Ende der Ära Adenauer
Zu Beginn der 1960er Jahre befindet sich die CDU in einer Phase des Umbruchs. Bei den Bundestagswahlen am 17. September 1961 verfehlen CDU und CSU die absolute Mehrheit, gegenüber den Wahlen vier Jahre zuvor verlieren sie fünf Prozentpunkte. Die FDP, die ihren Wahlkampf mit dem Slogan „Mit der CDU/CSU ohne Adenauer“ geführt hat, kann dagegen ihren Stimmenanteil von 7,7 auf 12,8 Prozent verbessern.
Konrad Adenauer, der sich zuvor lange gegen diesen Schritt gewehrt hatte, erklärt daraufhin seine Bereitschaft, in der Mitte der Legislaturperiode zurückzutreten. Spätestens nun muss sich die „Kanzlerpartei“ CDU auf einen Generationenwechsel an der Spitze einstellen.
Umbau der Parteispitze
Das Ergebnis der Bundestagswahlen forciert einen Reformprozess innerhalb der CDU, der bereits 1959 eingesetzt hatte. Auslöser ist der Streit um die Nachfolge Adenauers. Aufgrund dessen überragenden Einflusses und kraft seiner patriarchalen Autorität ist es bis dahin stets gelungen, divergierende Gruppeninteressen und unterschiedliche Standpunkte innerhalb der Partei auszugleichen. Dies ändert sich infolge der „Präsidentschaftskrise“ 1959: Im April 1959 bekundet Adenauer sein Interesse, sich vom Kanzleramt zurückzuziehen und sich in der Nachfolge Theodor Heuss zum Bundespräsidenten wählen zu lassen. Im Juni macht er diesen Schritt überraschend rückgängig. Der Grund für diese Kehrwende ist, dass Adenauer die Nominierung Ludwig Erhards zum Bundeskanzler-Kandidaten der Union verhindern will. Ungeachtet der großen Erfolge des Wirtschaftsministers glaubt Adenauer nicht an dessen Eignung zum Kanzler, besonders in der Außenpolitik hält er ihn für zu unerfahren. Der Rücktritt des betagten Bundeskanzlers von der Präsidentschaftskandidatur wird in der Öffentlichkeit als Beschädigung eines Verfassungsorgans gewertet. Bis hinein die die Spitzen der CDU, die dem Kanzler bis dahin stets loyal gefolgt ist, kritisieren viele seinen Unwillen, den Weg für einen Nachfolger freizumachen. Mitglieder der Parteiführung sowie CDU-Landespolitiker wie Helmut Kohl (Rheinland-Pfalz) oder Kai-Uwe von Hassel (Schleswig-Holstein) fordern nun eine Parteireform mit dem Ziel der Stärkung der innerparteilichen Willensbildung und einer Modernisierung der Führungsstrukturen der CDU. Ludwig Erhard, der neben Adenauer prägendste Politiker der CDU in den 1950er Jahren, ist an den Diskussionen über strukturelle Reformen der Partei allerdings nicht beteiligt. Seine Aufmerksamkeit gilt eher politischen Sach- als Fragen der Parteiorganisation.
Durch das Bundestagswahlergebnis 1961 erhält die parteiinterne Debatte neuen Auftrieb. Überlegungen zur Reform der Partei und ihrer Führungsstrukturen prägen den 11. Bundesparteitag der CDU, der vom 2. bis 5. Juni 1962 in Dortmund stattfindet. Adenauer wird hier zwar erneut zum Parteivorsitzenden gewählt, doch ihm zur Seite stehen nun erstmals mit Josef-Hermann Dufhues ein „geschäftsführender Bundesvorsitzender“ und Kai-Uwe von Hassel als dessen Stellvertreter. Wegweisend für die weitere Entwicklung der Partei wird darüber hinaus der Beschluss zur Einführung eines Parteipräsidiums. Mit dem Präsidium entsteht erstmals ein offizielles Führungsgremium, das regelmäßig tagt und die maßgeblichen Köpfe der Partei in sich vereinigt. Längerfristig gesehen bedeutet dies einen entscheidenden Schritt hin zu einer Pluralisierung der Führungsstrukturen der CDU.
Neben Adenauer, Dufhues und von Hassel gehören dem ersten CDU-Präsidium auch Ludwig Erhard, Theodor Blank, Eugen Gerstenmaier und Heinrich Krone an.
Kanzlerwechsel
Der Rücktritt Adenauers vom Kanzleramt und die Wahl Ludwig Erhards am 16. Oktober 1966 stellen die CDU vor neue Herausforderungen. Erstmals seit der Gründung der Partei ist der Vorsitzende nicht auch Inhaber des mächtigsten Staatsamtes. Bis dahin war von dieser Kombination stets auch eine disziplinierende Wirkung auf die Mitglieder und Funktionäre der CDU ausgegangen. Doch im Gegensatz zu seinem Vorgänger unterschätzt Erhard zunächst die Bedeutung der Partei für die machtpolitische Absicherung seiner Regierung. Nach seiner Wahl zum Bundeskanzler erklärt er, er habe „weder den Ehrgeiz noch die Absicht“, neben dem Kanzleramt auch den Parteivorsitz zu übernehmen. Die Verbindung beider Ämter halte er „für etwas problematisch“. Das Amt des Parteivorsitzenden übt deshalb weiterhin der bereits 87-jährige Adenauer aus.
Dass Ludwig Erhard den Parteivorsitz zunächst nicht anstrebt, hängt mit seinem Selbstverständnis als „Volkskanzler“ zusammen. In seiner Regierungserklärung vom 17. Oktober 1963 kündet er an, er habe sich „über alle Parteiungen hinweg als Sachwalter des ganzen Volkes zu fühlen und aus dieser Verantwortung heraus zu handeln“. Ziel seiner Kanzlerschaft sei es „eine Politik der Mitte und Verständigung“ zu betreiben, die einen Ausgleich zwischen organisierten Interessen anstrebt. Erhards Auffassung von Politik ist vom Grundsatz her ur-liberal, das heißt individualistisch. Dies zeigt sich beispielsweise auch darin, dass er im November 1964 vor dem CDU-Bundesvorstand erklärt, Mitglieder einer Partei seien ja „ganz schön“, aber im Grunde genommen „wollen wir gar keine Mitgliederpartei werden. Wir wollen nämlich nicht die Apparaturen herrschen lassen, sondern wir wollen verantwortungsbewusste Männer an der Spitze des Staates stehen haben.“
Politische Herausforderungen
Nach dem Amtsantritt Erhards scheint es ihm zunächst zu gelingen, die Partei hinter sich zu vereinen. Fünf Monate nach dem Wechsel im Kanzleramt wird er beim Bundesparteitag in Hannover (14.-17. März 1964) mit dem besten Ergebnis aller Kandidaten (481 gegen 3 Stimmen) erneut ins Präsidium gewählt. Seine Rede, mit der er die CDU als „Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft“ und als junge, soziale Partei vorstellt, steht im Zentrum des Parteitages.
Mittelfristig gesehen erweisen sich Erhards Verzicht auf den Parteivorsitz und sein auf Ausgleich und Kompromiss angelegtes Naturell jedoch als Problem, das seine Kanzlerschaft nachhaltig belastet. Eine Schwierigkeit besteht dabei darin, dass Adenauer von der Spitze der Partei aus gleichsam als „Nebenkanzler“ agiert und stetig dazu beiträgt, die Autorität des ungeliebten Nachfolgers zu schwächen. Hinzu kommen neue politische Herausforderungen. Veränderungen der weltpolitischen Lage zwingen die Bundesrepublik zu einer Positionsbestimmung zwischen Frankreich und den USA. Während der französische Staatspräsident de Gaulle ein „Europa der Vaterländer“ zu einer eigenständigen „dritten Kraft“ neben den USA und der Sowjetunion ausbauen möchte, fordern die USA einen deutlicheren Beitrag der Bundesrepublik zu einer west-östlichen Entspannungspolitik. Die unterschiedlichen außenpolitischen Präferenzen, die mit einer Befürwortung einer dieser Positionen einhergehen, entzweien als Konflikt zwischen „Atlantikern“ und „Gaullisten“ die führenden Köpfe der Unionsparteien. Dass es Erhard nicht gelingt, die tiefgreifenden Differenzen einzuebnen, wird ihm nicht nur parteiintern, sondern auch in der Öffentlichkeit als Führungsschwäche ausgelegt. Erhard selbst ist, anders als Adenauer, ein überzeugter „Atlantiker“, der der Beziehung zu den USA stets Vorrang vor rein europäischen Präferenzen einräumt.
Im Zuge des Auseinandertretens außenpolitischer Vorstellungen kommt es innerhalb der CDU zu weiteren Spannungen, zum Beispiel zwischen Protestanten und Katholiken, zwischen Wirtschaftsliberalen und Christlich-Sozialen, zwischen Landesverbänden und Bundes-CDU. In der Öffentlichkeit entsteht nun das Bild einer „zerstrittener Staatspartei“, die anscheinend mehr und mehr in unterschiedliche Machtzentren und Interessengruppen zerfällt.
Bundestagswahl 1965
Ungeachtet der innerparteilichen Kontroversen führen die Unionsparteien im Bundestagswahljahr 1965 einen konzentrierten Wahlkampf, der ganz auf den „Vater der Sozialen Marktwirtschaft“ Ludwig Erhard ausgerichtet ist. Einen großen Anteil daran, dass es gelingt, im Vorfeld der Wahl das notwendige Maß an Geschlossenheit zu erreichen, hat der geschäftsführende Bundesvorsitzende Josef Herman Dufhues. Für die eigentliche Organisation des Wahlkampes zeichnet Bundesgeschäftsführer Konrad Kraske verantwortlich. Vor allem wegen der Popularität Erhards erreicht die Union am Wahltag, dem 19. September 1965, den zweithöchsten Wahlsieg in ihrer Geschichte. 47,6 Prozent aller Wähler stimmen für CDU und CSU, für die SPD mit ihrem Spitzenkandidaten Willy Brandt entscheiden sich dagegen nur 39,3 Prozent der Wähler. Die FDP kann ihr gutes Wahlergebnis von 1961 nicht halten, ihr Stimmenanteil beträgt jedoch noch 9,5 Prozent.
Obwohl der Wahlausgang als Verdienst Ludwig Erhards gewertet wird, gelingt es ihm nicht, aus dem Erfolg dauerhaft Kapital zu schlagen. Bereits im Zuge der Regierungsbildung büßt er erneut Autorität ein, da er der FDP, auf die er sich bereits frühzeitig als Koalitionspartner festgelegt hat, große Zugeständnisse macht - was ihm Teile der CDU wiederum verübeln. In der Union stärkt dies die Stimmen derjenigen, die bereits seit längerem für die Bildung einer Großen Koalition plädieren. Einer der Wortführer dieser Gruppe ist der nach wie vor einflussreiche Adenauer. Auch der Streit um die außenpolitische Ausrichtung der Bundesrepublik gewinnt bald nach der Bundestagswahl erneut an Schärfe.
Erhards Wahl zum CDU-Bundesvorsitzenden
Ludwig Erhards Kandidatur zum CDU-Parteivorsitzenden stellt in dieser Situation den Versuch dar, seine Kanzlerschaft zu stabilisieren und seine parteiinternen Gegner auszuschalten. Nachdem seit Ende 1965 feststeht, dass Adenauer nicht erneut für das Amt zur Verfügung stehen wird, gibt Erhard seine Absicht bekannt, den Vorsitz der CDU zu übernehmen. Vor dem CDU-Bundesvorstand erklärt er am 16. Februar 1966, er glaube, „dass es eine gute und bewährte Übung in alten gewachsenen Demokratien ist, dass das Amt der Regierungschefs zusammenfällt mit dem Vorsitz der die Regierung tragenden Partei.“ Rainer Barzel, der aufstrebende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der zuvor seine Ambitionen auf den Parteivorsitz angekündigt hat, zieht seine Bewerbung zurück.
Auf dem CDU-Bundesparteitag in Bonn wird Ludwig Erhard am 23. April zum neuen Bundesvorsitzenden gewählt. 413 von 548 Delegierten stimmen für ihn. Mit der Wahl tritt eine erneute Satzungsänderung in Kraft, die dem Vorsitzenden einen ersten stellvertretenden Vorsitzenden zur Seite stellt sowie zwei weitere Stellvertreter. In diese Ämter gewählt werden Rainer Barzel (erster stellvertretender Vorsitzender) sowie Kai-Uwe von Hassel und Paul Lücke (zweite stellvertretende Vorsitzende). Konrad Adenauer wird per Akklamation zum Ehrenvorsitzenden der CDU ernannt, er erhält auf Lebenszeit Sitz und Stimme in allen Parteigremien.
Für die Zukunft der Partei gibt Erhard nach seiner Wahl die Parole aus „Zusammenstehen, vorausdenken, arbeiten, arbeiten und nochmals arbeiten“. „Ludwig Erhard fast am Ziel“ kommentiert die Presse das Ereignis. Doch es kommt anders.
Rücktritt
Der Verlust der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 10. Juli 1966 ist ein politischer Rückschlag, der am Selbstverständnis der CDU nagt. Besonders hart trifft es die Partei, dass Teile der katholischen Stammwählerschaft zur SPD wechseln. Zusammen mit einer Verschlechterung der konjunkturellen Lage führt das Wahlergebnis dazu, dass die Kanzlerschaft Erhards mehr und mehr umstritten ist. Im Herbst 1966 ist das öffentliche Erscheinungsbild der Union durch inhaltliche Kontroversen und den Streit um die Führungsspitze stark beeinträchtigt. Zum Sturz Erhards führt schließlich der Rückzug der FDP-Minister aus der Bundesregierung am 27. Oktober 1966. Differenzen über den Haushaltsausgleich 1967 haben zum Ausscheiden der Liberalen aus der Regierungskoalition geführt. Da Erhard immer betont hat, für eine Kleine Koalition mit der FDP, nicht aber für einen Zusammenschluss mit der SPD zur Verfügung zu stehen, ist nun klar, dass seine Kanzlerschaft keine Zukunft mehr hat. Nachdem auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion von ihm abrückt, gibt er am 30. November 1966 seinen Rücktritt als Bundeskanzler bekannt. Das Amt des CDU-Vorsitzenden behält er noch bis zum Bundesparteitag in Braunschweig im Mai 1967.