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Der britische Premierminister Tony Blair gerät wegen der Ziele und der Handhabung seiner Irak-Politik immer mehr unter Druck und erlebt gegenwärtig die schwierigste Krise seiner politischen Karriere.
Während er und Ausseminister Jack Straw am Wochenende in einer Vielzahl von Telefonaten die Voraussetzungen für die Annahme der von den USA und Großbritannien unterbreiteten zweiten UN-Resolution zu verbessern versuchten, hat mit der Entwicklungshilfeministerin Clare Short erstmals ein Mitglied des Kabinetts mit dem Rücktritt für den Fall gedroht, daß ein amerikanisch-britischer Angriff auf den Irak ohne ausdrückliche Legitimation durch die UN erfolgen würde. Sie werde keinen Bruch internationalen Rechts mittragen oder ein Unterlaufen der Rolle der Vereinten Nationen.
Zuvor hatte bereits der Unterhausabgeordnete Andrew Reed aus Protest gegen Blair’s Politik sein Amt als Parlamentarischer Sekretär der Umweltministerin Margaret Beckett niedergelegt. Bis zu zehn weitere dieser Minister-Gehilfen haben ebenfalls ihren Rücktritt angedroht. Nach bislang allerdings unbestätigten Zeitungsmeldungen sollen annähernd 40.000 Mitglieder die Labour Party unter Hinweis auf die Irak-Politik verlassen haben. Viele Unterhausabgeordnete werden in ihren Wahlkreisen unter massiven Druck gesetzt, sich öffentlich gegen Blair zu stellen.
In einer Revolte, die in den letzten 100 Jahren ohne Beispiel ist, hatten sich am 26.Februar im Unterhaus 121 Labour-Abgeordnete gegen ihre eigene Regierung gestellt und eine fraktionsübergreifende Resolution unterstützt, nach der ein Krieg gegen den Irak gegenwärtig nicht gerechtfertigt sei. Für den Antrag stimmten auch nahezu alle Abgeordneten der Liberaldemokraten sowie dreizehn Tories, unter ihnen Kenneth Clarke.
Mit der offenbar kühl geplanten Absetzbewegung von Tony Blair – Clare Short hatte am Sonntag bei der BBC um ein Interview nachgesucht – gerät die Führungs- und Integrationskraft des Premierministers und Parteiführers unter bisher nie dagewesene Zweifel. Nach einem solchen Interview – Short hatte Blair und seine Politik u.a. als „reckless“ bezeichnet - hätte noch vor wenigen Monaten ein Kabinettsmitglied sein Amt verloren. Ob Blair dazu noch die Kraft hat, werden die nächsten Tage erweisen.
Zugleich ist der Ton der Auseinandersetzung, die mittlerweile ohne Rücksicht auf Verluste öffentlich ausgetragen wird, unter den Gegnern und Befürwortern der Politik des Premiers geradezu brutal geworden. Wie die Wunden, die dabei geschlagen werden, geheilt werden sollen, ist völlig offen.
Problematisch für Blair wird auch, daß die Erwartung unter den Labour -Unterhausabgeordneten wächst, vor einer Entscheidung über den Einsatz britischer Truppen in einem Krieg gegen den Irak eine weitere Debatte und Abstimmung im Parlament durchzuführen. Ein dahingehendes Einverständnis leiten die Abgeordneten aus Äußerungen von Aussenminister Jack Straw in der Debatte am 26.2. ab. Es gibt keine rechtliche Bestimmung, die Blair dazu zwingen könnte, aber schon einmal haben sich fraktionsübergreifend Abgeordnete in der Irak-Frage mit der Forderung nach einer Unterhaussitzung durchgesetzt, indem sie androhten, notfalls in einer „Privatinitiative“ zusammenzukommen, um ihrer Auffassung Ausdruck geben zu können.
Der Premierminster hat mehrfach öffentlich erklärt, er würde ein Veto gegen eine zweite UN-Resolution ignorieren, wenn die Gründe dafür „unreasonable“ seien. Genau darüber scheint nun eine Mehrheit von Labour debattieren zu wollen. SollteBlair dieses Verlangen abschlagen und ohne UN-Zustimmung sowie ohne Mandat zu Hause die britischen Truppen in den Krieg schicken, steigert er das Risiko für sein politisches Überleben ein weiteres Mal. Er dürfte in diesem Fall allein auf einen raschen und erfolgreichen Ausgang des Krieges setzen sowie auf die Solidarität, die die Engländer traditionell in Krisenzeiten ihrer Führung entgegenbringen – zu allererst im Interesse der kämpfenden Truppen.
Ihm dürfte dieses Lösung eher zusagen, als die Möglichkeit, in einer zweiten Debatte und Abstimmung im Unterhaus ohne eigene Mehrheit zu bleiben und nur mit Hilfe der Konservativen eine Zustimmung für seine Politik zu erhalten.
In beiden Fällen sind die kurz- bis mittelfristigen Folgen für Blair selbst und die von ihm vertretene Politik schwer absehbar.Es ist offenkundig, daß für die drängenden innenpolitischen Probleme gegenwärtig Zeit und Kraft fehlen. Gleiches gilt für das nicht populärer gewordene Thema „Einführung des Euro“. Dies braucht einen starken und durchsetzungsfähigen Premier. Die von Blair mit einem erfolgreich abgeschlossenen Referendum zum Euro verbundene Erwartung, eine Führungsrolle in Europa zu übernehmen, rückt in weite Ferne, ebenso wie die des Brückenbauers zwischen den USA und Europa.
Tony Blair, der so flexible und geschickt operierende Taktiker, dessen Politik eher von Umfrageergebnissen bestimmt war, als von inhaltlichen Zielen oder politischen Überzeugungen, ist zu einem eindrucksvollen, aber auch zunehmend einsameren Kämpfer für seine Überzeugung geworden, daß Saddam Hussein eine größere Gefahr darstellt, als der mögliche Verlust der Macht für ihn oder seine Partei.