Die Stadt-, Markt-, Handwerker- und Bürgerkirche ist seit vielen Jahrhunderten ein Symbol für Glaube, christliche Werte und eine engagierte Stadtgesellschaft. Mit dem Forum Bürgerkirche werden aktuelle Grundsatzfragen von Demokratie, Staat, Gesellschaft und Kirche erörtert. Nach einem Vortragsabend mit dem ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff im November 2022 war der Vortragsabend mit dem früheren Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Thierse die zweite Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung im Rahmen dieser Reihe.
In seiner Begrüßung und Einführung beschrieb der Landesbeauftragte der Konrad-Adenauer-Stiftung Philipp Lerch die Ausgangslage für die Vorträge, Impulse und Gespräche des Abends: eine Welt in Unordnung, ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg in Europa, Deutschland inmitten einer vielschichtigen Zeitenwende. Er stellte die Frage in den Raum, wie besorgt, wie entschlossen, wie konstruktiv und mit wie viel Nächstenliebe den großen Herausforderungen unserer Zeit begegnet und wie beherzt der gesellschaftliche Zusammenhalt gepflegt, verteidigt und neu erarbeitet werden müsse. Lerch freute sich, neben dem Hauptredner auch zahlreiche Persönlichkeiten aus Kirche, Politik, Kultur, Handel, Wirtschaft und Gesellschaft begrüßen zu können. Insgesamt fanden sich 230 Gäste in der jüngst renovierten, restaurierten und neu bestuhlten Kirche ein. Gekommen waren unter anderem die Leiterin der Fachstelle katholische Erwachsenenbildung Trier und zugleich Moderatorin des Abends Katharina Zey-Wortmann, Hausherr und Mitgastgeber Pfarrer und Domkapitular Dr. Markus Nicolay, Generalvikar Ulrich Graf von Plettenberg, viele Mitglieder des Pfarrgemeinderates sowie weiterer Gremien der Pfarrei und Kirchengemeinde Liebfrauen, etwa des Verwaltungsrates und des Kuratoriums von St. Gangolf, Oberbürgermeister Wolfram Leibe, die Dezernenten Ralf Britten und Andreas Ludwig, Landrat Stefan Metzdorf sowie zahlreiche Mitglieder des Trierer Stadtrates.
In seinem Einführungsimpuls unterstrich Bürgermeister a. D. Bernhard Kaster, ehemaliger Bundestagsabgeordneter, früherer Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Vorsitzender des Kuratoriums der Markt- und Bürgerkirche St. Gangolf Trier und Mitglied des Kuratoriums der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. die Bedeutung des Veranstaltungsraumes: Die Bürgerkirche war, sei und bleibe ein Ort des Gottesdienstes, des Gebetes, der Ruhe und des Rückzugs aus dem Trubel des Alltags und der Innenstadt der ehemaligen Hauptstadt des weströmischen Reiches, Deutschlands ältester Stadt. Zugleich werde die traditionsreiche Kirche als ein Ort des Miteinanders, der Begegnung und des Austauschs auch behutsam als Raum für kulturelle und gesellschaftliche Veranstaltungsangebote weiterentwickelt. St. Gangolf sei geradezu prädestiniert für Abende wie diesen, schließlich habe die Kirche, gelegen in einem jahrhundertelangen Aufmarsch- und Kriegsgebiet, seit dem 10. Jahrhundert viele Umbrüche und Zeitenwenden erlebt und überlebt. An einer dieser Wenden sei, so Bernhard Kaster weiter, Dr. Wolfgang Thierse beteiligt gewesen: an der Vollendung der Einheit Deutschlands und der Einigung Europas, das so viel Freiheit, Frieden und Wohlstand gebracht habe, dessen Territorium und dessen Werte aber gerade heute wieder vehement verteidigt werden müssten.
Sodann hielt Bundestagspräsident a. D. Wolfgang Thierse einen Vortrag zum Thema "Demokratie in der Zeitenwende. Was hält unsere pluralistische Gesellschaft in dramatischer Veränderungszeit zusammen?". Darin beschrieb er zunächst die aus seiner Sicht größten Herausforderungen: Globalisierung, Pluralisierung der Gesellschaft, Integration, Veränderungen der Arbeitswelt durch Digitalisierung und Künstliche Intelligenz, ökologische Bedrohung, Terrorismus, Gewalt und nicht zuletzt der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Wie sehr habe man 1989 und in den darauffolgenden Jahren vom goldenen Frieden und vom Sieg der Demokratie geträumt! Wie sehr habe man auf das deutsche Erfolgsmodell, auf politische und soziale Stabilität vertraut, auf den Fortschritt als das Fundament der Moderne gesetzt, sich auf einer Insel der Glückseligen gewähnt! Der von Bundeskanzler Scholz ins öffentliche Bewusstsein geprägte Begriff der Zeitenwende reagiere angemessen auf die aktuelle „tiefe Erschütterung“, eine „höchst folgenreiche Wendung der Geschichte“, die ganz anders als die Wende von 1989/1990 menschliches Leid, Tod, Flucht, Konfrontationen, ökonomische, soziale und finanzielle Zuspitzungen oder Belastungen mit sich bringen würde. Der Aggressionskrieg Russlands und seine Folgen bedeuteten „eine erhebliche Herausforderung für das Innere unserer Gesellschaft, für deren sozialen Zusammenhalt“. Der Krieg habe unsere Hoffnung auf eine durch Regeln und Verträge geordnete und sichere Welt des Friedens empfindlich getroffen. Jetzt werde sich, so Dr. Thierse, erweisen müssen, „ob unsere Demokratie eine Schönwetterdemokratie gewesen ist“: „Denn die Existenzgrundlagen der alten Bundesrepublik waren doch wirtschaftliches Wachstum und stabile Wohlstandsmehrung. Das begründete und ermöglichte die Stabilität unserer Demokratie. Was wird aus ihr werden, wenn diese Grundlage für nicht absehbare Zeit nicht mehr so sicher ist wie gewohnt. Wenn die materiellen und kulturellen Verteilungskonflikte sich, nicht nur in unserem Land, sondern global, verschärfen? Das ist die entscheidende Frage bei dem, was Zeitenwende wirklich bedeutet und bedeuten muss, weit über das Militärische hinaus.“ Zeiten wie diese schürten das individuelle und kollektive Bedürfnis nach neuen und auch alten Vergewisserungen und Verankerungen, nach Identität, nach Sicherheit, nach Beheimatung. Dabei seien die Gefühle der Unsicherheit, der Gefährdung des Vertrauten und Gewohnten, der Infragestellung dessen, was Halt und Zusammenhalt gegeben habe, der ökonomischen Abstiegsängste, der sozialen Überforderungsgefühle, der kulturellen Entheimatungsbefürchtungen und tiefgehende Zukunftsunsicherheiten höchst ungleich verteilt, worauf es in besonderer Weise zu achten gelte. Zeiten heftiger Veränderungen und Verunsicherungen seien immer auch Zeiten für Populisten, für die Vereinfacher und Schuldzuweiser – dies gelte in besonderer Weise, aber keinesfalls nur für den Osten Deutschlands, wie man während der Corona-Pandemie habe beobachten können. Die Stimmung sei gereizter, die Konfrontationen würden schärfer, Aggressivität nehme zu. Hierbei sei nicht mehr nur die vertraute und notwendige Auseinandersetzung politischer Parteien und nicht mehr nur das Austragen der gewohnten sozialökonomischen Verteilungskonflikte zu beobachten, sondern eine Auseinandersetzung auf kultureller Ebene verstärkt worden, wie Dr. Thierse am Beispiel von teils heftigen Reaktionen auf seinen Essay in der Frankfurter Allgemeine Zeitung „Wieviel Identität verträgt die Gesellschaft“ aus dem Jahr 2021 veranschaulichte. In diesem Zusammenhang widmete er sich intensiv der zentralen Frage des Abends „Was hält eine diverse Gesellschaft zusammen? Wie ist die Kommunikation einer vielfältigen Gesellschaft so möglich, dass sie verbindet und nicht entzweit?“ Mit der Devise „Wer in einer Demokratie etwas für Minderheiten erreichen will, wer etwas verändern will, der muss dafür Mehrheiten gewinnen!“ warb Dr. Thierse intensiv für die „Mühsal von Verständigungs- und Veränderungsprozessen“, für Balance, das Austarieren von Identitäten von Individuen und Gruppen, für die Bereitschaft, „das Eigene in Bezug auf das Gemeinsame, auf das Gemeinwohl zu denken und zu praktizieren, also auch das Eigene zu relativieren.“ Er zeigte sich überzeugt: „Wenn Vielfalt, Diversität, Pluralität friedlich und produktiv gelebt werden sollen, dann müssen sie mehr sein als das bloße Nebeneinander sich voneinander nicht nur unterscheidender, sondern auch abgrenzender Identitäten und Minderheiten. Dann müssen sie mehr sein als das Gegeneinander von Ansprüchen und Betroffenheiten.“ Vielfalt erzeuge nicht von alleine eine Gemeinschaftlichkeit. An dieser und für diese müsse immer wieder neu gearbeitet werden. Der unabdingbare Respekt vor Vielfalt und Anderssein sollte in die Anerkennung von Regeln und Verbindlichkeiten auch von Mehrheitsentscheidungen eingebettet sein. Sonst sei der gesellschaftliche Zusammenhalt durch radikale Meinungsbiotope, tiefe Wahrnehmungsspaltungen und konkurrierende Identitätsgruppenansprüche gefährdet. Weil der Zusammenhalt in einer diversen, sozial und kulturell fragmentierten Gesellschaft nicht mehr selbstverständlich sei, müsse dieser Zusammenhalt ausdrücklich und noch deutlicher das Ziel von demokratischer Politik und von kulturellen und kommunikativen Anstrengungen sein. Für einen gelingenden gesellschaftlichen Zusammenhalt in einer offenen, entgrenzten, globalisierten, pluralistischen, ethnisch und religiös-weltanschaulich und kulturell, sozial und politisch vielfältigen, oft auch widersprüchlichen Welt empfahl Dr. Thierse: Die Menschen müssten immer wieder neu aufeinanderzugehen, kooperieren, begreifen, dass Integration eine doppelte Perspektive verlange und eine doppelte Aufgabe sei, an Demokratie, Kultur und Bildung partizipieren, das „gemeinsame Wir“ suchen, finden oder gründen und bewahren, eine gemeinsame Sprache sprechen, uneingeschränkt Recht und Gesetz sowie die Regeln unseres Rechts- und Sozialstaats anerkennen, sich aktiv um sozialen Zusammenhalt bemühen, Übereinstimmungen bei Maßstäben, Normen und Werten suchen, gemeinsame oder zumindest verwandte Vorstellungen von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität anstreben. Die Christen hätten, so Dr. Thierse, eine besondere Verantwortung, ja geradezu eine Pflicht, die Debatte als starke Dialogpartner zu prägen. Sie seien „unabweisbar herausgefordert, mitzudenken und mitzutun bei der Bewältigung der scheinbar überwältigenden Probleme der Gegenwart: Den Krieg zu beenden, pluralistische Vielfalt in unserer Gesellschaft friedfertig zu leben, technologische Umwälzungen menschenfreundlich zu gestalten – und vor allem die überlebensnotwendige, schmerzliche und zukunfteröffnende ökologische Transformation entschlossen zu verwirklichen.“ Im demokratischen Streit zwischen Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur, zwischen den Generationen und in der Bürgergesellschaft, unter tatkräftiger Mitwirkung der Christen, seien nun Veränderungen und Reformen zur Gestaltung der Zukunft auszuhandeln und in die Tat umzusetzen. Christlicher Glaube könne hier eine starke Motivation sein und der Skepsis und Resignation, der Apathie und Verzweiflung, der Verlustangst und Verzichts-Apokalypse sowie der Bequemlichkeit und störrischen Abwehr etwas entgegenhalten: die Hoffnung.
In seinem Dankwort knüpfte Pfarrer und Domkapitular Dr. Markus Nicolay, genau hier an. Er pries „den offenen Himmel“, den Christen erhoffen und erwarten dürften und erinnerte daran, dass Jesus seine Jünger und Anhänger stets ermutigt habe, sich nicht zu fürchten. Die Menschheit könne allen Herausforderungen zum Trotz zuversichtlich sein und der oftmals befürchteten Apokalypse getrost die Hoffnung entgegensetzen. Dies bedeute freilich nicht, die Hände in den Schoß zu legen und nur auf das Wirken Gottes oder der Anderen zu vertrauen. Es bedürfe entschlossenen Engagements. Der Vortrag habe ihn, so Dr. Nicolay, sehr zum Nachdenken angeregt. Dr. Thierses Werben für Bescheidenheit auf der einen und selbstbewusstes Auftreten auf der anderen Seite stelle für ihn eine kluge mögliche Positionierung der Kirche im gesellschaftlichen Diskus zu diesen Fragen und zu anderen Themen dar.
Auch in der vorangehenden, von der Leiterin der Fachstelle katholische Erwachsenenbildung Trier Katharina Zey-Wortmann moderierten Diskussion, bei der sich zahlreiche Gäste zu Wort meldeten, klangen benachbarte Fragen an: zur gegenwärtigen Situation der Kirche, zum gesellschaftlichen Zusammenhalt, aber auch zur Einigung Europas in herausfordernden Zeiten.
Philipp Lerch ging in seinem Schlusswort auf den Appell ein, besorgt und zugleich entschlossen zu handeln. Er führte vermeintlich widerstreitende Begriffspärchen aus dem Vortrag und der Diskussion zusammen. Dabei unterstrich er, wie wichtig beide Seiten der jeweiligen Medaille für den Erhalt des gesellschaftlichen Zusammenhalts seien: streiten und zuhören, Standpunkte vertreten und aufeinander zugehen, sich verteidigen und nachgeben, sich abgrenzen und sich respektieren, individuelle Interessen vertreten und gemeinsame Werte akzeptieren, zuspitzen, aber Milde und Augenmaß walten lassen, Mehrheiten organisieren und akzeptieren, ungeduldig und zugleich geduldig sein können. Lerch unterstrich, dass es hier nicht nur auf „die Politik“, „die Parteien“, „die Kirchen“ oder „die Verbände“, sondern immer und in besonderer Weise auf jede einzelne Person ankomme. Wir möchten und werden in der Reihe Forum Bürgerkirche an diesem emblematischen Ort weiter mit Ihnen über Zusammenhalt sprechen, darüber, wie wir eine Welt in Unordnung schützen, befrieden, kitten und bewahren können, wandte er sich an die voll besetzten Reihen im renovierten und restaurierten historischen Kirchenschiff von St. Gangolf.
Beim abschließenden Empfang mit Imbiss und Getränken bestand die Gelegenheit, sich in der renovierten und restaurierten Markt- und Bürgerkirche umzusehen sowie mit Dr. Wolfgang Thierse und den anderen Referentinnen und Referenten zu diskutieren. Viele der 230 Gäste nahmen die Gelegenheit wahr und kamen miteinander erkennbar angeregt ins Gespräch.