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Es sind viele Projektionsflächen, die Martin Luther im Laufe der Jahrhunderte übergestülpt wurden: Die Aufklärung sah in Martin Luther den Vorreiter der Geistes- und Gewissensfreiheit. Für die deutsche Nationalbewegung war er Bannerträger deutscher Gesamtstaatlichkeit. Im Ersten Weltkrieg ließ man ihn zum Durchhalten in schwerer Zeit mahnen. Und im Nationalsozialismus dienten seine antijüdischen Spätschriften als Legitimation für Rassenhass und Völkermord.
In seiner Begrüßung nahm Hans-Gert Pöttering die Zuhörer mit auf eine Zeitreise durch fünf Jahrhunderte Reformationsgeschichte und ergriff – vier Wochen vor dem Höhepunkt der Lutherdekade am 31. Oktober, 500 Jahre nach dem legendären Anschlag der 95 Thesen des Augustinermönches Martin Luther – die Gelegenheit, nicht nur über Brüche und Traditionen, sondern auch über die Rolle und die Wechselwirkung von Religion in der Politik nachzudenken. Mehr denn je komme es darauf an, sich auf unsere christlich begründeten Werte als Maßstäbe für politische Entscheidungen zu besinnen.
Impuls aus evangelischer Sicht
Eine „durch und durch lutherische Pastorin“ – so beschrieb Christine Lieberknecht, ehemalige Ministerpräsidentin des Freistaats Thüringen, sich selbst, als sie ans Rednerpult trat, um doch gleichzeitig die großen Errungenschaften der katholischen Soziallehre und der evangelischen Sozialethik für das heutige Staats-, Rechts- und Demokratieverständnis hervorzuheben. Sie betonte die Gemeinsamkeiten und anerkannte die ökumenischen Annäherungen im Rahmen der Reformationsfeiern. Differenzen gebe es nur noch im Amts- und Kirchenverständnis, nicht mehr im Glauben.
Als Erbe der Reformation nannte Lieberknecht an erster Stelle die Freiheit eines Christenmenschen, die aber nicht als unverantwortete Freiheit, sondern als Bindung, Liebe, Nächstenliebe und Verantwortung zu verstehen sei – mit Folgen für den Einzelnen, für das Verhältnis von Staat und Kirche, für die Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft.
Die unmittelbare Beziehung zwischen Mensch und Gott, die unmittelbare Verantwortung des Menschen vor Gott mündete bei Luther in der Aufhebung der Hierarchien, die sich beispielsweise in der Gleichstellung der säkularen und geistlichen Berufe äußerte. Zur Ausübung musste der Mensch ertüchtigt werden – in allererster Linie durch Bildung. Auch heute müssen wir über den Stand von Bildung reden, so Lieberknecht. Die Entrohung der Gesellschaft durch Bildung und Ertüchtigung sei bereits Luthers Anliegen gewesen. Heute gehe es nicht darum, der Verrohung der Sprache und der sozialen Medien durch Verbote zu begegnen – das sei nicht die Antwort der Reformatoren gewesen. Verrohung ist immer ein Zeichen verminderter Urteilskraft – und Bildung die Voraussetzung für den mündigen Bürger, letztendlich für unsere Demokratie.
Impuls aus katholischer Sicht
Thomas Sternberg, Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, blickte ebenfalls auf die Annäherungen der letzten Monate. Es seien deutliche Symbole gesetzt worden, so z.B. die Verleihung der Martin-Luther-Medaille an Karl Kardinal Lehmann oder die Signale des Papstes. Nächste ökumenische Schritte seien auf katholischer Seite die offizielle Anerkennung des Eucharistieempfangs für gemischt-konfessionelle Ehen, auf evangelischer Seite eine neue Diskussion über die Rolle des Papsttums. Ökumene funktioniere am besten in den Gemeinden. Immerhin seien gut 1500 Jahre Kirchengeschichte gemeinsam zurückgelegt worden; hieran wieder anzuknüpfen und die Ökumene weiter zu denken, sei Chance des Reformationsjubiläums, auch in Vorbereitung des 3. ökumenischen Kirchentags 2021 in Frankfurt.
Als wichtigste Gegenwartsaufgabe sieht Sternberg den Dialog mit dem Islam, der unter Gläubigen besser funktioniere als unter Konfessionslosen, immerhin mehr als ein Drittel der Gesellschaft. Ein Plädoyer für Bildung, auch Erwachsenenbildung, hielt er mit Blick auf Ost- und Mitteleuropa. Das gemeinsame Narrativ der 1960er Jahre, der Wunsch nach Entgrenzung und Freiheit, die Überwindung des Nationalismus seien Errungenschaften, die heute wieder erneuert werden müssten.
In seinen einführenden Worten schlug Sternberg auch leise Töne an und griff Luthers quälende Frage nach einem gnädigen Gott auf, der sich dem Menschen in seiner Schwachheit annimmt. Wieviel Platz haben Selbstzweifel, Sünde und Buße in einer Zeit der Selbstoptimierung?
Im Dienst an der Gesellschaft und dem Menschen
Einig waren sich die Protagonisten in ihrem Bekenntnis zu Christus und zu klaren christlichen Positionen. Außenstehende unterschieden häufig nicht mehr nach katholisch, lutherisch, reformiert, sondern nehmen eine Person als Christen wahr. Vordringlichste Aufgabe eines Christen sei der Dienst an der Gesellschaft und am Menschen. Lieberknecht betonte, dass zwar nur noch 55 Prozent der Bevölkerung einer der zwei großen christlichen Kirchen angehörten, doch sei dies zahlenmäßig eine große Kraft, die man nicht ignorieren könne. Die Politik werde nicht das Heil auf Erden erreichen können, sehr wohl aber bräuchten wir den Glauben als Maßstab und Orientierung, um nach bestem Gewissen Politik zu machen. Die Errungenschaften nicht klein zu reden und den Staat daran zu erinnern, die Quellen zu schonen, aus denen sich sein Verständnis – z.B. für die Menschenwürde – speist, sei Aufgabe der Christeneinheit, mahnte auch Sternberg.
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