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Zentrum und Erster Weltkrieg – vom Burgfrieden zur Regierungsverantwortung

by Kordula Kühlem
Es sollte „der größte Krieg, welchen die Welt bisher gesehen hat“, werden, wie der Zentrumspolitiker Carl Bachem im Rückblick schrieb – mit bis zu diesem Zeitpunkt unvorstellbaren Folgen: 9 Millionen Soldaten und 6 Millionen Zivilisten starben durch bis dahin unbekannte Massenvernichtungswaffen bis hin zum Giftgas. Eine unfassbare Bilanz, unfassbar auch dadurch, dass Europa und die Welt nicht darauf vorbereitet waren.

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Zwischen Krise und Krieg nach dem Attentat von Sarajewo

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs am 1. August 1914 kam, wie für die meisten Menschen, auch für die Politiker der Zentrumspartei überraschend. Das Attentat von Sarajewo, die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand und seiner Frau am 28. Juni 1914, war zwar als „eines der verabscheuungswürdigsten Verbrechen der ganzen Weltgeschichte“ – so die parteinahe „Germania“ am 30. Juni – verdammt worden. Doch die meisten hofften noch am 28. Juli 1914, als Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärte, auf den Erhalt des europäischen Friedens – so auch der Zentrumspolitiker Wilhelm Marx. Nach den Kriegserklärungen des Deutschen Reichs an Russland und Frankreich am 1. August erhielt Marx in der Nacht vom 3. auf den 4. August ein Telegramm, das ihn, wie alle Mitglieder des Reichstags, aufforderte, am nächsten Tag zu einer Sondersitzung des Parlaments nach Berlin zu kommen.

Die Abgeordneten versammelten sich am Nachmittag des 4. August zuerst im Weißen Saal des Königlichen Schlosses zur Ansprache des Kaisers und dessen berühmten Worten, die er schon am 31. Juli vom Balkon des Stadtschlosses verkündet hatte: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“ Diese Rede Wilhelm II., das Treuebekenntnis der Parteiführer in die Hand des Kaisers und das gemeinsame Absingen der Hymne „Heil Dir im Siegerkranz“ beeindruckte auch Zentrumspolitiker.

Ergriffenheit und Einigkeit reichten noch in die anschließende Reichstagssitzung hinein. Aus Patriotismus und wegen der Überzeugung, einen Verteidigungskrieg zu führen, war für das Zentrum die Zustimmung zu den Kriegskrediten so selbstverständlich, dass keine Erklärung dazu erfolgte. Sicherlich stimmten die Reichstagsabgeordneten in die Begeisterung des gesamten Plenums im Anschluss an die Rede des Sozialdemokraten Hugo Haase ein, der für seine Fraktion verkündete: „Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich.“ Mit diesen Worten beendete der Fraktionsvorsitzende die Einverständniserklärung zu den Kriegskrediten für die SPD, die vorher noch nie einem Reichshaushalt zugestimmt hatte.

Nicht nur die Sozialdemokraten, denen das Signum „Reichsfeinde“ noch immer anhaftete, sondern auch die Zentrumspolitiker setzten Hoffnungen auf den durch Kaiserrede und Einigkeit im Reichstag ausgerufenen Burgfrieden. Die Katholiken erwarteten von der postulierten Volksgemeinschaft endlich ihre Gleichstellung und Anerkennung. Schließlich war die Erinnerung an den erst 1887 beendeten Kulturkampf, der Zentrumspartei und katholische Kirche benachteiligt und behindert hatte, noch immer sehr präsent, genauso wie die kaiserlichen Worte von den „vaterlandslosen Gesellen“ aus dem Jahr 1897.

 

Erste Risse im Burgfrieden

Dieser 4. August 1914 war nicht nur der Tag von Kaiserrede und Burgfrieden, sondern auch der Tag, an dem mit Großbritannien die letzte der europäischen Großmächte in den Krieg eintrat. Damit zeichnete sich nicht nur das globale Ausmaß des kommenden Krieges ab, sondern auch, dass die von so vielen erwartete kurze Dauer der Kampfhandlungen eine Täuschung sein würde. Als der Reichstag am 2. Dezember 1914 das nächste Mal zusammentrat, hatte sich durch die deutsche Niederlage in der Schlacht an der Marne Anfang September und den Übergang vom Bewegungs- zum Stellungskrieg die Lage bereits in Richtung eines langfristigen Krieges verändert. Erst jetzt hatte auch der Fraktionsvorsitzende der Zentrumsfraktion im Reichstag die Möglichkeit, die nationale Haltung seiner Partei zu betonen. Peter Spahn verkündete: „In dem uns freventlich aufgedrungenen schwersten aller Kriege wollen wir durchhalten, bis ein Friede errungen ist, der den ungeheuren Opfern entspricht, welche das deutsche Volk gebracht hat, und der uns dauernden Schutz gegen alle Feinde gewährleistet“ und dafür „die Rücksicht auf das Wohl des deutschen Vaterlandes allem anderen voranstellen“.

Diese Rede verdeutlicht schlaglichtartig die Haltung des Zentrums. Aufgrund der Überzeugung, einen „aufgedrungenen“, also einen Verteidigungskrieg führen zu müssen, gab es in der katholischen Partei so gut wie keine pazifistischen Strömungen. Von der Notwendigkeit des Krieges blieb die Mehrheit der Partei auch weiterhin überzeugt, obwohl die Zahl der Opfer immer höhere, bisher unbekannte Größen annahm und die Form des Tötens durch die Materialschlacht, die neuen Massenvernichtungswaffen und schließlich den ersten tödlichen Einsatz von Giftgas im April 1915 stetig an Schrecklichkeit zunahm.

Doch neben der patriotischen Haltung fehlte bereits in dieser Rede Spahns vom 2. Dezember 1914 der Hinweis auf die „zahlreiche(n) Wünsche für Gesetzgebung und Verwaltung“ der Zentrumspartei nicht, denn im weiteren Verlauf des Krieges versuchte die Partei, die ausgerufene Volksgemeinschaft auch dafür zu nutzen, immer noch bestehende, ausgrenzende Aspekte gegenüber Katholiken in der Politik abzuschaffen.

Der Burgfrieden bekam erste Risse – auch innerhalb des Zentrums, in dem, wie in den anderen Parteien auch, durchaus vorhandene Richtungsstreitigkeiten während der ersten Kriegsmonate geruht hatten. Die ersten Differenzen ergaben sich bereits im Herbst 1914 durch beginnende Proteste, vor allem des rheinischen Arbeitnehmerflügels, wegen der einsetzenden Engpässe bei der Versorgung, im Weiteren durch die Haltung zu den Kriegszielen allgemein und der Kriegszieldiskussion im Besonderen. Dabei hielt sich die Parteiführung zurück; auf einer Sitzung des Rheinischen Provinzialausschuss im April 1916 wurden die zentrumsnahen Presseorgane ausdrücklich aufgefordert, sich mit propagandistischen Artikeln zurückzuhalten. Doch mit dieser Haltung konnte die Zentrumsführung sich nicht durchsetzen. Nach der Freigabe der Kriegszieldiskussion durch die Reichsregierung am 28. November 1916 trat die in dieser Frage besonders aktive „Kölnische Volkszeitung“ verstärkt hervor und veröffentlichte am 21. Mai 1917 unter der Überschrift „Was will der deutsche Frieden?“ weitausgreifende Annexionswünsche.

 

Wendepunkt – die Friedensresolution 1917

Zu dieser Zeit, im Frühsommer 1917, traten die Differenzen im Zentrum bereits sehr deutlich zutage. Durch die Erklärung des uneingeschränkten U-Boot-Kriegs am 1. Februar 1917, den darauf folgenden Eintritt der USA in den Krieg am 6. April 1917 und die damit noch einmal deutlich gemachte Wandlung von einem europäischen zum Weltkrieg sowie die Aussicht auf einen vierten Kriegswinter hatten sich die Umstände verschärft.

Mit einer schonungslosen Darstellung der Kriegssituation, auch unter Einschluss der Weitergabe von vertraulichen Materialien, überzeugte Matthias Erzberger aus der Führungsgruppe der Reichstagsfraktion das Zentrum, dem Interfraktionellen Ausschuss mit Mehrheitssozialdemokraten, Fortschrittlicher Volkspartei und Nationalliberalen beizutreten. In einer Sitzung am 12. Juli beschloss die Fraktion auch die Zustimmung zur Resolution des Reichstags vom 19. Juli 1917 für einen „Frieden der Verständigung und des Ausgleichs“, nicht ohne Gegenstimmen und Differenzen, wie der Zusammenbruch des 71-jährigen Fraktionsvorsitzenden Peter Spahn in der Sitzung bildlich vor Augen führte.

Noch einmal erklärte der Reichsparteiausschuss, der erst im Februar 1914 als oberstes Parteigremium geschaffen worden war, am 23./24. Juli seine Zustimmung zur Friedensresolution. Danach wurde dieses Bekenntnis abgelöst durch die Unterstützung der Antwortnote der Reichsregierung auf den Friedensaufruf von Papst Benedikt XV. vom 1. August 1917. Doch auch der Appell des Papstes verhallte in den Wirren des andauernden Krieges.

In den nächsten Monaten war die Zentrumspolitik weiter von einer starken inneren Zerrissenheit geprägt. Das zeigte sich nicht nur in der Haltung zu Frieden und Kriegszielen, sondern äußerte sich beispielsweise in den unterschiedlichen Ansichten zur Aufhebung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen, die Kaiser Wilhelm II. in seiner Osterbotschaft 1917 versprochen hatte. Die Unterschiede zwischen den konservativen Kräften, die teilweise – ohne seine Zentrumsmitgliedschaft aufzugeben übernahm Clemens Freiherr von Loë-Bergerhausen den Vorsitz des rheinischen Landesverbandes – in die nationalistische Deutsche Vaterlandspartei eintraten, und den fortschrittlichen Strömungen vertieften sich. Im Zusammenhang mit einer Tagung in Bochum im Juni 1918, die nicht nur durch ihren Versammlungsort Parallelen zu einer Zusammenkunft progressiver Zentrumsmitglieder im Februar 1914 hervorrief, stand die Möglichkeit einer Spaltung im Raum, das Wort von der „Schicksalsstunde“ (Heinrich Brauns) geisterte durch die katholische Partei. Dabei stand den Zentrumspolitikern sicherlich auch das Beispiel der SPD vor Augen, die durch die Gründung der USPD, der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei, im Frühjahr 1917 auseinandergebrochen war.

 

Auf dem Weg zur Regierungsverantwortung

Auf der anderen Seite wurde das Zentrum mehr und mehr in die politische Verantwortung mit eingebunden, wie die Berufung Peter Spahns zum preußischen Justizminister im August 1917, die Wahl Constantin Fehrenbachs zum Reichstagspräsidenten im Juni 1918 und vor allem die Ernennung Georg von Hertlings zum Reichskanzler am 1. November 1917 zeigten. Mit dem ehemaligen Vorsitzenden der Reichstagsfrakton übernahm zum ersten Mal ein Zentrumspolitiker das Amt des Regierungschefs im Deutschen Kaiserreich. Die Aufhebung des Jesuitengesetzes im April 1917, einem der letzten Überreste des Kulturkampfes, war politisch zwar weniger relevant, für die Katholiken aber eine nicht zu unterschätzende symbolische Geste.

Insgesamt hatte das Zentrum somit bereits „Regierungsfähigkeit“ (Rudolf Morsey) bewiesen, als nach der Regierungsübernahme durch Max von Baden am 3. Oktober 1918 drei ihrer Mitglieder – Adolf Gröber, Matthias Erzberger und Karl Trimborn – in das Kabinett eintraten.

Mit der Parlamentarisierung, die durch diese neue Regierung eingeleitet und die Verfassungsänderung am 28. Oktober festgeschrieben wurde, waren die Wünsche selbst der fortschrittlichen Kräfte des Zentrums auf politische Veränderungen erfüllt. Ein Sprachrohr dieser Parteiströmung, die „Westdeutsche Arbeiterzeitung“, forderte in ihrer Ausgabe vom 1. November 1918 „Keine Revolution“, doch dieser Aufruf verhallte in den Demonstrationen und Aufständen der ersten Novembertage, die am 9. November 1918 in die Ausrufung der Republik mündeten.

Trotzdem übernahm das Zentrum weiterhin staatstragende Verantwortung. Ein Politiker aus ihren Reihen, Matthias Erzberger, setzte am 11. November 1918 im Wald von Compiègne seine Unterschrift unter den Waffenstillstand; sein Parteikollege Johannes Bell sollte am 28. Juni 1919 einer der Unterzeichner des Friedensvertrags von Versailles sein.

Gleichzeitig bekannte sich die katholische Partei in ihren neuen Leitzsätzen vom 30. Dezember 1918 zur „Schaffung einer neuen Verfassung (…) auf demokratischer (…) Grundlage“ mit einem freien Wahlrecht für alle Bürger und auch Bürgerinnen. In den nächsten Jahren, der Zeit der Weimarer Republik, war das Zentrum an fast allen Regierungen beteiligt. Mit der „Machtergreifung“ am 30. Januar 1933 durch Adolf Hitler endete diese Verantwortungsübernahme, endgültig besiegelt durch die Auflösung der Partei am 5. Juli 1933.

 

Ausblick

Die Haltung von ehemaligen Zentrumspolitikern im Zweiten Weltkrieg musste eine völlig andere sein als im Ersten Weltkrieg. Viele frühere Parteimitglieder und andere christliche Politiker standen deutlich weniger überzeugt hinter dem neuen Krieg, gepaart mit – teilweise auch aktivem – Widerstand gegen das kriegshetzerische und menschenverachtende Regime der Nationalsozialisten. Aus diesen Widerstandskreisen rekrutieren sich viele der Personen, die nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ die Gründung einer neuen christlichen, überkonfessionellen Partei, der CDU, mit betrieben.

In der 1949 neugegründeten Bundesrepublik Deutschland wird die Erinnerung an den Ersten durch die noch größeren Schrecken des Zweiten Weltkriegs überlagert. Durchaus im Unterschied zu anderen europäischen Ländern wie z. B. Großbritannien und Frankreich, wo dem „Great War“ oder „Grand Guerre“ bis heute noch viel stärker gedacht wird.

Bei vielen verschiedenen Anlässen und noch in seiner letzten öffentlichen politischen Rede am 16. Februar 1967 im Ateneo in Madrid erinnerte der erste Bundeskanzler und erste Bundesvorsitzende der CDU, Konrad Adenauer, an die Lehren des Krieges von 1914, „an dessen Ende Deutschland völlig isoliert, ohne Freunde dastand“, und die daraus resultierende Erkenntnis, „dass Deutschland und Frankreich zusammenfinden müssten, um eine Einigung der europäischen Staaten vorzubereiten und zu ermöglichen, wenn Europa Glück und Gedeihen finden solle“.

 

Literatur:

  • Karl Bachem: Vorgeschichte, Geschichte und Politik der Deutschen Zentrumspartei, VIII. Band. Köln 1931.
  • Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Berlin 2003.
  • Das Erbe der Gewalt. Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs und was sein langer Schatten heute bedeutet. Die Politische Meinung. Sonderausgabe Nr. 1 (April 2014).
  • Heinz Hürten: Deutsche Katholiken 1918–1945. Paderborn u. a. 1992.
  • Manfred Koch: Die Zentrumsfraktion des Deutschen Reichstages im Ersten Weltkrieg. Zur Struktur, Politik und Funktion der Zentrumspartei im Wandlungsprozeß des deutschen Konstitutionalismus 1914–1918. Diss. phil. Mannheim 1984.
  • Martin Lätzel: Die Katholische Kirche im Ersten Weltkrieg. Zwischen Nationalismus und Friedenswillen. Regensburg 2014.
  • Wilfried Loth: Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen Deutschland. Düsseldorf 1984.
  • Heinrich Lutz: Demokratie im Zwielicht. Der Weg der deutschen Katholiken aus dem Kaiserreich in die Republik 1914–1925. München 1963.
  • Ursula Mittmann: Fraktion und Partei. Ein Vergleich von Zentrum und Sozialdemokratie im Kaiserreich. Düsseldorf 1976.
  • Rudolf Morsey: Die Deutschen Zentrumspartei 1917–1923. Düsseldorf 1966.
  • Bestand der Deutschen Zentrumspartei im ACDP: 06-051

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