Stimmen in Politik und Bevölkerung
Bis jetzt haben sich der König sowie hochrangige jordanische Politiker eindeutig gegen die Annexion positioniert. König Abdullah warnt eindrücklich vor der Annexion und dass dies „einen massiven Konflikt mit Jordanien“ heraufbeschwören würde. Omar Razzaz, der Premierminister Jordaniens, mahnte bereits im März, dass die Beziehungen des Königreichs zu Israel ihren niedrigsten Punkt erreicht hätten und Ayman Safadi, jordanischer Außenminister, machte deutlich, dass Annexionen von Jordanien nicht unbeantwortet bleiben würden. In Jordanien herrscht Einigkeit, dass die Zweistaatenlösung die einzige ist, die Frieden ermöglichen kann, und dass die Annexion eine existenzielle Bedrohung für Jordanien darstellt. Diese eindeutige Positionierung der Regierung hängt nicht nur mit ihrer eigenen Überzeugung, sondern auch stark mit der öffentlichen Meinung zusammen.
In Jordanien gilt der israelisch-palästinensische Konflikt nicht als außenpolitische, sondern innenpolitische Angelegenheit. Über die Hälfte der jordanischen Bevölkerung hat palästinensische Wurzeln und jede Verschärfung des Konflikts trägt das Potenzial, das Königreich – beispielsweise demographisch durch aus dem Konflikt entstehende neue Fluchtbewegungen, - stark zu verändern. Die Bevölkerung Jordaniens wird geeint durch eine gewisse Ablehnungshaltung Israel gegenüber. Insbesondere verurteilen sie die Behandlung der Palästinenser durch Israels Sicherheitskräfte. Die Bedeutung der Palästina-Frage wird schon darin deutlich, dass sich die Jordanier palästinensischer Herkunft zum überwiegenden Teil selbst als Palästinenser oder Jordanian-Palestinian bezeichnen, wohingegen die Bürger mit transjordanischem Hintergrund sich nur als jordanisch oder Jordanian-Jordanian bezeichnen und bezeichnet werden.
In einer Umfrage von November 2019 bewerteten 95.6% der befragten Jordanier die Militärpräsenz Israels in den palästinensischen Gebieten als inakzeptabel. Außerdem geht aus der Umfrage hervor, dass mehr als die Hälfte der Jordanier Israel als Bedrohung für die Stabilität Jordaniens wahrnehmen. Außerdem waren bereits vor Bekanntmachung der konkreten Annexionspläne 54.7% der Jordanier dafür, den seit 1994 bestehenden Friedensvertrag Jordaniens mit Israel aufzukündigen. Diese Zahl dürfte sich vor dem Hintergrund der Geschehnisse in den letzten Wochen noch einmal deutlich erhöht haben. 65.7% der Jordanier Israel als größten Feind der arabischen Welt an, wobei die USA mit 16.6% an zweiter und der Iran mit 12.4% an dritter Stelle stehen.
Die starke Ablehnung Israels in der Bevölkerung lässt sich unter anderem an häufigen Protesten gegen bestimmte Aspekte der Beziehungen zu Israel erkennen. Im Januar 2020 gab es einige Demonstrationen gegen die Unterzeichnung des Gas Deals, eines Vertrages zwischen Israel und Jordanien, der Jordanien mit israelischem Gas versorgen soll. Viele Jordanier sehen den Deal als Zeichen der Normalisierung der Beziehungen mit Israel, welche stark von der Bevölkerung abgelehnt wird, solange sich die Situation und die Behandlung der Palästinenser nicht verbessert. Auf Plakaten stand unter anderem “Das Gas des Feindes ist Besatzung.“ Im März 2019 hatte das jordanische Parlament den Gas Deal einstimmig abgelehnt, aber das Verfassungsgericht entschied, dass die Zustimmung des Parlaments nicht nötig sei. Dies zeigt, dass sowohl die Bevölkerung als auch die gewählten Volksvertreter die Beziehungen zu Israel zu großen Teilen ablehnen.
Auch vor der amerikanischen Botschaft in Amman wird häufig im Zusammenhang mit Israel demonstriert, beispielsweise gegen den Umzug der US-amerikanischen Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem. 95.4% der im August 2019 befragten Jordanier waren stark gegen den Umzug der Botschaft. Dieser Umzug sowie die damit verbundene Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels durch die USA waren als Abkehr von der Zweistaatenlösung interpretiert worden, da Jerusalem in der arabischen Welt als Hauptstadt eines zukünftigen palästinensischen Staates angesehen wird.
Viele Jordanier befürchten, dass die geplante Annexion ein Ende der Zweistaatenlösung bedeutet. Wichtiger Punkt in dieser Debatte ist die These des alternative homeland, die vor allem von rechtskonservativen israelischen und amerikanischen Analysten vertreten wird. Demnach sei Jordanien wegen des hohen Anteils palästinensisch-stämmiger Einwohner eigentlich schon ein palästinensischer Staat; deshalb brauche es keinen weiteren Staat Palästina. König Abdullah hat diese These schon immer deutlich abgelehnt und diese Haltung wird von einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. In der oben erwähnten Umfrage gaben 95.7% der Befragten an, das „Nein“ des Königs zum Thema alternative homeland sehr stark zu unterstützen Der König äußerte sich schon im vergangenen Jahr vor dem Hintergrund des angekündigten Deal of the Century zu den drei für Jordanien in diesem Zusammenhang wichtigsten Punkten mit seinen „3 No’s“. Abdullah sagte „Nein“ zu der Idee des alternative homeland; „Nein“ zur Aufgabe des Right of Return, dem Recht der palästinensischen Flüchtlinge und deren Nachkommen, in die Heimat zurückzukehren; und „Nein“ zu einer Veränderung der Rolle des jordanischen Königs als Hüter der heiligen Stätten Jerusalems. Mit dieser klaren Haltung erfährt König Abdullah große Zustimmung in der Bevölkerung – Zustimmung, die er verlieren dürfte, sollten ihn die Jordanier als zu nachgiebig gegenüber Israel und den USA sehen.
Abhängigkeit des Königs von der öffentlichen Meinung
Zwar ist Jordanien eine Monarchie und das demokratisch gewählte Parlament hat insbesondere in außenpolitischen Fragen wenig Macht und Einfluss, dennoch ist das Königshaus keinesfalls unabhängig von der öffentlichen Meinung im Land. Jordanien ist ein ressourcenarmer Staat, welcher seit seiner Gründung stark von der finanziellen Unterstützung seiner Verbündeten abhängig ist. Jordanien hat schon seit Jahrzehnten große wirtschaftliche Probleme, die durch den Syrienkonflikt und die damit verbundene Aufnahme von ungefähr 1.3 Millionen syrischen Flüchtlingen noch verstärkt wurden. Schon vor der COVID-19-Pandemie lag die Verschuldung des Staates bei 99.1% des Bruttoinlandsprodukts. Offiziellen Angaben zufolge liegt die Arbeitslosigkeit bereits jetzt bei 19%, wobei inoffiziell von einer deutlich höheren Zahl von Arbeitslosen ausgegangen wird. Die Jugendarbeitslosigkeit ist mit über 35% besonders hoch. Die schlechte wirtschaftliche Lage und die seit Jahren versprochene, aber ausbleibende Verbesserung dieser, führt zu großer Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Viele Jordanier sind aufgrund des hohen und steigenden Preisniveaus, sowie der kaum vorhandenen Chancen und Jobs, die mit durchschnittlich ca. 637 USD monatlich (2017) sehr niedrig entlohnt werden, frustriert. Die Hauptstadt Amman liegt auf Platz 28 der teuersten Städte der Welt. Auch Korruption und Wasta (Vetternwirtschaft; das Nutzen von persönlichen Beziehungen zu seinem Vorteil) wird von vielen als weit verbreitet angesehen und zum großen Teil für die fehlenden Möglichkeiten und die bleibende Ungleichheit im Land verantwortlich gemacht.
Aufgrund hohen Drucks durch den Internationalen Währungsfonds war Jordanien 2018 und 2019 gezwungen, Wirtschaftsreformen wie eine Erhöhung der Einkommenssteuer vorzunehmen, der eine Abschaffung von Subventionen für Basisgüter wie Brot vorausging. Dies traf viele Jordanier, vor allem aus den ärmeren Schichten, hart. Es folgten weitverbreitete Proteste, die zwar weitgehend friedlich blieben und sich konkret gegen das vorgeschlagene Einkommenssteuergesetz richteten. Gleichwohl brach sich hier auch breiterer Unmut Bahn bezüglich der allgemeinen wirtschaftlichen Lage. Es zeigte sich, dass diese Proteste Zuspruch einer breiten Mehrheit der Gesellschafterhielten. Aufgrund des Drucks war die Regierung gezwungen, zurückzutreten und das geplante Einkommenssteuergesetz zu überarbeiten. Zwar konzentriert sich die Wut der Bevölkerung bis jetzt zumeist auf die Leistung der Regierung und des Premierministers, während der König weiterhin hohes Ansehen und breite Zustimmung in der Bevölkerung genießt. Dennoch wird mittlerweile auch vermehrt Kritik am Königshaus laut, die vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Einigen Verwandten der Königsfamilie wird beispielsweise Korruption vorgeworfen. Ein Verlust der Unterstützung durch die Bevölkerung wäre für das Überleben des Königshauses fatal und stellt auch für die Stabilität des Landes eine große Gefahr dar.
Abhängigkeit Jordaniens von seinen Verbündeten
Das Königshaus muss die Forderungen der Bevölkerung mit denen seiner Verbündeten, welche oft in entgegengesetzte Richtungen gehen, ausbalancieren. Bisher hat es das haschemitische Königshaus meistens geschafft, diesen Drahtseilakt zu meistern, jedoch könnte eine Annexion des Westjordanlands dies zum Scheitern bringen.
Seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1946 ist das Königreich stark von finanzieller Hilfe aus dem Ausland abhängig. Wie bereits beschrieben ist die Wirtschaft schon lange in einem desolaten Zustand und überlebt nur mithilfe von ausländischen Geldern. Die erhöhten Ausgaben aufgrund des Syrienkonflikts und der ohnehin schon schlechten Wirtschaftslage haben das Königreich noch abhängiger von der finanziellen Hilfe seiner Verbündeten, insbesondere den Vereinigten Staaten und Saudi-Arabien, gemacht. Von den USA bekam Jordanien im Jahr 2019 über $1.5 Milliarden. Im Gegenzug für ihre Finanzspritzen erwarten diese aber nicht nur eine eindeutige Haltung Jordaniens, beispielsweise gegenüber dem Iran, sondern auch ein Einlenken in Richtung der amerikanisch-israelische Haltung im Nahostkonflikt. Der König kann es sich trotz des außenpolitischen Drucks jedoch innenpolitisch nicht leisten, seine Unterstützung für die Palästinenser aufzugeben.
Gefahr der Destabilisierung Jordaniens
Die aktuelle Situation ist insofern nicht neu für das jordanische Königshaus, als dass es schon häufig von der öffentlichen Meinung in die eine und von seinen Verbündeten in eine andere Richtung gedrängt wurde. Meistens schaffte es der König, sich nur soweit seinen Verbündeten öffentlich entgegenzustellen, dass er ihre Unterstützung nicht tatsächlich gefährdete, aber trotzdem der Bevölkerung Unterstützung für die Palästinenser signalisierte. Wäre die wirtschaftliche Lage eine andere und das Königshaus gesicherter, könnte Abdullah es sich vielleicht erlauben, entgegen der öffentlichen Meinung zu agieren. Dies ist momentan allerdings nicht der Fall. Würde sich der König offen auf die Seite der Israelis und Amerikaner stellen, könnte ihn dies stark in Bedrängnis bringen, was für Jordanien höchstwahrscheinlich Chaos bedeuten würde. Trotzdem ist er abhängig vom Geld und der militärischen Unterstützung der USA. Entzögen die Amerikaner ihre finanziellen Hilfen und wäre kein anderer Staat bereit, an deren Stelle zu treten, so würde dies für Jordanien den wirtschaftlichen Ruin bedeuten, zu einer weiteren Destabilisierung führen und das Überleben des Königshauses gefährden.
König Abdullah steht somit vor einer unmöglichen Entscheidung. Es ist wahrscheinlich, dass er das Äußerste, in Form der Aufkündigung des Friedensvertrages zwischen Jordanien und Israel, so weit wie möglich hinauszögern und mit kleinen Schritten wie dem Zurückrufen des jordanischen Botschafters aus Tel Aviv beginnen wird, um die jordanische Bevölkerung zu beschwichtigen. Sollte der Druck auf der Straße aber zu groß werden, wird er keine andere Wahl haben, als dem Willen des Volkes nachzugeben oder zu versuchen, Proteste und Unruhen mit Gewalt zu unterdrücken.
Eine jedenfalls großflächige Annexion birgt somit die Gefahr einer Destabilisierung Jordaniens, was einerseits den Verlust eines wichtigen stabilen Partners für Deutschland in der Region bedeuten, anderseits die ohnehin schon konfliktreiche Region erneut erschüttern könnte. König Abdullah selbst sieht Deutschland an Jordaniens Seite und bekräftigte, „Deutschland versteht, was die richtige Entscheidung in der israelisch-palästinensischen Frage ist. Wir sind Verbündete und Freunde und schreiten bei diesem Thema gemeinsam voran.“ Der Besuch von Außenminister Maas in Jordanien unterstreicht die Wichtigkeit des Königreichs als Partner für die Bundesrepublik. Jordanien wird die diplomatische und finanzielle Unterstützung Deutschlands auch in Zukunft dringend benötigen.