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Am 7. Dezember jährt sich zum 40. Mal der Kniefall Willy Brandts vor dem Warschauer Ghetto-Mahnmal. Aus diesem Anlass besuchten Bundespräsident Christian Wulf und der polnische Staatspräsident Bronisław Komorowski gemeinsam mit dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel das Mahnmal und den Willy-Brandt-Gedenkstein sowie das Denkmal für den Warschauer Aufstand, wo Kränze niedergelegt wurden.
Anschließend sprachen die Staatspräsidenten gemeinsam mit Gabriel und anderen prominenten Vertretern der deutschen Sozialdemokratie auf einer Veranstaltung der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Warschau unter anderem über die sozial-liberale Entspannungspolitik als Modell für die künftige europäische Außenpolitik. Heute firmiert der Kniefall Brandts als „politische Ikone des 20. Jahrhunderts“ (Gabriel), als Symbol für die auf Entspannung mit dem sowjetkommunistischen Machtbereich ausgerichtete neue Ostpolitik der sozial-liberalen Regierung Anfang der 1970er Jahre sowie als Versöhnungsgeste in Bezug auf Polen. Doch was hatte es mit der Demutsgeste Willy Brandts 1970 tatsächlich auf sich? In welchem politischen Kontext stand sie?
„Unpopuläre Provokation“
Die Literatur zur neuen Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition Anfang der 1970er Jahr und zur deutschen Außenpolitik ist sich über die politisch-moralische Bedeutung des Kniefalls Brandts für die deutsche Vergangenheitsbewältigung einig. Als Zeichen der deutsch-polnischen Versöhnung fand er Eingang in viele Geschichtsbücher. Ein Schlüssel zum Herzen der Polen war er aber historisch betrachtet keineswegs, wie die Historiker Michael Wolffsohn und Thomas Brechenmacher in ihrem Buch „Denkmalsturz? Brandts Kniefall“ (München 2005) darlegen. Dass ganz Polen von einigen antisemitischen Nationalisten abgesehen Brandt geglaubt und sich von ihm verstanden gefühlt hätte wie von keinem westlichen Staatsmann seit de Gaulle , so wie dies der sozialdemokratische Publizist Peter Bender behaupte, stimme mitnichten. Die Wirkung des Kniefalls sei „erheblich geringer, ambivalenter“ gewesen als oftmals wahrgenommen. Den Besuch am Getto-Mahnmal hatte das Kanzleramt erst drei Tage vor dem Besuch Brandts in Warschau in das Programm eingefügt - gegen deutliche Widerstände der Gastgeber in Warschau. Brandt selbst äußerte sich 1976 rückblickend sehr zurückhaltend: „Unter der Last der jüngeren deutschen Geschichte tat ich, was Menschen tun, wenn die Worte versagen; so gedachte ich der Millionen Ermordeter.“
Für die neue Ostpolitik sei diese Geste, so Wolffsohn und Brechenmacher, sogar höchst riskant gewesen und habe den erfolgreichen Ausgang dieser Politik gefährdet. Denn die Geste habe zum einen im Kontext einer kritischen deutsch-jüdisch-israelischen Vorgeschichte gestanden: von heftigen Irritationen in der Israel- und Judenpolitik, die mit der sozial-liberalen Nahost- und neuen Ostpolitik aufgekommen seien; zum anderen habe sie „den polnischen Antisemitismus und Nationalismus“ verkannt, der den Besuch des Ghetto-Denkmals durch Brandt in Polen zu einer unpopulären Provokation gemacht habe, der vom kommunistischen Regime nach Kräften marginalisiert und verschwiegen worden sei. „Brandt riskierte die Brüskierung der Herrschenden und Beherrschten Osteuropas“, heißt es bei Wolffsohn und Brechenmacher. Warum?
„Vertreibung 1968“
Zwei Jahre zuvor, 1968, hatte die Führung der sozialistischen Volksrepublik versucht, durch eine antisemitisch-rassistische Kampagne gegen die jüdischen Bürger in Polen von der immensen wirtschaftlichen und politischen Misere abzulenken. Dabei hatte sie eine Israel feindliche Haltung, welche seit dem Sechstagekrieg 1967 im gesamten Ostblock herrschte, propagiert. Die Kommunistische Partei zweifelte an der Loyalität der jüdischen Bevölkerung dem Staat und der Nation gegenüber und machte sie für die politische Lage und die studentischen Proteste verantwortlich. Daraufhin verloren tausende jüdische Bürger ihre Arbeit, wurden von der Universität geworfen und Repressalien ausgesetzt. 15.000 bis 20.000 Juden verließen ab Herbst 1968 das Land; nur 5.000 bis 10.000 blieben in Polen, wo sie ihre Identität meist verleugnen mussten. Den Vertriebenen, davon viele Überlebende des Holocaust, wurde die polnische Staatsbürgerschaft aberkannt. Ihren Besitz mussten sie weitgehend zurücklassen. Viele von ihnen reisten nach Israel, in die USA oder nach Australien aus. In Europa öffneten die skandinavischen Länder großzügig ihre Grenzen für die Emigranten, von denen einige auch nach Deutschland gingen. Eine Wiedergutmachung für dieses Unrecht gibt es in Polen bis heute nicht. Vor diesem Hintergrund erzählte der polnisch-jüdische Historiker Prof. Feliks Tych auf einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung im November in Warschau über die tiefen Gefühle innerer Genugtuung, die der Kniefall Brandts vor dem jüdischen Ghetto-Denkmal damals bei ihm ausgelöst hatte. Tych, der als Kind aus einem Ghetto geschleust und von einer polnischen Familie unter Lebensgefahr vor den deutschen Mördern gerettet wurde, hielt dieses Jahr im Deutschen Bundestag eine bemerkenswerte Rede zum Holocaust-Gedenktag.
Zwei „Geschichtsfallen“
Im Gegensatz dazu machte die Geste Brandts aber der kommunistischen Geschichtspolitik und dem nationalen Selbstverständnis in Polen, nach denen nicht „die Juden“, sondern „die Polen“ oder „die Sowjetbürger“ die „Hauptopfer“ des von Deutschland betriebenen Vernichtungsfeldzuges gewesen seien, einen dicken Strich durch die Rechnung, schreiben Brechenmacher und Wolffsohn. Diesbezüglich sei nicht ohne Pikanterie, „dass Brandt und Bahr, später auch Roman Herzog den Aufstand vom Warschauer Ghetto 1943 mit dem Warschauer Aufstand vom Sommer 1944 verwechselten. … Die Verwechselung ist historisch peinlich und dokumentiert die nicht seltene Kenntnis- und Ahnungslosigkeit staatlicher Repräsentanten.“ Władysław Bartoszewski, der den Kniefall an sich als große staatsmännische Geste würdigt, merkt in seinem Erinnerungsbuch über Deutsche und Polen aber auch kritisch an, Brandt habe „nicht vor allen Opfern gekniet“. Brandt „hätte auch das Gedenken an die übrigen Polen ehren sollen, vor einem anderen Denkmal, das dem Kampf um die Unabhängigkeit Polens galt.“ Brandt hatte zwar am Grabmal des Unbekannten Soldaten in Warschau einen Kranz niedergelegt. Ein Denkmal an den Warschauer Aufstand, dessen Niederschlagung sowjetische Truppen vom andern Weiselufer aus beobachteten, gab es damals aber noch nicht, durfte es nicht geben. So kniete Brandt in den Augen der polnischen Machthaber und wohl auch vieler Polen letztlich vor dem „falschen“ Denkmal. Hier zeigt sich übrigens eine interessante psychologische Parallele. So wie viele Polen das polnische Schicksal im Zweiten Weltkrieg und danach oftmals hinter dem Holocaust zurückgesetzt sehen und unter der geringen Beachtung leiden, vermissen auch viele Vertriebene die Anerkennung ihres Schicksals.
In Israel wie auch bei den Diaspora-Juden in aller Welt habe man dagegen, so führen Wolffsohn und Brechenmacher aus, mehr auf harte Überlebensinteressen geachtet als auf weiche Gesten, wie den Kniefall. Die Überlebensinteressen sah man aber durch die sozial-liberale Annäherung an die Sowjetunion, die 1970 am Suez-Kanal Menschen und Material einsetzte, um als Weltmacht gegen den David Israel zu kämpfen, und durch die Verständigung mit dem antijüdischen polnischen Regime erheblich tangiert. Während sich in Deutschland als Lehre aus dem Weltkrieg und nach Auschwitz immer mehr die Devise „nie wieder Täter“, „nie wieder Gewalt“, Entspannung und Annäherung durchsetzte, habe für Israel und die Juden die entgegen gesetzte Lehre „nie wieder Opfer“ und „Gewaltanwendung als Überlebensstrategie“ gegolten. Deshalb sei auch die diasporajüdische und israelische Reaktion auf den Kniefall Brandts „zugeknöpft, zurückhaltend“ gewesen.
Ein später Leitstern
Die Demutsgeste Brandts führte also zunächst sowohl in Polen wie in Israel und bei den Juden zu distanziert kühlen Reaktionen. In Polen dominierte der Warschauer Vertrag mit der „Anerkennung“ der Oder-Neiße-Grenze, der am gleichen Tag unterzeichnet wurde, das Bild. Zuvor hatten sich Sowjets und West-Deutsche bereits im Moskauer Vertrag vom 12. August 1970 über die Bestätigung der bestehenden Grenzen, darunter auch die polnischen Grenzen, verständigt, ohne Polen. Damit wurde zugleich die sowjetische Hegemonie in Ostmitteleuropa „förmlich sanktioniert“ (Gregor Schöllgen, FAZ vom 7.12.2010), die 1968 beim Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in Prag deutlich zu Tage trat. Bereits eine Woche nach dem Brandt-Besuch in Warschau überlagerten zudem die Proteste vor allem der Werftarbeiter, die am 14. Dezember 1970 wegen der drastischen Erhöhung der Lebensmittelpreise ausbrachen, den Eindruck des Besuches. Die Sicherheitskräfte schlugen die Proteste brutal nieder, wobei es Dutzende von Toten gab. Parteichef Gomulka und Ministerpräsident Cyrankiewicz wurden noch vor Weihnachten gestürzt. Heute erinnert ein himmelhohes Mahnmal aus drei Kreuzen vor der Danziger Werft an dieses Drama.
Auch in der Bundesrepublik waren viele mit Brandts Geste nicht einverstanden, wie Umfragen und die öffentliche Kritik zeigen. Fast die Hälfte der befragten Deutschen fand den Kniefall übertrieben. Erst später sei der Kniefall mit der Zeit zum Symbol für ein neues, nicht mehr polternd, gar mordend, sondern demütig auftretendes Deutschland geworden, ein Leitstern der Politik, resümieren Wolffsohn und Brechenmacher. Deren Thesen sind – wie könnte es anders sein – historisch-politisch umstritten, lassen aber die komplexeren Hintergründe des Kniefalls aufscheinen. Dieser erinnert bis heute an die kollektive Haftung der Deutschen, entzieht sich jedoch einer einfachen Einordnung in den Kontext nur der deutsch-polnischen Beziehungen ebenso, wie die „Entspannungspolitik“ der 1970er Jahre. Sie war nicht umsonst politisch derart umstritten, dass sie im ersten konstruktiven Misstrauensvotum 1972 im Bundestag beinahe zum Sturz der Regierung Brandt geführt hätte, wenn nicht – wie sich später herausstellte – das Ministerium für Staatssicherheit der DDR unter dem Decknamen „Unternehmen Brandtschutz“ durch die Bestechung zweier Abgeordneter eingegriffen hätte.
Umstrittene Entspannung
Der politische Streit in Deutschland war notwendig. Denn damals ging es erstmals um einen vertraglichen Vollzug der für Deutschland bitteren Konsequenz aus dem Zweiten Weltkrieg: den Verlust von mehr als einem Viertel seines Staatsgebiets, von Schlesien, Pommern, West- und Ostpreußen sowie der brandenburgischen Neumark, der Heimat von Millionen von Deutschen. Der Versöhnungswille kollidierte an dieser Stelle mit dem Rechtsvorbehalt eines Friedensvertrages und dem Verfassungsziel der deutschen Wiedervereinigung, wobei die politischen Koordinaten des kalten Krieges mit dem Ostblock zu berücksichtigen waren. In dieser Situation war das Entgegenkommen gegenüber den kommunistischen Diktaturen bei den Christdemokraten deutlich zurückhaltender ausgeprägt als bei der sozial-liberalen Regierungskoalition. Gefragt wurde nach den Gegenleistungen. Humanitäre Zugeständnisse der polnischen Seite, insbesondere in Bezug auf die in Polen verbliebenen Deutschen blieben weit hinter den Erwartungen zurück und fanden nur in einer begleitenden Information zum Warschauer Vertrag Erwähnung. Die Millionen von deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen, die ihre Heimat verloren hatten, wurden überhaupt nicht erwähnt. Die „Normalisierung“ und das „Miteinander“ wurden mit einem diktatorischen Regime vereinbart. Bei der Abstimmung über die Ostverträge am 17. Mai 1972 im Bundestag enthielten sich die CDU- und CSU-Abgeordneten am Ende nach heftigen Diskussionen der Stimme. Der Bundestag verabschiedete am gleichen Tag einstimmig eine Erklärung, dass der Vertrag eine friedensvertragliche Regelung nicht vorwegnehme.
Zurückhaltung gegenüber Solidarność
Die Rücksichtnahme auf die Entspannung mit den Staatsregimes führte später zu einer merkwürdigen Distanz von deutschen Linken und Liberalen zur stark katholisch geprägten polnischen Gewerkschafts- und Freiheitsbewegung, der Solidarność, was dort bis heute nicht vergessen ist und damals zu einer deutlichen Abkühlung der Beziehungen zu diesen Kreisen führte. Die Publizistin Helga Hirsch führte dazu einmal in der Berliner Zeitung (6.5.2000) aus: „Oftmals dieselben Politiker, die in den 70er-Jahren mit der Entspannungspolitik Schneisen in den Eisernen Vorhang geschlagen hatten und sich in Polen einer großen Sympathie erfreuten (vor allem Willy Brandt, dessen Kniefall vor dem Denkmal der jüdischen Opfer in Warschau unvergessen ist), grenzten sich spätestens bei der Verhängung des Kriegsrechts von den angeblich unverantwortlichen Solidarnosc-Aktivisten ab. Erinnert sei an Helmut Schmidt, der ausgerechnet am 13. 12. 1981 (der Verhängung des Kriegsrechtes in Polen, Anm. d. V.) bei Erich Honecker weilte und auf die Nachricht von der Verhängung des Kriegsrechts mit dem Satz reagierte: ‚Herr Honecker ist genauso bestürzt wie ich, dass dies nun notwendig war.’ Große Teile der westdeutschen Sozialdemokratie waren bereit, die Menschenrechte in Osteuropa zu Gunsten des Friedens in Europa zu opfern. Jedenfalls glaubte sich die Linke vor der Alternative: Frieden oder Freiheit. … auch der Publizist Peter Bender, einer der wichtigsten Protagonisten der Entspannungspolitik, glaubte, durch die Unterstützung der kommunistischen Regime einen bewaffneten Konflikt abwenden zu müssen: ‚Was die Macht im Osten in Frage stellt, endet in einer Katastrophe. Das letzte Wort muss bei den Kommunisten bleiben, die noch ein gewisses Maß an sowjetischem Vertrauen genießen. Es gibt nur eine verantwortliche Form, Wandel im Osten zu fördern, das ist, ihn durch eigene Zurückhaltung zu ermöglichen.’ Im Unterschied zu Franzosen oder Amerikanern trafen sich bundesdeutsche Politiker in den 80er-Jahren deswegen nicht mit oppositionellen Führern wie Lech Walesa (Brandt fuhr nicht zu ihm nach Danzig, dafür traf er sich privat mit Jaruzelski), und sie besuchten auch nicht das Grab des 1984 ermordeten Priesters Jerzy Popieluszko, der als eine Märtyrerfigur verehrt wurde.“
Ende der 1980er Jahre hatten sich zudem wesentliche Kreise der Sozialdemokratie immer mehr von dem Wiedervereinigungsgebot der Präambel des Grundgesetzes entfernt, wonach das „gesamte Deutsche Volk … aufgefordert (bleibt), in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“. Umso erstaunlicher ist, dass in Polen zur gleichen Zeit unabhängige Oppositionelle souverän genug waren, die Wiedervereinigung Deutschlands zu unterstützen, um selbst wieder Anschluss an das freie Europa zu gewinnen.
Bis heute ergänzen sich oftmals deutscher "Sündenstolz" (so nannte der Philosoph Hermann Lübbe das Schuldgeständnis der Nachgeborenen) und polnischer „Opfers tatus“. Auch Politiker und Publizisten wissen dieses Rollenspiel mitunter hervorragend zu nutzen. Auf diesem Weg erfolgt aber kaum die wirkliche Begegnung und Verständigung, die der polnische Publizist Jan Józef Lipski vor 30 Jahren in die Worte fasste: „Wir müssen uns alles sagen“. Auch daran kann die Geschichte des Kniefalls erinnern, sofern man denn den politischen Kontext und die kritischen Aspekte nicht ausspart.
Neuer Aufbruch?
Beim Gedenken an das Brandtsche Gedenken war von diesen Hintergründen kaum die Rede. Das hätte wohl auch nicht zu den politischen Intentionen und zum feierlichen Rahmen gepasst. Nur der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel sprengte diesen Rahmen, indem er die Kritik der Christdemokraten an den Ostverträgen abzukanzeln versuchte und Bundeskanzlerin Merkel in einem Zeitungsinterview vorwarf zuzulassen, dass die CDU mit Hilfe Erika Steinbachs Stimmen der extrem rechten Wählerschaft gewinnen wolle. So nutzte er den Gedenkanlass für billige Polemik, die mehr über sein triviales Politikverständnis aussagt als über die Positionierung der CDU. Bundespräsident Wulff, der Mitte der 1970er Jahre in die CDU eingetreten ist und damit zu den von den Kommunisten so genannten „Revanchisten und Revisionisten“ gehörte, entgegnete, er könne die damaligen Sorgen der Christdemokraten nachvollziehen. Sie hätten sich aber Gott sei Dank nicht bewahrheitet.
In der veröffentlichten Meinung blieb es Staatspräsident Komorowski vorbehalten, den Bogen vom Briefwechsel der polnischen („Wir vergeben und bitten um Vergebung“) und deutschen („wir bitten zu verzeihen … und einen neuen Anfang zuzulassen“) Bischöfe 1965 hin zur Versöhnungsmesse Bundeskanzler Kohls mit Premier Tadeusz Mazowiecki 1989 zu spannen und dazwischen den Kniefall Brandts einzuordnen. Dabei ließ der ehemalige Regimegegner auch einen kritischen Aspekt der Entspannungspolitik anklingen: Diese habe sich vor allem auf die Versöhnung der politischen Führungen konzentriert. Als Dissident wäre er damals dankbar gewesen, wenn man dem „Totalitarismus“ gegenüber manchmal klarer Stellung bezogen hätte. Zudem wies Komorowski darauf hin, Wulff und er hätten nun die „Geschichte korrigiert“, indem sie auch vor dem Warschauer Aufstandsdenkmal Blumen niederlegten, was Brandt damals nicht möglich gewesen sei. Beide Präsidenten, so heißt es in der Presse, hätten von einem „neuen Aufbruch“ in den deutsch-polnischen Beziehungen nach dem „Wunder der Versöhnung“ gesprochen. Warum es heute eines neuen Aufbruchs bedarf und wohin er führen soll, blieb allerdings im Dunklen.
Angesichts der heftigen Auseinandersetzungen der letzten Jahre um die in Berlin geplante staatliche Gedenkstätte an die Vertreibungen im 20. Jahrhundert könnte vielleicht ein gemeinsames Erinnern auch an diesen Teil der Geschichte, der bei den Feierlichkeiten in Warschau so wie 1970 ausgespart blieb, ein Teil dieses Aufbruchs darstellen und das „Wunder der Versöhnung“ vervollständigen. Denn wir sollten uns heute als freiheitlich demokratisch konstituierte Partner in Europa alles sagen. So könnte, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Rede am 18. September 2006 erklärt hat, jener Geist der Versöhnung wachsen, „ohne den ein angemessenes, ein würdiges Gedenken auch des erlittenen Leids von Flucht und Vergebung nicht möglich ist und ohne den vor allem eine gemeinsame Zukunft in einem friedlichen Europa nicht möglich wäre.“
Publikationshinweis:
In der Reihe Rapporte der Konrad-Adenauer-Stiftung in Polen Nr. 16, 2010 ist von Michael Wolffsohn und Thomas Brechenmacher der Text erschienen: Der Kanzler hat gekniet. Brandts Kniefall – ein Leitstern der Politik. Es handelt sich hierbei um die Einleitung und das Schlusskapitel des Buches „Denkmalsturz? Brandts Kniefall“, die mit freundlicher Genehmigung des Olzog Verlages München in deutscher und polnischer Sprache abgedruckt wurden. Das Heft ist über die Homepage der KAS Warschau www.kas.de/polen zugänglich oder kann im Büro der KAS Warschau bestellt werden.