Die vielen oberflächlichen Superlative – Rekordhalter unter den Ministerpräsidenten mit insgesamt 23 Jahren Regierungszeit in Rheinland-Pfalz und Thüringen, Langzeitmitglied des CDU-Bundesvorstandes, der Spitzenmann in der CDU, dessen Bruder Hans-Jochen Vogel SPD-Vorsitzender und Kanzlerkandidat war – beschreiben zwar, wie außerordentlich und einzigartig die Karriere des gebürtigen Göttingers war, aber sie werden dem Mensch Bernhard Vogel eben so wenig gerecht, wie der schöne Titel des gemeinsamen Lebensrückblickes mit seinem Bruder: „Deutschland aus der Vogelperspektive“. Denn so analytisch scharf sein Verstand war, so sehr er mit politischen Geistesgrößen wie seinem Freund Hans Maier, mit Theologen, mit Wissenschaftlern auf Augenhöhe leidenschaftlich gerne debattierte, so im besten Sinne des Wortes bodenständig war Bernhard Vogel. Niemals von „oben herab“, immer zuhörend, nicht für die oberflächliche, schnelle Meinung zu haben, eher für den differenzierten Blick. Und wenn schon Polemik, die im politischen Betrieb im Sinne einer lebendigen Streitkultur nicht immer vermeidbar ist, dann niemals der harte Säbel, sondern das, was er selbst „Stiletto-Polemik“ genannt hat.
Ausgezeichnet hat ihn immer der Versuch, Mauern gar nicht erst entstehen zu lassen und stattdessen Brücken zu bauen, Verbindungen zwischen Menschen zu knüpfen und Verbundenheit zu schaffen. Frauen und Männer, die ihn gut kannten, werden bestätigen: Niemals hat er Menschen, die seinen Weg begleitet haben, einfach leichtfertig „fallen“ gelassen und teils Jahrzehnte Treue und Zugewandtheit gezeigt. Für ein gemeinsames Glas Wein, eine gemeinsame Wanderung, eine Skatrunde, für die Nachfrage, „wie es der Familie und den Kindern“ geht war trotz aller Beanspruchungen immer Zeit. Wer den Satz unterschreiben würde, es gäbe keine Freunde in der Politik hat ganz sicher Bernhard Vogel nicht gekannt.
Er hat mit solchen Charaktereigenschaften nicht nur die Politik der beiden Länder, die ihm anvertraut waren, Rheinland-Pfalz und Thüringen, er hat nicht nur die Konrad-Adenauer-Stiftung als parteinahe Stiftung in einer Weise geprägt die bis weit in die Zukunft hinein Spuren hinterlassen wird. Er hat zugleich die Politik unseres Landes geprägt und bleibt als Ausnahmepolitiker in Erinnerung. Dabei hat Bernhard Vogel, der bei dem renommierten Politikwissenschaftler Dolf Sternberger in Heidelberg promoviert wurde, wie er später selbst sagte, nicht „im Traum“ daran gedacht, Politiker zu werden.
Eigentlich strebte er eine Habilitation und ein Leben als Hochschullehrer an. Er infiziert sich schließlich doch – wie sein älterer Bruder, der SPD-Politiker Hans-Jochen Vogel – mit dem „Virus“ der Politik. Er gab dem Drängen eines Freundes nach und kandidierte für den Heidelberger Stadtrat. Aus diesen kommunalpolitischen Anfängen in der Baden-württembergischen Universitätstadt werden mehr als 23 Jahre, die Bernhard Vogel dem südwestdeutschen Land Rheinland-Pfalz in den verschiedensten Positionen gewidmet hat: Erst als Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Speyer und als Bezirksvorsitzender der CDU Pfalz. Dann wird er 1967 im Alter von gerade einmal 34 Jahren – als Teil der „jungen Wilden“, der „glorreichen Vier“ von Helmut Kohl - Kultusminister von Rheinland-Pfalz und muss dieses Amt in der für diesen Fachbereich nicht gerade einfachen 68er Zeit ausüben. Das tut er mit dem Umbau des Schulsystems und der Gründung der Universität Trier/Kaiserslautern konsequent und erfolgreich.
Und schnell erringt er auch nationale Geltung, nicht zuletzt ab 1972 als Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Sein Katholizismus gehörte immer sehr deutlich zu seinem Selbstverständnis als CDU-Politiker. Er begegnet fast allen Päpsten, pflegt mit Bischöfen und Kardinälen von Doepfner bis Lehmann engste Verbindungen, aber er scheut auch nicht davor zurück, Akzente aus der Laienperspektive gegen den Klerus zu setzen, wenn ihm sein eigenes Gewissen das auferlegt. Aus Überzeugung wird er nach dem Ausstieg der Bischofskonferenz aus der sogenannten Beratungslösung bei Abtreibung zum Gründungsmitglied von Donum Vitae.
1974 wird er Landesvorsitzender der CDU in Rheinland-Pfalz. 1976 folgt er Helmut Kohl, mit dem er seit den Zeiten des gemeinsamen Studiums in Kontakt stand, als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz nach. So sehr er sich gegen den damaligen Wunschkandidaten Helmut Kohls, Heiner Geißler, durchgesetzt hat, so sehr blieben Helmut Kohl und Bernhard Vogel einander freundschaftlich eng verbunden.
So wie Helmut Kohl, der als nur 39-jähriger Politiker in dieses Amt kommt, so ist auch Bernhard Vogel mit seinen 44 Jahren zu dieser Zeit noch immer ein ungewöhnlich junger Landesregierungschef. Dennoch erlangt er, so wie er das später auch als „Wessi“ in Thüringen eindrucksvoll schaffen wird, ungewöhnlich schnell das Attribut des „Landesvaters“. „Unaufhörlich und ohne aufgeregten Lärm“ schafft es Bernhard Vogel, den notwendigen Strukturwandel und eine stete Modernisierung in diesem Land voranzutreiben und damit auch bundespolitische Akzente zu setzen. Dafür ist die Medienpolitik, die Bernhard Vogel als Vorsitzender der Rundfunkkommission der Ministerpräsidenten verantwortet, ein ganz besonders eindrucksvolles Beispiel: Unter seiner Führung spielt das Land eine besondere Rolle als Versuchslabor bei der Einführung des dualen Rundfunksystems aus öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern mit dem „Kabelpilotprojekt“ Ludwigshafen. Dass wir es heute mit einer vergleichsweise diversen Medienlandschaft zu tun haben, war damals auch der Innovationsfreude Bernhard Vogels zu verdanken. Gleiches gilt für seine Rolle in der Bildungs- und Sozialpolitik, in der er Akzente setzte, die bis heute anerkannt werden.
So sehr die politischen Erfolge ihn prägen, so sehr wächst er aber auch an schweren Belastungen, die ihn in dieser Zeit treffen und menschlich an Grenzen bringen. Da ist im September 1977 die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer durch die RAF, mit dem Bernhard Vogel eng befreundet war und die ihn vor eine Zerreißprobe stellt. Er versucht der Familie Trost zu spenden, weiß aber zugleich, dass die Position, die sein Bruder, zu dieser Zeit Bundesjustizminister, zu vertreten hat, dass sich der Staat von Terroristen nicht erpressen lassen darf, richtig ist.
Noch viel schwerer für ihn ist, schon zum Ende seiner Amtszeit hin in Rheinland-Pfalz der 28. August 1988 als über der US-Militärbasis Ramstein an einem fröhlichen sonnigen „Tag der offenen Tür“ drei Flugzeuge einer italienischen Kunstflugstaffel zusammenstoßen und abstürzen. Eine davon gerät brennend in die Zuschauermenge. Am Ende sterben 70 Menschen, 1.000 Menschen werden verletzt und sind zum Teil für ihr Leben gezeichnet. Bernhard Vogel zeigt in diesen schweren Tagen viel Präsenz vor Ort, betet und fühlt mit den Menschen und vertraut auf die Kraft des Glaubens, der ihm so wichtig ist: "Nur, wenn es einen Gott gibt, können wir das Schreckliche aushalten. Wenn wir nur auf uns selbst hoffen, endet unsere Hoffnung an unseren Grenzen."
Nach zwölf Jahren erfolgreicher Gestaltung, in der es ihm immerhin zweimal gelingt, für seine CDU die absolute Mehrheit zu holen, handelt er, nachdem Parteifreunde auf einem Landesparteitag in Koblenz nach dem Rückgang der Wahlergebnisse seine Abwahl als Landesvorsitzender der CDU betrieben hatten, konsequent. Der in der Bevölkerung noch immer sehr beliebte Ministerpräsident erklärt nicht nur seinen Rücktritt, sondern gibt auch sein Landtagsmandat ab. Dieses Erlebnis trifft ihn tief. Als er später gefragt wird, was „Koblenz 1988“ für ihn bedeutet habe, antwortet er knapp: „Wunden heilen, aber Narben bleiben“. Sein berühmter emotionaler Satz an diesem Abend, „Gott schütze Rheinland-Pfalz“ erweist sich, vor allem auch was die CDU anbetrifft als leider lange prophetisch. An die Erfolge ihres früheren Landesvaters kann die Partei lange nicht anknüpfen.
1989 wird er Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung und ist damit in einer deutschlandpolitischen Schlüsselstellung. Gemeinsam mit Helmut Kohl erlebt er den Abend des Mauerfalls in Warschau, bei einem Abendessen mit dem polnischen Premierminister am Vorabend der Eröffnung des ersten Landesbüros der Stiftung in Polen. Sehr bald nach der Grenzöffnung in Deutschland leistet die Konrad-Adenauer-Stiftung unter seiner Führung wertvolle Unterstützungsarbeit beim Aufbau politischer Strukturen und beginnt mit der Politischen Bildungsarbeit auf dem Gebiet der DDR. Dabei kommt ihm zugute, dass er immer neben seiner landespolitischen Tätigkeit eine wichtige Rolle in der Deutschlandpolitik gespielt hat. Bernhard Vogel hat erstens vor dem Fall der Mauer zur damals kleiner werdenden Anzahl jener Politiker gehört, die am Ziel der nationalen Einheit festgehalten hat. Zugleich war er immer aber auch im Sinne des Erhalts der kulturellen Einheit, die ein bedeutender Bestandteil, ja auch in gewisser Weise eine Voraussetzung für die Wiedergewinnung der nationalen Einheit war, wie nur wenige andere Politiker darum bemüht, eigene Kontakte in die DDR zu unterhalten, die er im Rahmen von intensiven Privatreisen in die DDR festigte. Reisen, die ihm die ungeteilte Aufmerksamkeit der Staatssicherheit eintrugen, die seine Aktivitäten in der DDR lückenlos überwachte und die ihn auch ins Visier der Staatsspitze rückten. Es war Erich Honecker persönlich, der ihm 1982 nach Äußerungen von Bernhard Vogel über Defizite des Denkmalerhalts in der DDR die Einreise untersagt.
Mit offiziellen Kontakten zur Staatsführung hatte sich Bernhard Vogel deshalb sehr lange zurückgehalten. Und als es nach der Regierungsübernahme der CDU auf der Bundesebene dann doch zu diesen Kontakten kam, blieb Vogel nicht nur distanziert, sondern nutzte einen dann entstehenden Gesprächsfaden mit Erich Honecker, den Vogel nach der Bundestagswahl 1987 im Auftrag von Helmut Kohl aufgenommen hatte, zum Klartext und sprach den Staats- und Parteichef offen auf die menschenverachtenden Zustände an der innerdeutschen Grenze an. Er tat dies in einer Deutlichkeit, die nur wenige andere Politiker zuvor an den Tag gelegt hatten. Das trug ihm nach der friedlichen Revolution und dem Fall des Eisernen Vorhanges insbesondere auch bei Bürgerrechtlern einen nicht geringen Grad der Glaubwürdigkeit ein. Dass die Adenauer-Stiftung unter seiner Führung in der Übergangszeit mit schnell etablierten Strukturen der Politischen Bildung wertvolle Aufbauarbeit in der Transformationszeit geleistet hat, ist heute unbestritten. Aber nicht nur die Tatsache, dass Bernhard Vogel schon vor dem Mauerfall kein Unbekannter in Thüringen war, sondern auch seine Eigenarten als Politiker stießen schnell auf positive Resonanz.
Kurz nach der Amtsübernahme in Thüringen im März 1992 fragte der Journalist Günter Gaus Bernhard Vogel nach seinen wichtigsten Motiven für den Entschluss, sich politisch zu engagieren und die Politik zu seinem Beruf zu machen. Das sei, so Vogel, „das Gefühl, dort im politischen Bereich (…) dringender gebraucht zu werden als auf einem Lehrstuhl oder dergleichen. Ferner verspüre er den Reiz, „gestalten zu können, Lösungen durchsetzen zu können, von denen ich subjektiv meine, dass es auch die richtigen Lösungen sind“. Und nicht zuletzt verweist Vogel in dem Interview auch darauf, dass es „ein bißchen auch (…) Pflichtbewußtsein“, sei, dass ihn leite. Zum 70. Geburtstag von Bernhard Vogel schrieb der frühere Bundespräsident Roman Herzog, er sei „ein besonderer Politiker, weil er ein lebendes Beispiel dafür ist, dass sich Toleranz und Grundsatztreue, Pflichterfüllung und Offenheit, Realismus und Zuversicht nicht ausschließen müssen.“
Diese ausgleichende und ausgewogene Art ermöglichte ihm, den Menschen in Thüringen das zu geben, was sie seiner Auffassung nach dringend benötigten: Hoffnung und Selbstvertrauen! „Unser Ziel ist klar“, so leitete er drei Wochen nach seiner Vereidigung als Thüringer Ministerpräsident seine erste Regierungserklärung ein: „Thüringen, das Land in der Mitte Deutschlands, muss zum voll entwickelten, gleichwertigen Land im Kreis der deutschen Länder und zum selbstbewussten Gliedstaat der Bundesrepublik Deutschland werden“. Damit formulierte Bernhard Vogel ein ambitioniertes Ziel, das in dieser Zeit trotz erster Leuchttürme wie der Jenoptik in Jena und Opel in Eisenach noch schwer erreichbar schien. Zum Symbol für die großen Schwierigkeiten des Umstrukturierungsprozesses in den jungen Ländern und zu einer der ersten harten Bewährungsproben für den neuen Amtsinhaber wurde die Schließung des Kalibergbaus in Bischofferode, deren Umstände auch Bernhard Vogel tief erschütterten: „Ich habe die häßliche Fratze des Kapitalismus gesehen“, sagt er damals. Mit dem Hungerstreik, den Bergleute aus Protest für den Erhalt ihrer Grube einlegen, erregte dieses Ereignis bundesweit Aufsehen.
Bernhard Vogel muss in dieser schwierigen Situation das Kunststück vollbringen, Verbundenheit mit den Menschen vor Ort zu zeigen und Zuversicht bei jenen zu wecken, die ihre Zukunftsperspektiven schwinden sehen, zugleich muss er aber die Einsicht in den unvermeidlichen Strukturwandel schaffen und stärken. Dabei trat eine Fähigkeit Bernhard Vogels zutage, die ihn schon in seinen Rheinland-Pfälzer Zeiten ausgezeichnet hat: Seine Bodenständigkeit und Nahbarkeit. Dem Kontakt vor Ort mit den Kalikumpeln und ihren Angehörigen ging er nicht aus dem Weg, so wie er bei allen Veranstaltungen und Begegnungen stets ansprechbar ist. Schon bald führt er in Thüringen eine „Erfindung“ aus seiner rheinland-pfälzischen Zeit ein, mit der er gleich nach seinem Amtsantritt begann: Die „Kreisbereisungen“. Auf diesem Weg lernt er die Probleme des Landes ebenso „hautnah“ kennen, wie er auch die Chancen erlebt, die sich vor Ort bieten.
Bernhard Vogel setzte in diesem Zusammenhang sehr konsequent auf einen weiteren Standortfaktor in Thüringen – im wahrsten Sinne des Wortes. Vogel weiß, dass die zentrale Lage des Freistaates als Logistikstandort, die viele Zentrallager und Speditionsgroßbetriebe in das Land lockt, eine entscheidende Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg ist. Besonders viel Kraft investierte Bernhard Vogel deshalb in den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur des Landes und setzt sich ab 1998 vehement gegen Pläne der neuen SPD-geführten Bundesregierung ein, einige der „Verkehrsprojekte Deutsche Einheit“ in Frage zu stellen. Insbesondere der Vorschlag, die ICE-Schnellbahnstrecke doch nicht über Erfurt zu führen, kratzt am Landesbewusstsein, was Bernhard Vogel zu einem der Hauptpunkte des Wahlkampfes für die Landtagswahl 1999 macht, die er mit 51,0 Prozent und so mit einem „Erdrutsch“-Ergebnis für sich entscheiden kann, das man sich angesichts der heutigen Wahlergebnisse kaum noch vorstellen kann.
Es ist dieses Landesbewusstsein, auf das Bernhard Vogel immer wieder verweist und dass er ganz bewusst anspricht und respektiert. In seinen Reden macht er deutlich, dass Thüringen im Gegensatz zu einigen westdeutschen Länderneugründungen alles andere als ein neues Land sei. Wenn überhaupt dann sei das Land ein „junges Land“. Ebenso deutlich wendet er sich gegen die Einstufung des Freistaates als ostdeutsches Land. Diese Differenzierung hindert ihn allerdings nicht daran, sich als überzeugter Föderalist für eine gleichberechtigte Behandlung der neuen Länder im Gefüge der Bundesrepublik einzusetzen. So hat er nicht nur großen Anteil am Zustandekommen des Solidarpaktes II, sondern er tut sich vor allem auch als einer der beiden Vorsitzenden der Föderalismuskommission von Bundestag und Bundesrat hervor und als solcher setzt er sich vehement für die Verlegung von Bundesbehörden in die jungen Länder ein.
Im Bereich der Kulturpolitik wird es zu seinem „Meisterstück“, dass es dem Freistaat gelingt mit Weimar 1999 die Europäische Kulturhauptstadt zu beherbergen. Das Projekt, das zwischenzeitlich wegen seiner stetig wachsenden (nicht zuletzt finanziellen) Dimensionen auch Ablehnung im Land erfährt, wird zu einem überragenden, ja überwältigenden Erfolg. Das war nicht zuletzt auch deshalb der Fall, weil es im Rahmen dieses Jahres geradezu beispielhaft gelang, die Nähe zwischen dem Geist der Klassik und dem Ungeist des Nationalsozialismus in Weimar zu thematisieren. Das steht wiederum beispielhaft für das Geschichtsbewusstsein Vogels, der in seiner Zeit an der Heidelberger Universität auch erwogen hatte, sich in Neuerer Geschichte zu habilitieren.
Bernhard Vogel begreift das Konzentrationslager Buchenwald während seiner Amtszeit als stetige Aufforderung die Freiheit gegen die Feinde der Freiheit zu verteidigen. Dem entspricht seine bemerkenswerte Reaktion als im Februar 2000 die Jüdische Landesgemeinde, mit der Thüringen als erstes der neuen Länder bereits 1993 einen Staatsvertrag abgeschlossen hatte, mit einem Brandanschlag auf die Erfurter Synagoge angegriffen wird: Er beschließt, dass fortan in jedem Jahr die Demokratiezufriedenheit in Thüringen mit einer Umfrage, dem sogenannten „Thüringen-Monitor“ gemessen und dann im Rahmen einer Regierungserklärung diskutiert wird. Aus dieser Idee ist nicht nur eine Tradition geworden, die seine Nachfolger allesamt bis heute fortgesetzt haben. Vielmehr ist dieses Projekt unter identischem Namen als Sachsen-Monitor oder als Brandenburg-Monitor heute in nahezu allen neuen Ländern verbreitet und leistet einen wichtigen Beitrag zur politischen Kultur. Immer hat er sich gegen die allzu oberflächliche Betrachtung gewehrt, Extremismus sei vor allem ein Problem der neuen Länder. Zugleich ist er aber nach seiner Amtszeit nie müde geworden vor der erstarkenden AfD zu warnen.
Zum schwersten Moment seiner Amtszeit in Thüringen und zur bedrückendsten Erfahrung wird der 26. April 2002. Ein 19-jähriger junger Mann, der zuvor der Schule verwiesen worden war, tötete am Erfurter Gutenberg-Gymnasium, zwölf Lehrerinnen und Lehrer, zwei Schüler, die Schulsekretärin und einen Polizisten und dann sich selbst. In dieser bedrückenden Situation schafft es Bernhard Vogel einerseits mit großer Präsenz und Sensibilität Mitgefühl und trotz der Schwere der Tat auch Hoffnung zu vermitteln, andererseits aber auch den Eindruck einer politischen Lähmung oder gar des Aktionismus zu vermeiden, indem er überlegt und abgewogen für die notwendigen rechtlichen Konsequenzen aus diesem unvorstellbaren Verbrechen auch auf der Bundesebene, beispielsweise bei der Änderung des Waffenrechtes, eintritt. Seine „Katastrophenfestigkeit“, die er in Ramstein 14 Jahre zuvor „erwerben“ musste hat ihm bei dieser weiteren dunklen Stunde seiner Amtszeiten sicher geholfen.
Nach elf Jahren seiner Zeit als Ministerpräsident, die er trotz solcher Tiefen später bei der Verleihung des Thüringer Verdienstordens als die erfülltesten Jahre seines Lebens bezeichnen wird, gelingt ihm ein in der Politik ganz besonders seltenes „Kunststück“. Er schafft einen völlig reibungslosen und harmonischen Übergang auf seinen langjährigen Kultusminister und CDU-Fraktionsvorsitzenden Dieter Althaus. Seine Erfahrungen von 1988 in Rheinland-Pfalz, die ihn persönlich tief getroffen haben, mögen bei diesem sanften Wechsel eine wichtige Rolle gespielt haben.
Bernhard Vogel hat, wenn man ihn in den Jahren nach dem Rücktritt 2003 nach seiner Beziehung zu Thüringen befragt hat, immer wieder gerne den berühmten Satz Saint-Exupérys aus dem „Kleinen Prinzen“ zitiert: „Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was Du Dir vertraut gemacht hast.“ Vertraut hat er sich das Land tatsächlich gemacht. Bis heute ist er in Thüringen nicht einmal mit dem Vorwurf konfrontiert worden, er sei ein Westimport. Auch wenn Bernhard Vogel später wieder seinen Hauptwohnsitz in Speyer bezogen hat, wo er nun ja verstorben ist, ist aus dem in Göttingen geborenen, in München aufgewachsenen leidenschaftlichen Rheinland-Pfälzer ein echter Thüringer geworden. Den Kontakt nach Thüringen hat er dementsprechend auch nach seinem Rücktritt nicht verloren.
Bis zuletzt, solang es ihm gesundheitlich gelang, hat er seine diversen Ämter als jeweiliger „Ehrenvorsitzender“, sei es nun der der Thüringer CDU oder der Adenauer-Stiftung, immer sehr ernst genommen. Bis zuletzt gab es keinen einzigen Grundsatzprogrammprozess der CDU, an dem Bernhard Vogel nicht in irgendeiner Form beteiligt war. Bei der Verabschiedung des 2024er Programms besuchte er letztmals einen Bundesparteitag der CDU.
Ganz besonderen Anteil hat er auch noch am Aufbau der siebten Gedenkstiftung des Bundes, der Bundeskanzler-Helmut-Kohl-Stiftung genommen und ihre Einrichtung mit Rat und Tat begleitet. Einer seiner letzten öffentlichen Auftritte galt der Stiftung, die im Rathaus von Speyer die Vorstellung der Memoiren Bernhard Vogels, die er noch beenden konnte, zum Anlass nahm, gemeinsam mit dem Enkel Kohls, Johannes Volkmann, über die politische Gegenwart zu debattieren, vor allem aber die besondere Beziehung noch einmal lebendig werden zu lassen, die er zu Helmut Kohl gepflegt hat.
Gelegentlich ist Bernhard Vogel gefragt worden, ob er – so wie sein Studienfreund Kohl - nach Höherem gestrebt hätte, was dieser stets mit der Antwort versehen hat, er habe sich darauf konzentriert Ministerpräsident zu sein und dies auch bleiben wollen. Der Amtsnachfolger Bernhard Vogels als Vorsitzender bei der Adenauer-Stiftung Hans-Gert Pöttering hat in einer Festschrift zum 80. Geburtstag Vogels geschrieben: „Augenzwinkernd sage ich gerne zu Bernhard Vogel – auch öffentlich: Ministerpräsident in zwei Ländern gewesen zu sein – dazu im Westen wie im Osten unseres Landes – sei mehr als Bundeskanzler.“ Bernhard Vogel, der sich niemals als Rivale seines Freundes Helmut Kohl gesehen hat, hat das damals mit einem milden Kopfschütteln quittiert, aber gefreut hat er sich über diese Würdigungen wie zuletzt die vielen „Preisungen“ im Rahmen seines 90. Geburtstages in Berlin ganz gewiss. In jedem Fall hat Bernhard Vogel mit seiner besonderen Leistung, zwei Länder erfolgreich zu regieren auch ohne ein solches „höheres“ Amt seine unverwechselbaren, ja einzigartigen Spuren in der politischen Landschaft der Bundesrepublik hinterlassen und sich um unser Land verdient gemacht.
Angesprochen auf seine Verdienste und die seines Bruders hatte er zuletzt in einem Interview gesagt: „Wir waren nicht die einzigen und wir werden wahrscheinlich in Vergessenheit geraten. Das ist ein realistischer Gedanke. Man sollte sich nicht so wichtig nehmen“. Diesen bescheidenen „letzten Wunsch“ werden wir ihm ganz gewiss nicht erfüllen. Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat dem Landespolitiker, aber auch ihrem eigenen „Chefdiplomaten“ Bernhard Vogel außerordentlich viel zu danken, wird ihn nicht vergessen und ganz in seinem Sinne unermüdlich weiter für Verständigung und Demokratie in der Welt eintreten. Wir werden seinen Rat und seinen Zuspruch vermissen und auch in Zukunft an ihn uns sein Wirken erinnern. Dass er uns seinen politischen Nachlass schon zu Lebzeiten überlassen hat, wird dabei nicht schädlich sein.