Familie und Ausbildung
Walter Eucken wurde am 17. Januar 1891 in Jena in eine idealtypische bildungsbürgerliche, protestantische Familie des Kaiserreichs hineingeboren. Sein Vater war der Jenenser Ordinarius für Philosophie, Rudolf Eucken, die Mutter Irene machte sich später, ungewöhnlich für eine Frau vor dem Ersten Weltkrieg, als Malerin einen Namen. Bei der Hochzeit der Eltern 1882 war der damalige deutsche Kronprinz, der spätere „Hundert-Tage-Kaiser“ Friedrich III., Gast. Euckens Familie gehörte zum deutschen „Geistesadel“, dem durch eigene Leistung der Anschluss an die gesellschaftlichen Eliten des Kaiserreichs gelang.
Anfang des 20. Jahrhunderts nahm das Deutsche Reich in der wissenschaftlichen Forschung eine ähnlich dominante Spitzenposition ein wie heute die USA; der Großteil der Nobelpreise ging damals an deutsche Universitäten. Euckens Vater Rudolf erhielt ihn 1908 für sein literarisch-philosophisches Werk. Die Euckens führten ein gastfreies Haus in Jena, in dem sich die freundschaftlichen Kontakte, die beide Eltern über ihre unterschiedlichen Tätigkeitsfelder gewannen, verdichteten. Zu den Gästen gehörten etwa der Philosoph und Lehrer Martin Heideggers, Edmund Husserl, der trotz des Altersunterschiedes bis zu seinem Tode 1938 ein Freund Walter Euckens sein sollte, der belgische Jugendstilkünstler Henry van der Velde, die Maler Edvard Munch und Max Klinger sowie der Schweizer Maler Ferdinand Hodler. Auf dessen von Euckens Mutter angeregtem Gemälde „Auszug der Jenenser Studenten in den Befreiungskrieg 1813“ ist der damals siebzehnjährige Walter Eucken als Hauptfigur zu sehen.
In einem solchen Umfeld war ein akademischer Werdegang vorgezeichnet, der ältere Bruder Arnold etwa gehörte als Professor für Physikalische Chemie in Göttingen zur Spitzengruppe der deutschen Wissenschaftler in der Zwischenkriegszeit. Walter Eucken entschied sich für die junge Wissenschaft der Nationalökonomie und studierte sie zusammen mit Geschichte und Rechtswissenschaft an den Universitäten Kiel, Bonn und Jena. 1913 promovierte er bei Hermann Schumacher in Bonn mit einer Arbeit über Verbandsbildung in der Seeschifffahrt. In der Bonner Zeit formte er eine Freundschaft mit dem Maler August Macke. Eucken hatte selbstverständlich als Einjährig-Freiwilliger gedient; am Ersten Weltkrieg nahm der Reserveoffizier als Frontsoldat einer Artillerieeinheit in den Vogesen teil.
Der akademische Werdegang in der Weimarer Republik
Eucken habilitierte sich 1921 bei seinem akademischen Lehrer Schumacher, dem er als Assistent nach Berlin gefolgt war, mit einer Arbeit über die Bedeutung des Stickstoffes für die Weltwirtschaft. Wenig später begann Eucken, als Privatdozent jetzt zu selbständiger akademischer Lehre berechtigt, eigene Akzente zu setzen. 1920 heiratete er die später als Schriftstellerin tätige Edith Erdsieck (1896-1985), die er als Studentin kennengelernt hatte. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Finanziert wurden die junge Familie sowie die wissenschaftliche Arbeit – Privatdozenten erhielten nur die Hörergelder, aber kein eigenes Gehalt – durch seine Tätigkeit als Stellvertretender Geschäftsführer der Fachgruppe Textilindustrie beim Reichsverband der Deutschen Industrie. Diese Tätigkeit als Lobbyist bestärkte bei Eucken die Vorstellung, dass Machtzusammenballungen im wirtschaftlichen Bereich verhindert werden müssten. Wissenschaftlich beschäftigte sich Eucken in jenen Jahren – kaum zu vermeiden für einen deutschen Volkswirt in den Jahren der Hyperinflation – u.a. mit dem Problem der Geldentwertung. Deutlich erkennbar ist schon seine Neigung zur Theoriebildung, er bezieht Gegenpositionen zur theoriefeindlichen Historischen Schule der Nationalökonomie. Hierüber ergab sich eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke. In mehreren kleineren Aufsätzen, zum Teil unter Pseudonym, fragte Eucken nach einer sinnvollen Grundordnung für Staat und Gesellschaft. Gemeinsam war dieser Gruppe der Versuch einer Wiederbelebung wirtschaftsliberaler Vorstellungen, verbunden mit der Ablehnung staatlicher Interventionen. 1925 erfolgte der Ruf auf die Professur für Volkswirtschaftslehre an der Universität Tübingen, ehrenhaft auch deswegen, weil Tübingen eigentliche keine „Einstiegsuniversität“ für die erste Stufe einer akademischen Laufbahn war. In Tübingen fühlte sich Eucken aufgrund der personellen Konstellationen in seiner Fakultät nicht besonders wohl, so dass er 1927 einen Ruf nach Freiburg annahm.
In Freiburg fand Eucken den ihm adäquaten Wirkungskreis, was an der Zusammensetzung des Lehrkörpers lag. Mit Adolf Lampe, Hans Großmann-Doerth, Franz Böhm u.a. gab es eine Gruppe Rechts- und Staatswissenschaftler, die Freiburg damals zur innovativsten deutschen Universität im Bereich der Wirtschaftswissenschaften machte. Auch in benachbarten Fächern lehrten dort etwa mit Gerhard Ritter (Geschichte) oder Martin Heidegger (Philosophie) international bedeutsame Forscher. Sehr schnell ergab sich eine Zusammenarbeit, die bald zur persönlichen Freundschaft wurde, mit dem hauptsächlich im Bereich des Kartellrechts arbeitenden Hans Großmann-Doerth und dessen Assistenten Franz Böhm.
Wissenschaftliches Arbeiten und Widerstand in der NS-Zeit
Die nationalsozialistische Machtübernahme 1933 hatte sofort gravierende Auswirkungen auf die deutschen Universitäten. Jüdische Universitätslehrer wurden aus dem Amt gedrängt. Martin Heidegger, wissenschaftlich zweifellos einer bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, liebäugelte mit einer Rolle als spiritus rector der NS-Bewegung, übernahm das Rektorat der Universität und versuchte, das Führersystem an der Universität Freiburg durchzusetzen. Eucken wurde der maßgebliche Gegenspieler Heideggers innerhalb der Fakultät. Dieses Engagement ist umso höher zu bewerten, als Euckens Frau – in der NS-Terminologie eine „Halbjüdin“ – natürlich besonders gefährdet war. Der NS-Dozentenbund forderte, ihm die venia zu entziehen, konnte sich damit aber nicht durchsetzen. Eucken wurde in der NS-Zeit mehrfach durch die Gestapo verhört, entging jedoch der Verhaftung.
Die Zusammenarbeit mit Böhm und Großmann-Doerth führte zur Begründung der „Freiburger Schule“ in der Volkswirtschaftslehre. Kerngedanken sind die Begrenzung wirtschaftlicher Machtzusammenballung durch Kartellverbote und Förderung des Wettbewerbs. Der Staat soll lediglich die Spielregeln festlegen, sich aber selber des Eingriffs in den Wirtschaftsprozess enthalten. Planwirtschaft, egal ob in der sozialistischen Variante oder im Sinne der NS-Lenkungswirtschaft, wird abgelehnt, da sie den Wettbewerb unterbindet. Ähnliches gilt für staatliche Preisfestsetzungen für Güter oder Arbeitsleistung, da sie den Preisbildungsmechanismus der „Verkehrsgesellschaft“, so der Euckensche Terminus, ausschalte.
1939 entstand Euckens Hauptwerk „Die Grundlagen der Nationalökonomie“. In einer Arbeit, die jedes Zugeständnis in Form und Inhalt an den nationalsozialistischen Zeitgeist vermeidet, versucht Eucken den Nachweis, dass sich die historischen Wirtschaftsformen auf eine Grundanzahl von reinen Wirtschaftsordnungen reduzieren lassen. Die phänomenologische Ausgestaltung einer Volkswirtschaft ergibt sich dabei aus der unterschiedlichen Kombination dieser Grundformen. Angeregt haben Eucken zu diesem wirtschaftstheoretischen Systemansatz die umfassende philosophische Denkweise seines Vaters sowie musiktheoretische Überlegungen. Dabei wird auch eine klare Kritik an allen Formen der Planwirtschaft geübt, die ein zeitgenössischer Leser kaum missverstehen konnte. Aus heutiger wie aus damaliger Sicht ist es erstaunlich, dass ein solches Werk im Deutschen Reich gleich in mehrfachen Auflagen gedruckt werden konnte. Der im Exil an der London School of Economics lehrende österreichische Ökonom Friedrich von Hayek kommentierte nach der Lektüre eines aus Deutschland herausgeschmuggelten Exemplars, wie verwundert er sei, dass eine solche wissenschaftliche Unabhängigkeit des Denkens unter dem Nationalsozialismus noch möglich sei. Das durch die Arbeit entwickelte theoretische Instrumentarium erlaubte die vergleichende Analyse von Wirtschaftssystemen und fordert geradezu in einem nächsten Schritt dann eine konsequente Ordnungspolitik.
Die Opposition zum NS-Staat sowie der von ihm verfolgten Wirtschafts- und Rassenpolitik teilte Eucken mit vielen Freiburger Kollegen. Bei den größtenteils evangelischen Ordinarien ergaben sich Überschneidungen mit der innerkirchlichen Opposition der „Bekennenden Kirche“ gegen die NS-nahen „Deutschen Christen“. Diese dissentierenden Universitätslehrer organisierten sich in Debattierzirkeln, die sich gut als privatissime abgehaltene Seminare tarnen ließen, um die Genehmigungspflicht von Veranstaltungen zu unterlaufen. Eucken nahm deshalb mit seiner Frau am sogenannten Diehl-Zirkel teil, den der emeritierte Nationalökonom Karl Diehl mittwochs in seinen Privaträumen veranstaltete. 1938 gestaltete sich dieses Seminar unter dem Eindruck der Novemberpogrome zum „Freiburger Konzil“ um, in dem jetzt bewusst die Planungen für ein Deutschland nach Hitler vorangetrieben wurden. Über die Theologen des Kreises ergaben sich 1942 Kontakte zum wichtigsten Theologen der „Bekennenden Kirche“, Dietrich Bonhoeffer. Eucken war Teilnehmer am in den nächsten zwei Jahren tagenden „Bonhoeffer-Kreis“ sowie bei der „Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath“ 1943-1944, die in Fortsetzung einer aufgelösten Arbeitsgemeinschaft der Akademie für Deutsches Recht halblegal die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nach dem Krieg plante. Eucken arbeitete an den Denkschriften all dieser Gruppen mit, was unter den Bedingungen der NS-Diktatur ein existentielles Risiko bedeutete, da jede Denkschrift zur Nachkriegsplanung bei Entdeckung durch die Gestapo von einem NS-Juristen flugs zu Zweifeln am „Endsieg“ umgedeutet werden konnte und damit die tödliche Anklage der „Wehrkraftzersetzung“ nach sich zog.
Die wirtschaftliche Neuordnung nach dem Krieg
Nach der Kapitulation befand sich Freiburg in der französischen Besatzungszone. Sowohl die französische wie die amerikanische Militärregierung zogen Eucken zu zahlreichen Gutachten über die Situation der deutschen Wirtschaft bzw. Währung heran. Die eigentliche Wirkung entfalteten aber nicht diese Ausarbeitungen, sondern die während des Krieges formulierten Neuordnungsvorstellungen. Zwar waren etliche Mitstreiter der Kriegszeit tot – Großmann-Doerth war 1944 an der Ostfront gefallen, Adolf Lampe starb Ende 1948 an den gesundheitlichen Folgen der NS-Haft – aber der totale Zusammenbruch des NS-Staates bot auch die einmalige Chance zu einer wirtschaftspolitischen Neuausrichtung. Zuerst sah es freilich nach der Umsetzung sozialistischer Vorstellungen auch in den Westzonen aus, doch erwies sich die Möglichkeit, über den Frankfurter Wirtschaftsrat sowie die neugegründete CDU Einfluss zu nehmen, als entscheidend für die Durchsetzung der im Krieg formulierten Wirtschaftspolitik.
Mit Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack gelangten zwei Anhänger einer wirtschaftsliberalen Politik an Schaltstellen im entstehenden trizonalen Weststaat, Erhard wurde 1949 erster Bundeswirtschaftsminister, Müller-Armack sein Staatssekretär. Die meisten liberalen Wirtschaftstheoretiker fanden ihre politische Heimat in der Union und nicht in der FDP, was teilweise, so etwa bei Erhard, an einer realistischen Einschätzung der politischen Möglichkeiten der Liberalen lag. Ausschlaggebend war jedoch für die meist evangelischen Wissenschaftler wie Müller-Armack oder Franz Böhm die Rückbindung der CDU an das Christentum.
Eucken selbst sah sich als Wissenschaftler und entschied sich deshalb anders als sein Freund Böhm, der Landesminister und Bundestagsabgeordneter wurde, gegen einen Einstieg in die praktische Politik. Zusammen mit Böhm gründete er 1948 die Zeitschrift „Ordo“, die der wissenschaftlichen Richtung den Namen gab: „Ordoliberalismus“. In ihr wird seitdem der Gedanke der Wettbewerbsordnung, in der der Staat die Bedingungen für eine faire wirtschaftliche Konkurrenz zur effizienten Ressourcennutzung zum Schutz der Freiheit des Einzelnen vor einer übermächtigen Einflusskonzentration schafft, vertreten. Für den politischen Raum wurde der Ordoliberalismus mit den Forderungen der katholischen Soziallehre verschmolzen und war deshalb als „Kompromissideologie“ innerhalb der Union durchsetzbar. Für den Wahlkampf zu den ersten Bundestagswahlen 1949 prägte eine Arbeitsgruppe um Alfred Müller-Armack und den späteren Bundesfinanzminister Franz Etzel dafür den zugkräftigen Begriff der "Sozialen Marktwirtschaft" in den Düsseldorfer Leitsätzen der Union.
1950 übernahm Eucken auf Einladung von Hayeks einen Vorlesungszyklus an der London School of Economics. Während dieser Vortragsreise starb er überraschend an den Folgen einer verschleppten Grippeerkrankung. Posthum erschien 1952 sein zweites Hauptwerk „Grundsätze der Wirtschaftspolitik“, in der die Anforderungen an eine effiziente Wirtschaftspolitik systematisiert werden.
Curriculum vitae
- 17.01.1891 Geboren in Jena als Sohn des Philosophieprofessors und späteren Nobelpreis-Trägers Rudolf Eucken und der Malerin Irene Eucken
- 1909-1913 Studium der Fächer Nationalökonomie, Jura und Geschichte an den Universitäten Kiel, Bonn und Jena
- 1913 Promotion bei Hermann Schumacher in Bonn über „Die Verbandsbildung in der Seeschifffahrt“
- 1913-1914 Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger
- 1914-1918 Fronteinsatz als Artillerieoffizier in den Vogesen
- 09.12.1920 Heirat mit der späteren Schriftstellerin Edith Erdsieck (1896-1985)
- 1920-1924 Stellvertretender Geschäftsführer der Fachgruppe Textilindustrie beim Reichsverband der deutschen Industrie
- 1921 Habilitation bei Hermann Schumacher über „Die Stickstoffversorgung der Weltwirtschaft“
- 1921-1925 Privatdozent an der Universität Berlin
- 1925-1927 Ordentlicher Professor für Volkswirtschaftslehre und Statistik an der Universität Tübingen
- 1927 Ordentlicher Professor der Volkswirtschaftslehre an der Universität Freiburg
- 1942-1944 Mitarbeit im Freiburger Bonhoeffer-Kreis
- 1943-1944 Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath
- 1947-1950 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats
- 20.03.1950 Tod während einer Vortragsreihe an der London School of Economics
Veröffentlichungen
(Auswahl):
- Walter Eucken: Die Grundlagen der Nationalökonomie. 9. Aufl. Berlin 1989.
- Walter Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik. 7. Aufl. Stuttgart 2008.
- Walter Eucken: Unser Zeitalter der Misserfolge. Fünf Vorträge zur Wirtschaftspolitik. Tübingen 1951.
Literatur
- Lüder Gerken: Walter Eucken und sein Werk. Rückblick auf den Vordenker der sozialen Marktwirtschaft. Tübingen 2000. (Untersuchungen zur Ordnungstheorie und Ordnungspolitik 41).