(Beziehungs-)Krise zwischen Indien und Pakistan um Kaschmir
Seit der Unabhängigkeit Indiens und Pakistans im Jahre 1947 bildet die Region Kaschmirs den Mittelpunkt des bilateralen Konflikts zwischen beiden Staaten. Vorausgegangen war die Teilung Britisch-Indiens entlang religiöser Linien in ein muslimisches Pakistan, einschließlich Ost-Pakistan, das spätere Bangladesch, und in ein säkulares, vorwiegend hinduistisch geprägtes Indien. Die Teilung gilt als blutigste Auseinandersetzung in der Geschichte beider Länder und lastet bis heute auf dem kollektiven Gedächtnis Indiens und Pakistans. Kaschmir wurde zu dieser Zeit, wie die übrigen Fürstentümer, vor die Wahl gestellt, welchem Staat es zugesprochen werden wollte. Die Entscheidung für eine Angliederung an Indien übernahm der damalige Herrscher Kaschmirs.
Indien als auch Pakistan beanspruchen bis zum heutigen Tag beide das gesamte Gebiet Kaschmirs für sich. Dabei geht es nicht nur um die territoriale Komponente, vielmehr wird Kaschmir als identitätsstiftender Bestandteil für das eigene Land empfunden. Pakistan pocht dabei auf sein Bild als Staat für die Muslime der Region, was es auch im Anschluss an die Unabhängigkeit Bangladeschs von Pakistan (1971) weiter zu verteidigen gilt.
Zum Brennpunkt wurde die Region aus indischer Sicht über die vergangenen Jahrzehnte auch aufgrund zahlreicher sozioökonomischer Probleme: Dazu gehören das Gefühl der Vernachlässigung durch den indischen Staat, die schlechten Lebensbedingungen, die Perspektivlosigkeit der Jugend sowie die Unzufriedenheit über die zunehmende Militarisierung der Region.
Terroristische Anschläge in Indien
Die Anschläge im Jahr 2001 durch aus Pakistan operierende Terrorgruppen auf das indische Parlamentsgebäude und 2008 auf das Taj-Mahal-Hotel in Mumbai gehörten zu den schwersten der letzten Jahre. Indien reagierte 2001 mit einer massiven Verstärkung seiner militärischen Präsenz an der Line of Control (LoC). Jedoch wurde, wohl wissend um die Gefahr einer nuklearen Eskalation, ansonsten eher zurückhaltend agiert. Islamabad bestreitet seit jeher sowohl die Existenz als auch eine mögliche Verbindung zu den Terrorgruppen und Anschlägen, verändert jedoch auch die eigenen Anti-Terror-Strategien, trotz internationalen Drucks, nicht. Bisher konnte man nicht von einer Eskalation sprechen, die mit der aktuellen Situation vergleichbar wäre. Beide Staaten befanden sich in einer Phase distanzierter Diplomatie und hatten einen Weg gefunden, miteinander zu agieren. Sinnbildlich dafür steht der „Militancy Graph“, der 2009[i] in der Kaschmirregion einen historischen Tiefstand erreichte.
Der jüngste Anschlag
Am 14. Februar 2019 fuhr im Distrikt Pulwama ein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug in einen Bus mit paramilitärischen Polizeikräften der Central Reserve Police Force (CRPF), die größte Polizeieinheit Indiens. Dabei wurden über 40 Sicherheitskräfte getötet. Jaish-e Mohammed reklamierte den Terroranschlag anschließend für sich. Die indische Regierung verurteilte den Anschlag scharf und kündigte entsprechende Gegenmaßnahmen an.
Delhi, seine Argumentation auf internationales Recht stützend, sieht jedoch Islamabad in der vollen Verantwortung: Der Staat würde die verantwortliche Terrorgruppe schon lange unterstützen und es auf diese Weise ermöglichen, dass Anschläge auf indischem Boden durchgeführt würden. Indien antwortete am 26. Februar mit einem Luftangriff auf mutmaßliche Trainingslager von JeM auf pakistanischer Seite. Die Regierung in Delhi nannte den Angriff einen „nichtmilitärischen Präventiveinsatz“. Pakistan dagegen sprach von einem Angriff auf die Souveränität des pakistanischen Staates.
Politik und Militär Indiens demonstrierten Einigkeit und unterstützten in ihrer Rhetorik die Antwort der Sicherheitskräfte, da man lange genug nichts gegen den pakistanischen Terror unternommen hätte. Bereits einen Tag nach Indiens Gegenschlag kam es zu einem Luftgefecht entlang der LoC, bei dem nach pakistanischen Angaben zwei indische Militärflugzeuge abgeschossen wurden. Laut indischen Angaben handelte es sich jedoch nur um eines, das zweite sei ein pakistanisches gewesen, welche beide auf pakistanischer Seite abstürzten. Der indische Pilot Abhinandan Varthaman wurde von Pakistan festgenommen, jedoch bereits zwei Tage später als „Friedensgeste“ wieder freigelassen.
Premierminister Modi muss in Anbetracht der anstehenden indischen Parlamentswahl Stärke zeigen. Dafür spricht, dass Indien sich nach dem Anschlag strikt gegen einen Dialog mit Pakistan aussprach, solange Pakistan nichts gegen die aus seinem Territorium heraus operierenden Terrorgruppen unternehmen würde. Pakistans Premierminister Imran Khan muss nach seiner Geste des Friedens, die einen entscheidenden deeskalierenden Wendepunkt im chronologischen Verlauf der Geschehnisse markierte, nun beweisen, dass er sich intensiv für die Einschränkung der Terroraktivitäten aus seinem Land einsetzen wird. Erst fünf Tage nach dem Anschlag hatte er sich zu den Geschehnissen geäußert und begründete die Verzögerung mit dem Besuch des saudi-arabischen Kronprinzen, Mohammad bin Salman, der sich aufgrund von Investitionsbestrebungen, die das kurz vor dem Staatsbankrott stehende Pakistan dringend benötigt, in dem Land aufhielt.
Post-Pulwama
Was auffällt: Die Atmosphäre zwischen den Kontrahenten nach dem Anschlag bleibt giftig. Gleichzeitig fielen die Ereignisse in den Vor-Wahlkampf für die anstehende Parlamentswahl; ein logistisches Mammutprojekt, das ab 11. April 2019 in sieben Phasen stattfinden wird und um die 900 Millionen Inder an die Wahlurnen ruft. Premierminister Modi steht unter Druck, wiedergewählt zu werden und wird von der oppositionellen Kongresspartei dafür kritisiert, dass der mit Amtsantritt versprochene wirtschaftliche Aufschwung und die damit einhergehende Schaffung von Arbeitsplätzen ausblieb. Modi und seine regierende BJP müssen also sowohl gegenüber dem Erzfeind Pakistan als auch für die eigene Bevölkerung Entschlossenheit demonstrieren. Erst im Dezember verlor die BJP drei entscheidende Bundesstaaten bei Regionalwahlen an den größten Rivalen, die Kongresspartei. Im Anschluss an Pulwama nicht den richtigen Ton für die indische Bevölkerung zu treffen, die bereits kurz darauf wütend Vergeltung forderte und die Rückkehr von Abhinandan Varthaman frenetisch feierte, könnte dramatische Konsequenzen auf den Ausgang der Parlamentswahl haben.
Der Wahlkampf in Indien hat seinen Startschuss längst vernommen: Verurteilten Regierung und Oppositionsführer Rahul Gandhi den Anschlag kurz nach der Tat noch einvernehmlich, erklärte Amit Shah, Präsident der BJP, bald darauf allerdings, dass die Opfer der getöteten Soldaten nicht vergebens seien, da die BJP und nicht die Kongresspartei an der Macht sei. Auf der anderen Seite beschuldigte Rahul Gandhi Modi in den vergangenen Tagen erneut der Korruption beim milliardenschweren Kauf französischer Kampfflugzeuge vom Typ Rafale.
Welche Rolle spielt Kaschmirs Jugend?
Aus Kaschmir stammende Inder im gesamten Land avancierten im Anschluss an Pulwama zu Leidtragenden, da sie vielerorts von meist fanatischen Hindu-Nationalisten für den verübten Anschlag und den Tod der indischen Polizisten verantwortlich gemacht wurden. Die CRPF schuf ihrerseits einen Notruf für sich bedroht fühlende Kaschmiris. Einer der wenigen hochrangigen Politiker, der sich ebenfalls in diesem Zusammenhang zu Wort meldete und per Einrichtung eines Hilfetelefons Schutz bei anhaltenden Übergriffen anbot, war Punjabs Chief Minister Amarinder Singh, der sich über Twitter an die verfolgten Kaschmiris, vorrangig Studenten, in seinem Bundesstaat wandte.
Die Tatsache, dass es sich bei dem Attentäter des Anschlags erstmals um einen lokalen, radikalisierten Inder aus Kaschmir handelte, steht in diesen Tagen sinnbildlich für den Weckruf, der durch das ganze Land hallte. Es sollen Informationen vorliegen, die den jungen Angreifer als jemanden beschreiben, der sich nach Demütigungen durch indische Uniformierte im pakistanischen Teil Kaschmirs zum Kämpfer ausbilden ließ. Viele Jugendliche sind enttäuscht und fühlen sich von Neu-Delhi vernachlässigt. Sie scheinen vor allem in den letzten Jahren zunehmend unerreichbar und schließen sich immer häufiger dem Kampf islamistischer Separatisten in der Region an. Rückhalt bietet ihnen die Vision, sich mit ihrem Einsatz entweder für die Unabhängigkeit Kaschmirs oder den Anschluss an Pakistan gegen Indien einzusetzen. Eine Gewaltspirale wird in Gang gesetzt, internationale Terrororganisationen mit Sitz in Pakistan versuchen über soziale Medien an die enttäuschte Jugend heranzutreten und treffen hierbei auf fruchtbaren Boden.
Wichtiger Zeuge: Die internationale Gemeinschaft
Das Auswärtige Amt (AA) twitterte am 25. Februar, dass Außenminister Heiko Maas bei seinem Telefonat mit dem pakistanischen Außenminister Shah Mehmood Qureshi beide Seiten zur Deeskalation aufrief. Insbesondere, so das AA, müsse Pakistan mit Nachdruck grenzübergreifenden Terrorismus unterbinden. Das derzeitige “window of opportunity”, entstanden durch ein bedeutendes Moment der Einigkeit und Unterstützung für Indiens Position und signalisiert durch die Weltgemeinschaft, dürfe nicht ungenutzt bleiben und strategische Partnerschaften gestärkt aus der aktuellen Lage und für den Kampf gegen den internationalen Terrorismus hervorgehen.
Darüber hinaus tritt China weiterhin als Schutzmacht Pakistans auf und hat Summen in Milliardenhöhe in das Land investiert. Der chinesisch-pakistanische Wirtschaftskorridor (CPEC) ist bedeutender Bestandteil der chinesischen Seidenstraße und führt durch den von Pakistan kontrollierten Teil Kaschmirs. Nur 50 Kilometer von Balakot entfernt befindet sich eine von China finanzierte Autobahn. Es ist daher nicht verwunderlich, dass das Land ein deutliches Interesse an der Deeskalation des Konflikts hat. Die Vetomacht China ist es auch gewesen, die am 13. März erneut den Vorschlag, den JeM-Führer Masood Azhar, der frei in Pakistan leben soll, auf die Terroristenliste der VN zu setzen, im VN-Sicherheitsrat blockierte. Damit stellt China seine Investitionen in Pakistan über eine Verbesserung der Beziehungen zu Indien. Der amerikanische Außenminister Mike Pompeo benannte die indischen Luftangriffe als “Anti-Terror-Operation” und wird dafür von Pakistan kritisiert. Das Statement wird im Zusammenhang mit dem amerikanischen Umwerben Indiens gesehen, das darauf abzielt, ein Gegengewicht zu Chinas zunehmenden Einfluss in der Region zu schaffen.
Ausblick
Die Situation bleibt weiterhin spannungsgeladen. Es ist davon auszugehen, dass sich diese Spannung erst nach der Parlamentswahl deutlich abschwächen wird. Weder Indien noch Pakistan wollen einen Krieg, schon gar keinen Atomkrieg. Da Indien die Erstnutzung nuklearer Waffen schon immer ausgeschlossen hat, es eine „last resort policy“ ist und bleiben soll, muss der Staat demonstrieren, dass er über genügend konventionelle militärische Mittel verfügt, um Pakistan unter Druck zu setzen.
Währenddessen bleibt das Ausmaß der Unterstützung terroristischer Gruppen nicht nur auf Kaschmir oder mögliche Trainingscamps in Pakistan beschränkt. Vielmehr handelt es sich um ein globales Problem, das die größte Demokratie der Welt gemeinsam mit gleichgesinnten Staaten weiterhin bekämpfen will.
[1] “Tears of the Chinar”, Outlook 11. März 2019, S. 51.
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