Herkunft, Ausbildung und Militärdienst
Am 15. September 1913 wurde Hans Filbinger in Mannheim geboren. Seine Mutter Luise, geb. Schnur, verstarb 1918; sein Vater, Johannes Filbinger, war Bankangestellter. Von 1924 bis zum Abitur 1933 besuchte Filbinger das Badische Realgymnasium in seiner Heimatstadt. Anschließend studierte er Rechtswissenschaft und Nationalökonomie in Freiburg/Br. und München. Nach dem Referendariat und einem Auslandsaufenthalt in Paris promovierte er 1939 bei Hans Großmann-Doerth in Freiburg/Br. mit einer Arbeit über „Die Schranken der Mehrheitsherrschaft im Aktien- und Konzernrecht“ zum Dr. jur. und arbeitete dort bis 1940 als Fakultätsassistent und Lehrbeauftragter an der Universität.
Bestimmend für Filbingers politische Sozialisation war seine Mitgliedschaft im Bund Neudeutschland, einem nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten Verband der katholischen Jugendbewegung. Die Mitglieder strebten nach einer erneuerten „Lebensgestaltung in Christus“, beseelt von den Werten „Einfachheit“, „Natürlichkeit“ und „innere Wahrhaftigkeit“, die damals viele Jugendliche umtrieben. Filbinger trat der Organisation 1928 bei und leitete von 1932 bis 1933 eine Jugendgruppe in Nordbaden. Während seines Studiums gehörte er dann dem Kreis der „Älteren Neudeutschen“ in Freiburg/Br. an. In diesen Jahren entstand die lebenslange enge Freundschaft mit dem Philosophen Max Müller (1906–1994), einem Schüler Heideggers. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde der Bund Neudeutschland zunächst im Rahmen des Reichskonkordats zwischen der Katholischen Kirche und dem Deutschen Reich geschützt, 1939 jedoch verboten, da er dem Anspruch der Hitlerjugend, alle deutschen Jugendlichen zu vertreten, entgegenstand.
Filbinger war seit 1933 Mitglied des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes, seit 1934 Mitglied der SA und trat 1937 Mitglied der NSDAP. Im Oktober 2022 wurde bekannt, dass Filbinger bereits 1933 seinen Eintritt in die NSDAP beantragt hatte, wegen eines Aufnahmestopps wurde seine Mitgliedschaft jedoch nicht bewilligt. Eine Auswertung der Studienbücher Filbingers im Stuttgarter Landesarchiv führte zu diesem Befund (FAZ vom 14.10.2022).
1940 meldete er sich freiwillig zum Dienst in der Kriegsmarine, zum 30. August erfolgte die Einberufung. Im März 1943 wurde er nach Abschluss eines Offizierslehrgangs und der Beförderung zum Oberfähnrich aus der Wehrmacht entlassen und zum Marinerichter im Dienstbereich des Marineoberstkriegsgerichtsrats für den Nordseebereich ernannt. Bei Kriegsende geriet er in Oslo in britische Gefangenschaft. Da die Briten die deutsche Militärgerichtsbarkeit für deutsche Gefangene aufrechterhielten, übte er das Amt des Marinerichters bis Februar 1946 weiter aus.
Von Freiburg nach Stuttgart
Nach seiner Entlassung aus britischer Kriegsgefangenschaft ließ sich Filbinger in Freiburg/Br. als Rechtsanwalt nieder und widmete sich auch weiterhin wissenschaftlichen Studien. Im Umfeld der „Freiburger Schule der Nationalökonomie“ beschäftigten ihn Fragen des Konzern- und Kartellrechts. 1947 wurde er zum Mitglied einer Sachverständigenkommission berufen, die im Auftrag des Länderrats der amerikanischen Besatzungs-behörde ein deutsches Kartellgesetz vorbereiten sollte. Der Kommission gehörten auch die bekannten Ökonomen Franz Böhm und Walter Eucken an.
1951 trat Filbinger in die CDU ein, amtierte von 1953 bis 1960 als Freiburger Stadtrat und wurde in der Nachfolge des Landesvorsitzenden der südbadischen CDU, Anton Dichtel, 1958 als ehrenamtlicher Staatsrat für Südbaden in die Landesregierung berufen. Seine Aufgabe war die Pflege der Beziehungen zwischen der schwäbischen Landeshauptstadt Stuttgart und den badischen Landesteilen. Bei der Wahl am 15. Mai 1960 wurde Filbinger als Direktkandidat für den Wahlkreis Freiburg in den Landtag gewählt. Mit der Berufung zum Innenminister unter Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger rückte er im Juni 1960 in die erste Reihe der CDU-Politiker Baden-Württembergs auf.
Filbingers Weg in politische Spitzenämter in den 1960er Jahren verlief eher im Schatten des großen Tagesgeschehens. Presseberichte aus dieser Zeit beschreiben seinen Politik-stil als „distanziert“ und „sachlich“. Lange Zeit eilte ihm der Ruf eines Verwaltungsfachmanns voraus.
Mit dem Landesvorsitz der südbadischen CDU übernahm er im Oktober 1966 erstmals ein wichtiges Parteiamt. Die CDU Baden-Württembergs gliederte sich bis 1971 noch in vier Landesverbände - eine Folge der unterschiedlichen Besatzungspolitik von Amerikanern und Franzosen im deutschen Südwesten. Die verschiedenen Landesverbände waren dabei jeweils auch von unterschiedlichen lokalen Traditionen geprägt. Erst am 15. Januar 1971 gründete sich auf dem Landesparteitag in Baden-Baden der CDU-Landesverband Baden-Württemberg. Filbinger, entschiedener Befürworter des Zusammenschlusses und treibende Kraft dabei, wurde von den Delegierten zum ersten Vorsitzenden gewählt. Von 1971 bis 1979 hatte er den Vorsitz des Landesverbands inne, 1979 wurde er zum Ehrenvorsitzenden ernannt.
Nachfolger Kiesingers als Ministerpräsident
Kurt Georg Kiesingers Wechsel ins Bonner Kanzleramt im Dezember 1966 machte den Weg frei für Filbingers Aufstieg zum Ministerpräsidenten. Da sich die seit 1960 bestehende CDU/FDP-Koalition auflöste, führte er für die CDU Koalitionsgespräche mit FDP und SPD. Das entscheidende Thema dabei war die Bildungspolitik. Das Zugeständnis an die SPD, noch bestehende Konfessionsschulen abzuschaffen, jedoch die Christliche Gemeinschaftsschule als mögliche Schulform zu erhalten, eröffnete Filbinger die Möglichkeit einer Großen Koalition. Letztlich sicherte ihm der Schulkompromiss am 16. Dezember 1966 nicht nur die Wahl zum Ministerpräsidenten. Mit Abschaffung der wenig populären Konfessionsschulen erreichte die CDU im Südwesten die Öffnung gegenüber evangelischen Wählerschichten und legte den Grundstein für die Erfolge bei späteren Landtagswahlen.
Nach der Landtagswahl 1968 wurde Filbinger im Amt des Ministerpräsidenten bestätigt. Die CDU erhielt 44,2 % der Wählerstimmen und setzte die Große Koalition mit der SPD fort. Das wichtigste landespolitische Ereignis dieser Legislaturperiode war die Abstimmung über die seit der Länderneubildung im Südwesten schwelende „Badenerfrage“: Teile der Bevölkerung Badens opponierten seit der Gründung des Landes 1952 gegen den Zusammenschluss Badens und Württembergs, sie forderten die Wiederherstellung des Landes Baden in den Grenzen des früheren Großherzogtums. Für Filbinger – zwar selbst Badener, doch entschiedener Befürworter des Südweststaats – war die Volksabstimmung in Baden vom 7. Juni 1970 über das Weiterbestehen des Landes auch eine Schicksalsfrage. Das eindeutige Abstimmungsergebnis stellte eine Bestätigung seiner Politik dar: Bei einer Wahlbeteiligung von 62,5 % stimmten 81,9 % der Wähler für den Verbleib Badens im Südweststaat. Erfolgreich verlief auch das zweite politische Großvorhaben der Regierung Filbinger in dieser Zeit, die umfassende Verwaltungs- und Gebietsreform. Im Zuge der Verringerung der Zahl der Gemeinden von 3379 auf 1107 und der Zahl der Landkreise von 63 auf 35 wurden die Verwaltungsstrukturen des Landes Baden-Württemberg umfassend modernisiert.
Absolute Mehrheit
Einer der größten politischen Erfolge Filbingers war der erstmalige Gewinn der absoluten Mehrheit für die CDU bei der Landtagswahl 1972. In dieser Zeit erlangte die CDU ihren Ruf als „Baden-Württemberg-Partei“. Bundespolitisch profilierte sich Filbinger nun mehr und mehr durch seine scharfe Kritik an der Ostpolitik Willy Brandts und der Wirtschaftspolitik der sozialliberalen Bundesregierung. Sein wachsender bundespolitischer Einfluss zeigte sich in seiner Wahl zum stellvertretenden CDU-Bundesvorsitzenden im Juni 1973.
Landespolitische Schwerpunkte der Regierung Filbinger waren fortan die Themen Innere Sicherheit und Umwelt. Unter dem Eindruck wachsender linksterroristischer Gewalt entbrannte in der Bundesrepublik zu Beginn der 1970er Jahre eine heftige Debatte um die politische Haltung von Bewerbern im Öffentlichen Dienst. Am 28. Januar 1972 beschloss die Innenministerkonferenz der Länder unter dem Vorsitz von Bundeskanzler Willy Brandt den so genannten „Radikalenerlass“, wonach Bewerber im Öffentlichen Dienst „die Gewähr dafür bieten müssen, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten“. Zur Umsetzung des Beschlusses erließ die baden-württembergische Landesregierung am 2. Oktober 1973 den nach Innenminister Karl Schiess benannten „Schiess-Erlass“. Demnach musste vor jeder Einstellung im Öffentlichen Dienst eine Regelanfrage zur politischen Überprüfung der Bewerber an das Innenministerium ergehen. Baden-Württemberg wurde nun von links Denkenden als eine Art „Hochburg des Berufsverbots“ kritisiert; tatsächlich wiesen andere CDU- und auch SPD-geführte Landesregierun-gen weit mehr Bewerberinnen und Bewerber für den öffentlichen Dienst ab als Baden-Württemberg. Die Debatten um die Umsetzung des „Radikalenerlasses“ trugen jedoch dazu bei, dass Filbinger mit seiner die Autorität des Staates verteidigenden Haltung in der Öffentlichkeit ein stark konservatives, teils autoritäres Erscheinungsbild zugeschrieben wurde.
Auch Filbingers Einsatz für den Umweltschutz beruhte auf wertkonservativen Überzeugungen. Nach seiner Wiederwahl zum Ministerpräsidenten im April 1972 verabschiedete die neue Landesregierung Ende des Jahres erstmalig ein umweltpolitisches Gesamtkonzept und rief 1973 zum „Jahr des Umweltschutzes“ aus. Schwerpunkte dabei waren Maßnahmen zur Reinhaltung des Bodensees und die Erarbeitung eines Konzepts zur umweltfreundlichen Abfallbeseitigung. Am 1. Januar 1976 trat in Baden-Württemberg als erstem Land der Bundesrepublik ein modernes Naturschutzgesetz in Kraft. Ziel war es, einen „Wandel vom bewahrenden zum aktiven Naturschutz“ zu vollziehen.
Politischen Gegenwind löste Filbinger mit den Plänen zum forcierten Ausbau der Kernenergie aus, die er im November 1973 vor dem Hintergrund der Ölkrise verkündete. Der Bau eines Atomkraftwerks in Wyhl (Kaiserstuhl) verzögerte sich aufgrund jahrelanger Proteste und Auseinandersetzungen zwischen Bürgerinitiativen und Landesregierung. In dem Streit war Filbinger nicht vor Fehleinschätzungen gefeit, so zum Beispiel mit seiner Warnung in der Landtagsdebatte vom 27. Februar 1975, ohne den Bau von Wyhl gingen bis zum Ende des Jahrzehnts in Baden-Württemberg „die Lichter aus“. Erst nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl verkündete sein Nachfolger Lothar Späth im Dezember 1987 das endgültige Aus für das umstrittene Bauvorhaben.
Landtagswahl 1976 und Rücktritt
Bei der Landtagswahl am 4. April 1976 konnte Filbinger den Stimmenanteil der CDU erneut von 52,9% auf 56,7% steigern. Seine Stellung als Landesvater schien unanfechtbar. „In Filbinger erkennt sich der schwäbische Handwerker und Landwirt, der soziale Aufsteiger und Mittelständler wieder. Er ist ihr Mann und sie sind in Baden-Württemberg die Masse der Wähler“, erkannte „Die Zeit“ schon im April 1975. Der nicht unumstrittene, aber erfolgreiche Ministerpräsident war denn auch zeitweise für die Nachfolge von Walter Scheel im Amt des Bundespräsidenten im Gespräch. Gedämpft wurden solche Spekulationen, nachdem Filbinger bei der Wahl der stellvertretenden Vorsitzenden der Bundes-CDU im März 1977 auf dem vorletzten Platz landete. Sein scharfer Konfrontationskurs gegenüber den damals teils linksliberal geprägten Freien Demokraten - Koalitionspartner der CDU in mehreren Ländern - stieß innerparteilich nicht nur auf Unterstützung.
Die innenpolitische Polarisierung in den 1970er Jahren war nicht zuletzt von der Haltung des Staates im Umgang mit dem Linksterrorismus der Rote Armee Fraktion geprägt. Der Anschlag auf den Arbeitgeberpräsidenten Martin Schleyer, die Entführung des Flugzeugs „Landshut“ und der Selbstmord der Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in der Nacht zum 18. Oktober 1977 in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim stürzte die Regierung Filbinger in eine tiefe Krise. Nachdem im Zuge der Aufklärung der dortigen Ereignisse schwere Sicherheitslücken und Versäumnisse der Behörden aufgedeckt wurden, sah sich der stets Sicherheit und Ordnung betonende Ministerpräsident mit Rücktrittsforderungen konfrontiert. In seiner Regierungserklärung am 10. November 1977 forderte Filbinger einmal mehr das Bekenntnis „zu einer Demokratie, die wehrhaft und selbstbewusst ist“. Aus der Erfahrung des Untergangs der Weimarer Republik sei die Lehre zu ziehen, „dass der freiheitliche Staat den Kampf gegen totalitäre Kräfte nicht früh genug aufnehmen“ könne.
Im Februar 1978 löste der Schriftsteller Rolf Hochhuth, der in einem Artikel in der Zeit Filbinger wegen der Tätigkeit als Marinerichter einen „furchtbaren Juristen“ genannt hatte, eine öffentliche Debatte über die Vergangenheit des Ministerpräsidenten aus. Gegen diese Bezeichnung reichte Filbinger Klage vor dem Landgericht Stuttgart ein. Als im Mai 1978 bekannt wurde, dass Filbinger im Januar 1945 an einem Todesurteil wegen Fahnenflucht beteiligt war, versicherte er mehrfach in der Öffentlichkeit, dies sei das einzige Todesurteil gewesen, an dem er mitgewirkt habe. In den nächsten Monaten wurden jedoch drei weitere Todesurteile publik, an denen er beteiligt war. In seinen Stellungnahmen hierzu verwies Filbinger stets auf die damalige – formal gesehen – Rechtmäßigkeit der Urteile. Damit entstand der Eindruck mangelnder Distanzierung von den Gräueltäten während der NS-Zeit, die seinem politischen Ansehen schwer schadeten. Auch in der CDU verlor er zusehends an politischem Rückhalt. Am 7. August 1978 trat er schließlich vom Amt des Ministerpräsidenten zurück.
Filbinger gründete 1979 das Studienzentrum Weikersheim, ein christlich-konservatives Diskussionsforum, das sich vor allem mit Fragen der Werteentwicklung in der Gesellschaft befassen sollte. Bis zu seinem Tod am 1. April 2007 kämpfte er um seine politische Rehabilitierung, weil er davon überzeugt war, ihm sei Unrecht widerfahren.