David McAllister, Europaabgeordneter und Vizepräsident der Europäischen Volkspartei EVP, warnte vor einem möglichen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. „Ein Brexit wäre ein schwerer Schlag für die EU“, sagte er. Einen ähnlichen Fall habe es in der Geschichte Europas bisher nicht gegeben. Die Europäische Union wäre jahrelang damit beschäftigt, die Beziehungen zu Großbritannien neu zu justieren. Sollte es zu einem Brexit kommen, sieht der Europaabgeordnete große Herausforderungen auch auf Deutschland zukommen. Denn der Brexit ist nicht nur Sache der Briten: „Wir werden Finanzmarktturbulenzen in London erleben, das britische Pfund wird dramatisch abgewertet werden, Großbritannien wird kurzfristig in eine Rezession einsteigen, die auch Auswirkungen auf die deutsche Volkswirtschaft haben wird“, skizzierte er den „worst case“ eines Austritts. Am meisten sorge ihn aber – im Falle eines Austritts - das ungeklärte Verhältnis Großbritanniens zum europäischen Binnenmarkt. Denn das Vereinigte Königreich ist einer der bedeutendsten Handelspartner Deutschlands. Es ist mit einem Volumen von 89 Milliarden Euro in 2015 Deutschlands drittwichtigster Exportmarkt. Zu den Exportschlagern gehören Kraftwagen und Kraftwagenteile sowie chemische und pharmazeutische Güter. „Über mehrere Jahre würde es dann eine Unsicherheit geben“, die viele Investoren abschrecken werde.
Mehr Entschlossenheit bei großen Aufgaben, weniger "Klein-Klein" in der EU
Auch Klaus-Dieter Frankenberger, verantwortlicher Redakteur für Außenpolitik der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, geht davon aus, dass die Europäische Kommission mehrere Jahre mit der Abwicklung eines „Scheidungsvertrages“ beschäftigt sei. „Dies wird alle Diskussionen überschatten, mehr noch als damals die Griechenlandkrise“, prognostizierte der Fachmann. Er plädierte dafür, den Unmut der Briten ernst zu nehmen, denn sie seien damit nicht allein. Einer Umfrage zufolge haben unter anderem 61 Prozent der Franzosen eine schlechte Meinung von der EU. „Darüber muss man reden und für mehr Akzeptanz werben“, forderte er. Denn der Anteil der unzufriedenen EU-Bürger vergrößere sich. Viele störe die übermäßige Bürokratie, die sich oftmals in einem „Klein-Klein“ verzettele. McAllister kann diese Sorgen verstehen: „Ich wünsche mir eine Europäische Union, die sich durch Entschlossenheit und Stärke bei den großen Aufgaben auszeichnet und durch Zurückhaltung und Bescheidenheit bei Fragen, die die Nationalstaaten allein lösen können“, sagte er.
Das Zünglein an der Waage: Nordirland
McAllister hält zudem den irischen Ministerpräsidenten Enda Kenny für den wichtigsten Mann in den nächsten Tagen. Denn hunderttausende irische Staatsbürger, die im Vereinigten Königreich leben, seien wahlberechtigt. „Angesicht der spannenden, knappen Wahlprognosen könnten die Iren eine ausschlaggebende Rolle spielen“, sagte McAllister. Auch mit Blick auf die gemeinsame Landesgrenze zwischen Nordirland und der Republik Irland könnte es „verheerende Auswirkungen haben, sollte das Vereinigte Königreich die EU verlassen“. Nicht nur der wirtschaftliche Handel zwischen Irland und Großbritannien sei davon betroffen, sondern auch der nordirische Versöhnungsprozess, gab McAllister eindringlich zu bedenken. „Dieser Friedens- und Versöhnungsprozess hat viele Väter und Mütter, aber ein Grund ist auch, das Republik-Iren und Nord-Iren unter einem Dach der Europäischen Union ein Stück weit auch vereint sind.“
Rauer Ton in der Referendums-Debatte
Egal wie das Referendum ausgeht, es wird kein „business as usual“ geben, meint Hans-Hartwig Blomeier, Leiter des Großbritannien-Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung. „Es wird die Aufgabe des Premierministers sein, seine zerstrittene Partei wieder zusammen zu führen“, sagte er. Denn alle Teilnehmer waren sich einig, dass der Ton in der politischen Debatte rauer und aggressiver wurde. „Populismus ist ein Phänomen, nicht die Ursache“, erklärte Blomeier. Vielmehr bestehe das Problem in der Distanz zwischen Politik und Bürger, die potenziert werde mit einer irrationalen und entsachlichten Debatte. Auch Gerhard Wahlers, stellvertretender Generalsekretär der Konrad-Adenauer-Stiftung, stimmte die Aggressivität nachdenklich. Er machte darauf aufmerksam, dass Isolationismus und Populismus nicht nur britische Phänomene seien, sondern diese Art der Diskussion auch in anderen europäischen Ländern geführt würden. MacAllister warb eindringlich dafür, das direkt am Freitag nach dem Referendum die Europäische Kommission beginnt, gesetzgeberische Vorschläge zu machen, basierend auf dem Reformdeal von Februar, damit es spätestens ab Januar 2017 in Kraft trete. Denn Stimmen aus dem Europäischen Parlament, die sich zögerlich zeigen bei der Umsetzung, seien nicht hilfreich in der Diskussion mit EU-Gegnern. „Damit haben wir gleich wieder den nächsten Spaltpilz für die nächste Debatte“, warnte McAllister. Er appellierte an die Verantwortung der Euroabgeordneten.
Einheit Europas stärken
Zuvor hatte Hans-Gert Pöttering, ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments und Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, seine Hoffnung betont, dass es zu keinem Brexit komme: „Wir hoffen, dass die Wähler im Vereinigten Königreich am Donnerstag entscheiden, dass dieses so wichtige Land weiterhin Mitglied in der Europäischen Union bleibt.“ Mit Blick auf die Zukunft Europas, müsse die Frage gestellt werden, „welche EU brauchen wir und nicht welche wollen wir“. Denn zu Europa gehöre auch Heimat, die den Ausgangspunkt bilde. Natürlich sollte sich jeder zu seiner Nation bekennen, aber Pöttering warnte davor, sie nicht über alles zu stellen. „Heimat, Vaterland, Europa und Verantwortung für die Welt gehören zusammen“, sagte Pöttering. Nur in dieser Kombination könne der Weg in eine solidarische, vereinte Zukunft beschritten werden.
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