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Der Leiter des Bildungswerkes Mainz, Karl-Heinz van Lier, formulierte in seiner Begrüßungsrede den Wunsch, dass das von der Stiftung organisierte Forum die Frage des Rückzuges aus Afghanistan aus unterschiedlichen Perspektiven behandeln solle. Um dies zu erreichen, hatte die Stiftung mit Herrn Hardt, MdB, sowohl einen Vertreter aus der Politik, mit Herrn Schenk einen Vertreter der Bundeswehr, als auch einen zivilen Aufbauhelfer und Landeskundigen, Herrn Dr. Erös, zur Podiumsdiskussion eingeladen.
Die drei Referenten hielten zunächst jeweils einen kurzen Vortrag, um ihre Ansichten zum Ausdruck und ihr Wissen vermitteln zu können. Auf diese Referate folgte dann eine Diskussionsrunde, bei der auch zahlreiche Gäste aus dem Publikum die Chance nutzten, Fragen zu stellen und ihre Meinung zu äußern.
Informationen meist nur aus 2. oder 3. Hand
Dr. Reinhard Erös, ehemaliger Oberstarzt der Bundeswehr und Gründer des Hilfswerkes „Kinderhilfe Afghanistan“, legte zu Beginn seines Vortrages großen Wert darauf zu betonen, dass er keinesfalls ein „Afghanistankenner“, sondern höchstens Kenner einer Provinz sei, nämlich der Provinz, in der er seit 20 Jahren lebt und deren Sprache er beherrscht. Informationen über den Rest des Landes erhalte er, „so wie die meisten Politiker“, nur aus 2. oder 3. Hand.
Um dem Publikum seine Arbeit in Afghanistan veranschaulichen zu können, zeigte er einen kurzen Mitschnitt aus der ARD-Sendung „Weltspiegel“. Ein Weltspiegeljournalist hatte ihn für diesen Bericht beispielsweise in eine der vielen von ihm erbauten Schulen begleitet oder war zugegen, als Herr Dr. Erös mit religiösen bzw. gesprächsbereiten Paschtunen - im NATO-Jargon würde man sie als „moderate Taliban“ bezeichnen - traf. Wenn er zum Beispiel eine Schule oder ein Waisenhaus baut, holt Erös sich grundsätzlich die Zustimmung der Taliban ein, um zu gewährleisten, dass die Einrichtungen nicht später zerstört werden. Der Bericht endete mit einem Zitat von Herrn Erös, wonach wir im Westen die Uhren hätten und die Afghanen die Zeit.
Reinhard Erös forderte den Rückzug aller ausländischen Truppen aus Afghanistan und begründete dies. Zum einen sprach er davon, dass neben jenen NATO-Soldaten, die bei ihrem Einsatz in Afghanistan ums Leben kommen, auch noch eine erschreckend hohe Zahl (laut Hr. Erös bisher ingesamt 25.000 in der NATO) an Soldaten aufs Schwerste verwundet werden. Diese Soldaten könnten zwar vorerst gerettet werden, weil die Medizin so hoch entwickelt sei, dennoch würden sie nie wieder vollständig gesund werden.
Zum anderen sei auch die Anzahl an seelisch verletzten Soldaten, die unter posttraumatischer Belastungsstörung leiden, erschreckend hoch. Nicht zu vergessen seien auch die enormen Kosten, die für die Nachbetreuung der erkrankten Soldaten aufgebracht werden (müssen).
Zudem äußerte Dr. Erös Kritik am Einsatzort der Bundeswehr im Norden Afghanistans. Die kritische Gruppe, sprich die Paschtunen, befänden sich im Süden und Osten des Landes. Dort fänden auch 90% aller Kampfhandlungen statt, so Erös. Wenn der Norden „repariert“ werden würde, so hätte dies mit der Sicherheit des Landes nichts zu tun.
Sprache als Grundlage der Kulturkompetenz
Auch brachte Herr Erös seine Meinung zum Ausdruck, wonach die Grundlage von Kulturkompetenz in der Sprache läge. Es könne nicht sein, dass die NATO sich seit nunmehr bereits 10 Jahren im Einsatz befände, die Sprache Paschtu aber nicht gelernt und gelehrt (Bundeswehrhochschule) werden würde. Er berichtete exemplarisch von einem Erlebnis, bei dem einem hohen Bundeswehrsoffizier ein Fauxpas unterlaufen sei, weil dessen Dolmetscher falsch übersetzt hatte. Der Übersetzungsfehler entstand, weil der Dolmetscher nicht Paschtu, sondern lediglich die Sprache Farsi beherrschte und diese sprachliche Inkompetenz überspielen wollte. Um zu lernen, wer die Taliban sind, fuhr Erös fort, müsse man zudem eine Koranschule besuchen.
Zum Abschluss seines Kurzvortrages postulierte er noch einmal klar seine Forderung, wonach die Afghanen sich selbst überlassen werden müssen („Vade tecum Afghanistan!“).
Nicolai Schenk, Major d.R. des Fallschirmjägerbataillon 263 und erster Kreisbeigeordneter der südlichen Weinstraße, schilderte in seinem Referat die Erfahrungen, die er in seinen insgesamt drei Afghanistan-Einsätzen gesammelt hat. Zunächst erklärte er, dass seine Aufgabe hauptsächlich darin bestand, die Bewegungsfreiheit von amerikanischem und deutschem Militär zu gewährleisten. Es sei schon ein großer Aufwand, überhaupt einen Kilometer in diesem Land zu fahren, weil die Wassergräben, welche die Dörfer mit Wasser versorgen, möglichst nicht beschädigt werden dürfen. Es sei Ziel der Bundeswehr, wenig Flurschäden zu verursachen, um die Lebensgrundlage der Bevölkerung (Bewässerung, Äcker etc.) nicht zu zerstören.
Herr Schenk machte deutlich, dass eine enge Zusammenarbeit mit den afghanischen Sicherheitskräften bestünde. So fänden zum Beispiel keine Einsätze statt, die nicht von Afghanen begleitet würden. Er vermittelte dem Publikum zu Beginn seines Vortrages auch ein gewisses Grundwissen über den Afghanistaneinsatz. So erläuterte er beispielsweise das logistische Konzept eines Versorgungskonvois. Etwas detaillierter ging der Referent auf die Probleme im Umgang mit den afghanischen Sicherheitskräften ein. Diese seien territorial wie auch funktional in zahlreiche Gruppen gegliedert (Grenzpolizei, Afgan National Army, Afgan National Police etc.). Das mache eine Zusammenarbeit und Kooperation nicht einfach. Außerdem erläuterte Herr Schenk die Hauptbedrohungen der Bundeswehr bzw. der NATO-Soldaten. So seien z.B. Selbstmordattentäter ein großes Problem. Die Anschläge könnten dabei die unterschiedlichsten Motive haben, weshalb er es ablehne, reflexhaft die Taliban zu beschuldigen.
Herr Schenk fasste seine Erläuterungen bezüglich der Gefahren treffend zusammen, als er sagte, „dass der Kampf gegen eine hochgerüstete Armee mit den einfachsten Mitteln geführt wird“. Er sprach auch davon, dass man als Soldat aufgrund der latenten Anschlagsgefahr einen Verfolgungswahn entwickele. Dabei sei es lebenswichtig immer wieder abzuwägen, wann eine Situation gefährlich sei und wann nicht. Abschließend erklärte Herr Schenk, dass er sich einen aktiven Dialog zwischen dem zivilen Aufbau und den Sicherheitskräften wünscht.
Verschwinden des Terrors, selbsttragender Wiederaufbau und demokratische Strukturen als Ziele
Jürgen Hardt, MdB, Mitglied des Verteidigungsausschusses des deutschen Bundestages, Mitglied des Europaausschusses sowie der parlamentarischen Versammlung der Nato, begann seine Ausführungen mit der Aussage, dass Initiativen wie die von Herrn Erös notwendig seien, einen militärischen Einsatz aber nicht ausschlössen. Vielmehr müsse sich beides ergänzen. Die Ziele, die nach Abzug der NATO erreicht sein sollten, seien das Verschwinden des Terrors, ein selbsttragender Wiederaufbau, als auch rudimentäre demokratische Strukturen. Jedoch machte Herr Hardt deutlich, dass er seine Hand nicht dafür „ins Feuer legen möchte“, dass diese Ziele erreicht werden, vor allem auch hinsichtlich des geringen Zeitraums, der noch bis zu dem im Jahre 2014 geplanten Abzug bleibt.
Ein großes Problem des Abzuges sei auch dessen Organisation und Logistik. Des Weiteren erklärt er, dass im Jahre 2015 von der NATO ein Afghanistan-Mandat zu erwarten sei, welches den zivilen Wiederaufbau Afghanistans hin zu einem stabilisierten Land unterstützen soll. Dabei solle zwar kein Militär beteiligt sein, auf uniformierte Kräfte und Polizisten könne jedoch nicht verzichtet werden.
Die im Anschluss an die Referate von Nathanael Liminski moderierte Podiumsdiskussion begann mit einigen aus dem Publikum an Herrn Hardt adressierte Fragen, da dieser die Veranstaltung leider verfrüht verlassen musste. So interessierte sich das Publikum sehr dafür, zu erfahren, was nach dem Abzug mit jenen Afghanen passieren werde, die mit der NATO und insbesondere der deutschen Armee zusammengearbeitet haben. „Der Abzug soll einhergehen mit der Übertragung der Verantwortung an afghanische Armee und Polizei“, so Herr Hardt. Man überlege zudem, bis zu 2000 Afghanen Asyl zu gewähren. Herr Schenk erklärte jedoch später, dass er den Eindruck habe, die Afghanen wüssten, dass sie im Zweifelsfall auf sich selbst gestellt seien.
Der Abgeordnete sagte, das Ziel sei eine afghanische Regierung, die der ISAF nach dem Abzug friedlich gesinnt sei. In diesem Punkt stimmte Herr Dr. Erös nicht zu. Seiner Meinung nach brauche Afghanistan eine Regierung, die das afghanische Volk unterstützt und nicht die NATO. Im Afghanistankrieg sei zudem fatalerweise, so Erös, keine die verschiedenen Dimensionen von Entwicklung berücksichtigende Strategie verfolgt worden. Herr Schenk äußerte die Meinung, dass man hätte konsequenter sein müssen. So hätten die Amerikaner zwei Kriege geführt, wobei es offensichtlich sei, dass dabei die Priorität eher beim Irakkrieg lag.
Opiumanbau von zentraler Bedeutung
Kontroverse Ansichten äußerten sich, als die Rolle der Drogen und insbesondere des Heroins für die afghanische Wirtschaft diskutiert wurde. Herr Hardt sieht die Drogenwirtschaft (vor allem im deutschen Teil, sprich dem Norden des Landes) nicht als großes Problem, Herr Erös hingegen vertrat die Meinung, dass der Opiumanbau von zentraler Bedeutung für die dortige Wirtschaft sei. Etwa 8.000 Tonnen Opium würden jährlich in Afghanistan angebaut werden. Ein Großteil dieser enormen Einnahmen flössen an die korrupte Regierung, so Erös.
Im weiteren Verlauf der Diskussion fragte einer der Gäste, ob es überhaupt eine realistische Annahme sei, dass das afghanische Volk in einem einheitlichen Staat zusammenleben will. Dieser Wille sei zwar offiziell bekundet, meinte Herr Hardt, er selbst halte es aber für unrealistisch. Die Vision einer föderalen Staatsorganisation des Landes hält Hardt für erfolgversprechender, man solle mehr Gewalt in lokale Hände legen. Zum jetzigen Zeitpunkt allerdings würden Provinzbeauftragte leider noch von der Regierung Karsai eingesetzt und nicht lokal gewählt werden. Generell sei festzuhalten, dass der geplante Abzug erst dann stattfindet, wenn er zu rechtfertigen ist. Sollte dies nicht der Fall sein, müsse über den Abzugstermin neu verhandelt werden.
Zusammenfassend kann man festhalten, dass das Thema „Afghanistan“ Besucher wie auch Referenten sichtlich emotionalisiert hat. Dies ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb eine sehr hitzige Diskussion entstehen konnte. Herr van Lier erklärte in seinem Schlusswort, dass die starke Emotionalisierung bereits aus den vollkommen kontroversen Ansichten bezüglich des Einmarsches in Afghanistan resultierte. Es sei - um es metaphorisch auszudrücken - wie mit einem falsch zugeknöpften Mantel. Wie soll ein Mantel am Ende ordentlich aussehen, wenn zu Beginn das Zuknöpfen bereits falsch begonnen wurde?
Der Ablauf der Diskussion erweckte den Eindruck, dass die Macht der gezeigten Bilder, die allgemeine Emotionalisierung der Anwesenden und die Komplexität der Gegebenheiten Afghanistans (Ethnien, Sprachen usw.) im Kontrast zu dem beinahe banal militärisch strategischem Auftreten der ISAF-Streitkräfte stand. Im Laufe des Politischen Salons zu Afghanistan ergab sich mehr und mehr der Eindruck einer Bundeswehr als selbstreferentiell agierende Macht, die so gut wie keine Friedensaufgaben wahrnehmen kann, weil sie sich zum Selbstschutz „einigelt“.
Was zurückbleibt ist Skepsis. Skepsis bezüglich des „lockeren“ Abzuges und auch Skepsis, ob dieser Krieg dem Land wirklich hilft, so van Lier.