thierse verweigert nicht den politischen Diskurs – er stößt ihn durch das Interview ja gerade an – fordert aber dazu auf, identitätspolitischen Themen weniger Raum zu geben und weniger radikal über sie zu streiten. Mit dem Argument „Identitätspolitik spaltet“ sollen diese Debatten eingeschränkt werden.
Aber: Ist, wer anderen Spaltung vorwirft, nicht genauso diskurseinschränkend, wie er es dem Gegenüber unterstellt? Wir befinden uns in einer paradoxen Situation. Es wird die Spaltung der Gesellschaft beklagt, es wird bedauert, dass das Gespräch mit Andersdenkenden kaum noch möglich und der politische Diskurs eingeschränkt sei. Doch gleichzeitig werden Andersdenkende als demokratiefeindliche Spalter bezeichnet und so jeder Diskurs eingeschränkt. Es ist paradox, aber genau so wird oftmals diskutiert.
Was machen wir nun mit der Erkenntnis, dass der Begriff Spaltung unterschiedlichen Diskussionsstrategien dient, Debatten mal befeuern, mal beenden soll? Nicht mehr von Spaltung sprechen, wenn wir sie zu erkennen glauben? Sollen wir Worte und Handlungen, die darauf abzielen, Menschen auseinander zu dividieren, unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen gegeneinander auszuspielen, nicht mehr als solche benennen? Natürlich nicht. Wer es darauf anlegt zu spalten, soll damit konfrontiert werden. Aber manchmal, gerade wenn sich darüber verständigt wird, wie wir miteinander diskutieren wollen, bringt es wenig, sich gegenseitig Spaltung vorzuwerfen. Wir müssen besser darin werden, statt uns auf das Spaltende, das Trennende zu fokussieren, das Verbindende und Gemeinsame zu erkennen.
Bevor man das nächste Mal den #Spaltung in die 280-Zeichen-Twitter-Maske tippt, sollte man sich lieber fragen: Will ich eine Gegenwartsdiagnose abgeben, oder will ich meinen politischen Gegner als demokratiefeindlich abstempeln und mundtot machen? Will ich die Diskussion versachlichen, oder will ich mich über die Art des Streitens aufregen?
Vielleicht wären diese Fragen gute Filter fürs Internet.
1 https://twitter.com/hashtag/Spaltung?src=hashtag_click
2 https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/corona-deutschland-armut-und-reichtumsbericht-1.5225103
3 https://www.br.de/mediathek/podcast/planet-wissen/soziale-ungleichheit-die-spaltung-der-gesellschaft/1807998
4 https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-konzepte-gegen-die-soziale-spaltung-3811.html
5 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/288922/umfrage/durchschnittliche-lebensverdienste-in-deutschland-nach-bildungsabschluss/
6 https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wolfgang-thierse-wie-viel-identitaet-vertraegt-die-gesellschaft-17209407.html
7 https://www.deutschlandfunk.de/wolfgang-thierse-spd-ueber-identitaetspolitik-ziemlich.694.de.html?dram:article_id=493111
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