Am 28. August 1948 fuhr der parteilose Ludwig Erhard von Frankfurt nach Recklinghausen, um erstmals auf einem Parteitag zu sprechen. Ein halbes Jahr zuvor hatte ihn der Wirtschaftsrat der Bizone in Frankfurt zum Direktor der Verwaltung für Wirtschaft gewählt. Es waren turbulente Wochen, in denen Erhard sein Amt antrat. Auch drei Jahre nach dem Krieg litten große Teile der Bevölkerung noch immer unter einer mangelhaften Versorgung. Nach dem Hungerwinter 1946/47 war auch das gesamte Jahr 1947 noch kritisch. Hamsterfahrten gehörten zum Alltag, und in Köln wurde das „Fringsen“ zum geflügelten Wort für kleinere Diebstähle. Die Reichsmark war wertlos geworden, stattdessen beherrschte der Schwarzmarkt den Handel mit fast allem. Auch die wirtschaftliche Produktion kam nicht auf die Füße, Demontagen und Produktionsbeschränkungen der Besatzungsmächte erschwerten die Lage zusätzlich.
Die sich abzeichnende Konfrontation zwischen der Sowjetunion und den Westmächten bewirkte jedoch vor allem bei den Amerikanern ein Umdenken. Anstatt die deutsche Wirtschaft weiter zu beschränken, sah man spätestens seit Sommer 1947 in einem raschen Wiederaufbau und starkem Wirtschaftsaufschwung ein Bollwerk gegen die Bedrohung aus dem Osten. Im Juni 1947 propagierte zum einen der amerikanische Außenminister George C. Marshall ein umfassendes Hilfsprogramm für Europa. Rund drei Milliarden US-Dollar flossen im Rahmen des Marshall-Plans bis 1952 in die Bundesrepublik und unterstützen den wirtschaftlichen Aufschwung. Zum anderen waren sich die Westalliierten einig, dass eine rasche Reform der Währung notwendig sei, um die Inflation zu stoppen und den Wiederaufbau und auf eine solide Grundlage zu stellen.
Auseinandersetzungen über die zukünftige Wirtschaftsordnung
Das Umdenken der Besatzungsmächte und der Wille zum Wiederaufbau wurden im Frankfurter Wirtschaftsrat fraktionsübergreifend begrüßt. Unklar blieb damit aber noch, nach welchen Regeln eine künftige deutsche Wirtschaftspolitik gestaltet werden solle. So waren allenthalben sozialistische Ideen en vogue. Selbst in der CDU wurden heftige Debatten um die künftige Wirtschaftsordnung geführt. Hintergrund waren die unterschiedlichen politischen Strömungen, die in der neu gegründeten CDU zusammentrafen.
Auf der einen Seite setzten sich Vertreter des Gewerkschaftsflügels um Karl Arnold, Johannes Albers und Jakob Kaiser für einen christlichen Sozialismus ein. Andererseits gab es auch Vertreter aus protestantisch-bürgerlichen Kreisen, die wirtschaftsnahe Vorstellungen aus dem deutschen Liberalismus in die CDU trugen und die in Gewerkschaftskreisen weitverbreiteten Verstaatlichungsideen ablehnten. Das Ahlener Programm aus dem Jahr 1947 stellte einen ersten Kompromiss dar und vereinigte Ideen des christlichen Sozialismus – Kartellgesetzgebung, Vergesellschaftung der Bergwerke, Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer – mit liberalen Grundsätzen. Weitergehende Sozialisierungsvorstellungen konnten so abgewehrt und ein Auseinanderfallen der CDU in den Grundfragen der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik verhindert werden.
Im Frankfurter Wirtschaftsrat wurde Ludwig Erhard zum Wortführer jener Strömungen, die in einer marktwirtschaftlichen Ausrichtung der Wirtschaftspolitik die einzige Alternative zur Gesundung der deutschen Wirtschaft sahen. Schon 1944 hatte Erhard dafür plädiert, „die künftige Friedenswirtschaft nach einer möglichst kurzen Übergangszeit aus den Fesseln der staatlichen Bevormundung zu lösen“. Ziel sei „in jedem Falle die freie, auf echtem Leistungswettbewerb beruhende Marktwirtschaft“.
Leitsätzegesetz und Währungsreform
Im Frühjahr 1948 wurde damit gerechnet, dass eine Währungsreform kurz bevor stehe. Das genaue Datum wurde von den Besatzungsmächten jedoch unter Verschluss gehalten und selbst den Direktoren des Wirtschaftsrats nicht genannt. Mit Blick auf die kommende Währungsreform erklärte Erhard bereits in seiner ersten Grundsatzrede als Wirtschaftsdirektor am 21. April 1947, dass diese nur dann dauerhaften Aufschwung bringen könne, wenn sich gleichzeitig auch die Preise – entsprechend den Marktgesetzten – dem Warenangebot anpassten. Für Erhard musste der Währungsschnitt in jedem Fall mit weitgehenden wirtschaftlichen Reformen einhergehen.
In den folgenden Wochen konzipierte Erhard mit Unterstützung einiger weniger Vertrauter, darunter Walter Strauß, Leonhard Miksch und Alfred Müller-Armack, das sogenannte Leitsätzegesetz. Es sollte die gesamte künftige Wirtschaftspolitik bestimmen und sah insbesondere die Aufhebung zahlreicher Bewirtschaftungsmaßnahmen und die Freigabe der Preisbindung vor, wobei Hauptnahrungsmittel, Strom, Gas und Kohle ausdrücklich ausgenommen wurden, um Versorgungsengpässe zu verhindern. Das Gesetz war nicht unumstritten, da es insbesondere für Erhard weitgehende Befugnisse enthielt. So konnten er und der Direktor für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Hans Schlange-Schöningen (CDU), nach eigenem Ermessen bestimmen, welche Waren von der Preisbindung ausgenommen werden sollten.
Im Juni sickerte der Termin für die Währungsreform durch: Am 20. Juni sollte die alte Reichsmark ihre Gültigkeit verlieren und durch die Deutsche Mark ersetzt werden. Um sein Gesetz aber gleichzeitig mit der Währungsreform verkünden zu können, ließ Erhard das Leitsätzegesetz in einer dramatischen Nachtsitzung vom 17. auf den 18. Juni 1948 im Wirtschaftsrat beraten. Mit den Stimmen von CDU/CSU, DP und FDP wurde es angenommen. Der Wirtschaftsrat hatte damit mehrheitlich – gegen die Stimmen von SPD und KPD – die Weichen für ein marktwirtschaftlich orientiertes System gestellt. An sich hätte das Gesetz noch der Zustimmung des Länderrats bedurft, und auch die Besatzungsmächte waren nicht involviert. Das war Erhard ebenso bewusst wie die Tatsache, dass man keine Zeit verlieren dürfe, wenn die Reformen ihre Wirkung nicht verlieren sollten.
So ließ Erhard am 19. Juni durch seinen Pressesprecher Kuno Ockhardt im Radio verkünden, dass in Kürze zahlreiche Bewirtschaftungsmaßnahmen und Preisbindungen beseitigt würden. Zwei Tage später wurde Erhard zum Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone, Lucius D. Clay, gerufen, um sich für seine Eigenmächtigkeit zu rechtfertigen. Erhard hatte Tatsachen geschaffen und sich damit über Besatzungsrecht hinweggesetzt. Die Besatzungsmächte ließen ihn jedoch gewähren, zumal insbesondere die Amerikaner seiner Reform grundsätzlich positiv gegenüberstanden. Auch der Länderrat nahm noch am gleichen Tag das Gesetz an.
Der Weg war somit frei, und Erhard trat selbst vor die Mikrophone, um der Bevölkerung der Bizone die Reformen zu erläutern. Am 25. Juni wurde eine Vielzahl von Preisen freigegeben, wenige Tage später, zum 1. Juli, wurden zahlreiche Güter von der Bewirtschaftung befreit. Die Kopplung von Währungsreform und Leitsätzegesetz verfehlte ihre Wirkung nicht: Über Nacht waren die Auslagen prall gefüllt.
Ludwig Erhards Plädoyer für eine sozial gebundene Marktwirtschaft
Konrad Adenauer und Ludwig Erhard waren sich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht oft begegnet. Das erste Treffen fand vermutlich am 4. Juni 1948 im Rahmen der Fraktionssitzung der CDU/CSU im Frankfurter Wirtschaftsrat statt. Für Erhard war es eine bedeutende Sitzung, weil er hier den Abgeordneten erstmals das Leitsätzegesetz vorstellte. Wie Adenauer zu diesem Zeitpunkt zu Erhards Reformen stand, ist nicht bekannt, doch wird in der Literatur vermutet, dass Adenauer, wie es seinem Charakter entsprach, eher skeptisch auf die kommenden Wochen blickte. Doch mit dem Erfolg der Reformen wurde Adenauer schnell klar, dass sich Erhard als Glücksfall für die Christlich-Demokratische Union erweisen könnte. Kurzerhand lud Adenauer den „Liberalen“ Erhard zum zweiten Parteitag der CDU in der britischen Zone nach Recklinghausen ein.
Das Thema Wirtschaftspolitik überließ der Vorsitzende in Recklinghausen gänzlich dem Wirtschaftsdirektor und erklärte lediglich, dass die Wirtschaftspolitik zu den bedeutenden Themen zähle, die in den nächsten Monaten zu beraten seien. Erhard machte indessen mit seiner Rede – der längsten des gesamten Parteitags – auf Adenauer großen Eindruck, deckten sich doch die Analysen des Parteivorsitzenden mit denen des Wirtschaftsdirektors. So grenzte sich Erhard scharf von sozialistischen Ideen ab und stellte sein Konzept als einzige Alternative zur Planwirtschaft dar:
„Entweder wir verlieren die Nerven und gehen dieser gehässigen demagogischen Kritik nach, dann sinken wir zurück in den Zustand der Sklaverei. … Dann kommen wir zurück in die Planwirtschaft, die stufenweise aber sicher zur Zwangswirtschaft, zur Behördenwirtschaft bis hin zum Totalitarismus führt.“
Er vollbrachte das Kunststück, Optimismus und Aufbruchstimmung zu verbreiten. An den linken Flügel der Partei machte er entscheidende Zugeständnisse als er erklärte:
„Nicht die freie Marktwirtschaft des liberalistischen Freibeutertums …, sondern die sozial verpflichtete Marktwirtschaft, die das einzelne Individuum zur Geltung kommen lässt, die den Wert der Persönlichkeit oben anstellt und der Leistung dann aber auch den verdienten Erfolg zugute kommen lässt, das ist die Marktwirtschaft moderner Prägung.“
Auf Erhards Rede folgten langanhaltender Applaus und Bravo-Rufe. Mit seinen Worten konnte sich auch der CDU-Vorsitzende identifizieren, und es verband sie das gemeinsame Ziel, Deutschland vor sozialistisch-marxistischen Experimenten zu schützen. Im Kampf gegen Sozialismus und Kollektivismus war die Freiheit der Person das höchste Gut – darin waren sich Erhard und Adenauer einig. In der Folge von Recklinghausen wuchs das gegenseitige Vertrauen, und Adenauer band Erhard zunehmend in die Parteiarbeit ein. Schon im anstehenden nordrhein-westfälischen Kommunalwahlkampf trat Erhard immer wieder als Redner auf. Beiden war dabei immer klar, dass sie voneinander abhängig waren: So hatte sich die CDU einerseits Erhards Reformen zu Eigen gemacht. Erhard wiederum konnte diese nur mit Hilfe der CDU durchsetzen.
Ordoliberale Wurzeln
Die Formel einer „sozial verpflichteten Marktwirtschaft“ wurde in Recklinghausen erstmals in einer öffentlichen politischen Rede gebraucht. Gleichwohl waren die Gedanken, die Erhard umzusetzen gedachte, keineswegs originär, sondern gingen auf die Ideen der ordoliberalen „Freiburger Schule“ zurück, wie sie unter anderem von Walter Eucken, Franz Böhm oder Wilhelm Röpke vertreten wurden. Im Kern wandten sie sich gegen einen Laisser-faire-Kapitalismus und forderten stattdessen staatliche Regelungen, um Monopolbildungen und Kartellabsprachen zu verhindern. Flankierende sozialpolitische Maßnahmen sollten diejenigen schützen, die wegen Krankheit, Invalidität oder Alter im freien Spiel der Marktkräfte unterlegen waren. Der Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ ging indessen nicht auf Erhard, sondern auf Alfred Müller-Armack zurück, der schon in seinem 1947 veröffentlichten Buch „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“ diese Formel geprägt hatte.
Kritik an Erhards Ausführungen äußerte in Recklinghausen allein Johannes Albers, der als Vorsitzender der Sozialausschüsse dem linken Parteiflügel angehörte: „Der rauschende Beifall für Professor Erhard sollte den Parteitag nicht über eine kritische Stimmung in weitesten Verbraucher- und Arbeitsnehmerschichten hinwegtäuschen. … Wenn die Preise den Löhnen davonlaufen, wird die Gefahr schwerer sozialer Konflikte heraufbeschworen.“
Albers hatte nicht ganz unrecht. So hatten Erhards Reformen dazu geführt, dass die Preise massiv anstiegen, was in erster Linie darauf zurückzuführen war, dass die Menschen nach Jahren der Entbehrungen ihr Geld schnell ausgeben wollten, die Unternehmen aufgrund des schlechten Zustands vieler Anlagen mit der Produktion aber kaum hinterherkamen und die Nachfrage nicht decken konnten. Verschärft wurde die Situation dadurch, dass die Löhne eingefroren blieben, um sie konkurrenzfähig zu halten. Lohn- und Preisentwicklung klafften somit immer weiter auseinander.
Für die Unternehmen hingegen war diese Entwicklung von Vorteil, denn sie machten mehr Gewinne als erwartet, da viele Rohstoffe weiter bewirtschaftet wurden und die Preise damit stabil blieben. Gewinne konnten sie wiederum in neue Anlagen investieren, was den Aufschwung verstärkte und beschleunigte. In der Bevölkerung herrschte dennoch – völlig nachvollziehbar – großer Unmut, zumal man nicht absehen konnte, dass die Inflation von nur kurzer Dauer sein würde.
Durchsetzung der Sozialen Marktwirtschaft als Leitbild der CDU
Im Oktober wurde der Lohnstopp aufgehoben und die Preissteigerungen hatten zur Jahreswende ihren Höhepunkt überschritten. Die guten Ergebnisse für die CDU bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein verschafften Erhard ebenfalls Luft. Die zunehmend positive Entwicklung führte dazu, dass auch in der französischen Besatzungszone die Bewirtschaftung aufgegeben wurde. Doch obwohl sich diese Entwicklung abzuzeichnen begann und die Aufhebung des Lohnstopps längst beschlossen war, riefen die Gewerkschaften am 12. November zum Generalstreik: neun Millionen Arbeiter legten für 24 Stunden die Arbeit nieder.
Widerstand gegen seine Wirtschaftspolitik gab es nicht nur bei den Gewerkschaften und teilweise in den Ländern, sondern auch im Wirtschaftsrat: Am 16. August und am 12. November 1948 brachte die SPD einen Misstrauensantrag gegen Erhard ein, der jedoch mit den Stimmen von CDU und FDP abgelehnt wurde.
Zum Befreiungsschlag entwickelte sich schließlich eine von Adenauer einberufene Tagung in Königswinter am 8. und 9. Januar 1949. Ein weiteres Mal wurde Erhard eingeladen, um für sein Konzept zu werben. Für seine Rede, die noch pointierter war als jene in Recklinghausen, erntete er viel Lob. Auch der Vorsitzende erklärte: „Heute aber kann man doch das eine feststellen: dass die Prinzipien, die Herr Erhard uns dargelegt hat und nach denen er arbeitet und handelt, wirklich gute Prinzipien sind.“
In Königswinter wurde die Soziale Marktwirtschaft endgültig zum Programm und Leitbild der CDU. Auf Vorschlag Adenauers sollte Erhards Rede für den bevorstehenden ersten Bundestagswahlkampf gedruckt werden. Darüber hinaus dienten Erhards Ausführungen als Grundlage für die Ausarbeitung wirtschaftspolitischer Leitsätze. Zu diesem Zweck wurde eine Programmkommission zusammengestellt, die unter Leitung von Franz Etzel in den kommenden Monaten das Wirtschaftsprogramm der CDU formulierte. Die „Wirtschaftspolitischen Leitsätze der CDU“ wurden am 15. Juli 1949 in Düsseldorf vorgestellt und gingen als „Düsseldorfer Leitsätze“ in die Geschichte der CDU ein.
Literatur:
- Erhard, Ludwig: Deutsche Wirtschaftspolitik. Der Weg der Sozialen Marktwirtschaft. (Reden und Aufsätze) Düsseldorf/Wien 1962.
- Geppert, Dominik: Die Ära Adenauer. 3., bibliographisch aktualisierte Auflage. Darmstadt 2012.
- Heitzer, Horstwalter: Die CDU in der britischen Zone 1945-1949. Gründung, Organisation, Programm und Politik. Düsseldorf 1988.
- Hentschel, Volker: Ludwig Erhard. Ein Politikerleben. München/Landsberg am Lech 1996.
- Koerfer, Daniel: Kampf ums Kanzleramt. Erhard und Adenauer. Stuttgart 1987.
- Metz, Andreas: Gemeinschaft mit beschränkter Haltbarkeit. Adenauer und Erhard 1948/49. In: Historisch-Politische Mitteilungen, Heft 5/1998. S. 49-81.
- Metz, Andreas: Die ungleichen Gründungsväter. Adenauers und Erhards langer Weg an die Spitze der Bundesrepublik. Konstanz 1998.
- Schwarz, Hans-Peter: Adenauer. Der Aufstieg: 1876-1952. Stuttgart 1986.