Country reports
Das ist der Grund dafür, dass diese Wahlen als die spannensten Wahlen einer Generation bezeichnet werden. Bis kurz vor den Wahlen werden täglich mehrere Umfragen veröffentlicht. Nimmt man ein Mittel der Umfragen von heute, zwei Tage vor der Wahl, dann würden die Konservativen mit 35% führen, gefolgt von Labour und LibDem mit je 28% und anderen mit 9% . In Sitze umgerechnet wären das für die Conservativen 278 Sitze, für Labour 261, für die LibDem 82 und für andere Parteien 29. Um die absolute Mehrheit zu haben, sind 326 Sitze nötig.
Es waren die TV-Debatten, die Nick Clegg als Chef der Liberalen erlaubten, seine Partei zum dritten Spieler in dem sonst traditionellen Zweiparteiensystem in Großbritannien werden zu lassen. Seit seinem Überraschungsauftritt in der ersten Debatte am 15. April und dem rasanten Anstieg um 10% in den Umfragen innerhalb einer Woche, haben die Werte für die LibDem zwar leicht nachgelassen, halten aber immer noch gut mit Labour mit. Der Zwischenfall von Gordon Brown mit Frau Duffin, einer 65 jährigen Rentnerin, die er einen Tag vor der dritten TV-Debatte nach einem Gespräch unvorsichtiger Weise „bigote“ betitelte, ohne dass sein Mikro abgeschaltet war, kostete Labour anscheinend weniger Stimmen als nach dem Medienrummel darüber zu vermuten war. Sowohl die Konservativen als auch Labour haben durch die LibDem Stimmen eingebüßt. Und es haben sich mehr Wahlberechtigte in die Wahllisten eintragen lassen, vor allem junge Leute, die sich von Cleggs frischer Art angesprochen fühlten.
Damit sind die TV-Debatten, die es zum ersten Mal im Vorfeld einer Wahl gab, zu einem bestimmenden Faktor in diesem Wahlkampf geworden. Sie haben das allgemeine Interesse an diesen Wahlen stark angehoben. Damit hat sich ein recht klassisches Medium behauptet – entgegen der Vermutung, künftige Wahlen werden digital geführt. Auch wenn sich alle Parteien gut gerüstet haben und mit Homepages, Facebook, Bloggs und Twitter dabei waren, die digitalen Medien spielten eine Nebenrolle. Und auch die Zeitungen haben ihren Part gespielt. In den letzten Tagen bezogen eine Reihe von ihnen öffentlich Stellung, welche Partei sie nun unterstützen werden. Der eher Labour-nahe Guardian bekannte sich zu LibDem, der Economist unterstützt die Konservativen. Erhebliches Gewicht allerdings dürfte die Entscheidung der Murdoch News International Group haben, künftig statt Labour die Konservativen zu unterstützen. Murdoch hält 35% des britischen Medienmarktes in seinen Händen, unter anderem die Sun, die mit einer täglichen Auflage von 3 Millionen zu den größten Zeitungen zählt.
Die Unsicherheit über den Wahlausgang beeinflusst auch die Themen des Wahlkampfes in den letzten Tagen. Das Hauptthema bleibt die Frage nach dem wirtschaftlichen Aufschwung. Aber so, wie Gordon Brown nicht aufhört zu wiederholen, welch ein Risiko eine Tory-Regierung für die Wirtschaftserholung darstellen würde, so hat Cameron die Unsicherheit, die ein „Hung Parliament“ für die Wirtschaft bringen könnte, zum Thema gemacht.
Allerdings hängt es sehr vom Wahlausgang ab, ob es wirklich ein „Hung Parliament“ wird oder vielleicht zu einer Koalition kommt. Die Liberalen werden in jedem Fall versuchen, eine Wahlrechtsreform durchsetzen. Allein der Fakt, dass bei gleichen Zustimmungsraten das Mehrheitswahlrecht zu einer sehr unterschiedlichen Sitzverteilung führen kann, liefert Stoff für eine Debatte über ein anderes Wahlrecht. Käme es zu einem proportionalen Wahlrecht, würde es die politische Landschaft in Großbritannien nachhaltig ändern.
Veränderte Verfahrensregeln für die Zeit nach der Wahl, geben zumindest Raum für mögliche Koalitionsverhandlungen. So wurde sowohl die erste Zusammenkunft des neuen Parlaments für die Wahl des Speakers von 6 auf 12 Tage nach der Wahl als auch der Moment für die Queen’s speech im Vergleich zur Wahl 2005 nach hinten verschoben. Sollte der Vorsprung für die Tories nicht reichen, um eine Koalition zwischen Labour und LibDem sicher zu verhindern – wenn schon, wie die derzeitigen Umfragen vermuten lassen, keine absolute Mehrheit möglich ist – würde Brown erst einmal im Amt verbleiben und könnte mit den LibDem eine Koalitionsbildung versuchen. Dementsprechend haben die Konservativen gegen die neue Regelung protestiert, zumal Cameron für diese Änderungen nicht konsultiert wurde. Downing Street verwies darauf, dass diese Regeln Empfehlungen eines gemischten Ausschusses waren.
Bedenkt man allerdings, wie viel Zeit Koalitionsbildungen zum Beispiel in Deutschland benötigen, könnte man meinen, dass dies für Parteien, die bislang keine Erfahrungen damit haben, in der nun vorgegebenen Zeit zumindest nicht leicht sein dürfte. Dazu kommt, dass Nick Clegg ziemlich deutlich eine Koalition mit Labour unter Gordon Brown ausgeschlossen hat. Das bedeutet, das für so einen Fall Labour auch noch schnell einen Nachfolger finden müsste, wofür sicherlich mehr als einer zur Verfügung stehen würde.
Die Gedankenspiele sollen nur deutlich machen, dass erst nach Vorliegen der Wahlergebnisse Vermutungen über eine künftige Regierung angestellt werden können, sich diese aber nicht unbedingt erfüllten müssen.