Country reports
Jedenfalls machte der Ministerpräsident Cvetković am 16. Oktober 2008 bei einer anlässlich der 100 Tage seiner Regierung teils öffentlichen Kabinettsitzung einen sehr zufriedenen Eindruck. Er teilte den Journalisten mit, dass das Kabinett in dieser Zeit 27 mal tagte und 70 Gesetze passieren ließ neben einer Reihe von Regulationen, Entscheidungen, Folgerungen und Informationen. Unter den Gesetzen dienen allein 20 der EU-Integration und der Aufnahme auf die white Schengen list. Ebenso unterstrich er, dass Serbien das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) und das dazugehörige Handelsabkommen ratifiziert hat. Ebenso hob er die Zusammenarbeit mit dem internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (ICTY) hervor. Alles in allem eine beachtliche Bilanz.
Cvetković brachte in diesem Zusammenhang die Ziele seiner Regierung in Erinnerung: Die europäische Integration, die Verteidigung der staatlichen Integrität und Souveränität, die Stärkung der Ökonomie, soziale Verantwortung, Kampf gegen organisierte Kriminalität und Korruption und den Respekt internationalen Rechts. Wer sich an die Vorgängerregierung erinnert, dem kommen diese Ziele bekannt vor. Koštunica trat mit dem gleichen Programm an, abgesehen von dem Punkt Beachtung internationalen Rechts. Stattdessen hatte es geheißen: Zusammenarbeit mit dem ICTY. Aber es gibt noch einen kleinen Unterschied. Bei Koštunica stand die EU-Intergration an zweiter Stelle – hinter Kosovo. Die Änderung der Reihenfolge ist mehr als symbolisch. Sie ändert in entscheidender Weise die politische Tagesordnung Serbiens.
Die Bemühungen, den EU-Integrationsprozess zu beflügeln, sind offensichtlich. Nicht nur die Zahl der Gesetze spricht für sich. Auch die Kontakte nach Brüssel sind intensiver geworden. Ein bemerkenswerter Schritt ist vor allem die Entscheidung der Regierung, das SAA und das Handelsabkommen ab Januar 2009 einseitig in Kraft treten zu lassen. Beide Verträge sind fertig verhandelt. Die EU will sie aber erst dann ratifizieren, wenn Serbien den Kriegsverbrecher Mladić an Den Haag ausgeliefert hat. Für Serbien bedeutet dieser Schritt, dass einseitig Handelsbarrieren für EU-Produkte auf dem serbischen Markt abgebaut werden. Damit wird die Konkurrenz für eigene Produkte größer, weshalb die Opposition diesen Schritt massiv kritisiert.
Was schwerer wiegt als die Kritik, ist die Obstruktion, die die Opposition, vor allem die Radikale Partei, im Parlament betreibt. Sie hat es geschafft, dass das Parlament bislang kaum zum Arbeiten gekommen ist und die vielen Gesetze, für die sich die Regierung lobt, bislang nicht im Parlament verabschiedet werden konnten. Nur mit massiven Bemühungen und unter Anwendung des parlamentarischen Eilverfahrens, konnten wenigstens die 20 Gesetze verabschiedet werden, die für die EU-Annäherung und die white Schengen list am dringendsten waren. Die Geschäftsordnung sichert ein geordnetes Verfahren nicht ab, zumindest ist es nicht gelungen, eine reguläre parlamentarische Arbeit zu praktizieren.
Ein Parlament ohne eigenes Budget, mit nur 400 Angestellten einschließlich Pförtner, in dem Abgeordnete in der Regel kein Büro haben geschweige denn eigene Mitarbeiter, kann realistischer Weise seinen Aufgaben nicht gerecht werden. Das ist sicher einer der größten Defizite im demokratischen System Serbiens. Dies zu ändern liegt allerdings nicht im Aufgabenbereich der Regierung. Sondern hier sind die Abgeordneten und Parteien selbst gefordert zu zeigen, wie ernst es ihnen mit Demokratie ist.
In diesem Fall ist das unterentwickelte Parlament auch ein Problem für die Regierung, die damit nicht ihre angestrebten Ziele erreichen wird. Aber es gab in diesen 100 Tagen noch eine Reihe weiterer Wechselbäder. Es war ein großer Erfolg, Karadzić an das ICTY auszuliefern. Die neue Regierung hatte einen Beweis geliefert, dass sie es mit der Kooperation mit dem Kriegsverbrechertribunal ernst meint. Sie hatte deshalb auf ein entgegenkommen der EU gehofft, zum Beispiel auf das in Kraft setzen des Handelsabkommen. Dies hat die EU verwehrt.
Ebenfalls ein Wechselbad in Serbien verschaffte die Anerkennung Kosovos durch Montenegro und Mazedonien. Gerade hatte sich Serbien für einen großen Sieg gefeiert. Wochenlang bemühte sich der Außenminister Jeremić, in der VN-Generalversammlung eine Mehrheit für einen Antrag zu bekommen, der den Internationalen Gerichtshof in Den Haag mit einem Gutachten für die Vereinbarkeit der Unabhängigkeitserklärung Kosovos mit dem Völkerrecht beauftragt. Immer wieder verwies er darauf, welche Anstrengungen es kostet und wie stark Serbien darum kämpfen muss – um dann den Erfolg auch richtig feiern zu können. Am Ende bekam der Antrag auf der Sitzung am 8. Oktober 77 Stimmen, bei 6 Gegenstimmen und 74 Enthalten. Eigentlich ein Ergebnis, das Nachdenklich machen sollte, denn reeller Weise hatte der Antrag keine Mehrheit. Länder wie Deutschland, die Kosovo anerkannt haben, enthielten sich aus Respekt vor dem Gericht der Stimme, weil grundsätzlich keinem Staat verwehrt sein sollte, das Gericht anzurufen, für dessen Errichtung man immer gefochten hatte. Aber darüber sah man in Serbien hinweg, allein das Ergebnis zählte und man genoss den Erfolg. Fragt man die Regierung, was sie von solch einem Gutachten erwartet, wird gesagt, damit sollte eine Möglichkeit für neue Gespräche mit Kosovo geschaffen werden und man geht davon aus, dass durch diesen Auftrag Länder von einer Anerkennung abgehalten werden, da sie erst einmal auf das Ergebnis des Gutachtens warten würden.
Vor diesem Hintergrund war es ein herber Schlag, dass ausgerechnet einen Tag später Montenegro und Mazedonien die Anerkennung vollzogen. Gerade über Montenegro war die Enttäuschung groß. Mit diesem Staat war Serbien noch bis Juni 2006 in einer Union verbunden, ca. 30% der Einwohner Montenegros sehen sich als Serben. So fand der Außenminister schon im Vorfeld sehr drastische Worte, um seine Empfindungen auszudrücken, in dem er sagte „Podgorica würde ein Messer in den Rücken Serbiens rammen“ (Quelle B92 6.10.08). Entsprechen harsch war die Reaktion, in dem man die Botschafter dieser beiden Länder für Persona non grata erklärte und sie des Landes verwies. Serbien hatte erst einen Tag vorher seine Botschafter in die Länder, die Kosovo anerkannt haben, wieder zurückgeschickt, nachdem sie vorher „zu Konsultationen“ nach Hause gerufen wurden.
Diese Ereignisse machen deutlich, dass auch die jetzige Regierung beim Thema Kosovo keine Wende vollzieht. Nur ist es jetzt eben Priorität zwei und nicht mehr eins.
Nicht mehr zu den 100 Tagen und auch nicht direkt zur Regierungsarbeit zählend, aber sehr bemerkenswert ist, dass DS und SPS gemeinsam eine so genannte „Erklärung zur Versöhnung“ unterzeichnet haben. Tagelang schon wurde darüber verhandelt und spekuliert. Am 19. Oktober wurde sie unterzeichnet und veröffentlicht. Man konnte bei Regierungsbildung neugierig sein, wie DS und SPS überhaupt zusammenpassen. Nie hatten sich die Sozialisten wirklich von ihrer Milosevic-Vergangenheit gelöst oder gar ein Schuldeingeständnis vorgenommen. Die DS war eine der stärksten Oppositionsparteien gegen das Milosevic-Regime. Jetzt auf einmal wollte man zusammen regieren. Es ist nachvollziehbar, dass wenigstens im Nachgang nach einer gemeinsamen Basis für ein Zusammengehen gesucht wird.
Die Erklärung „Versöhnung“ zu nennen erweckt allerdings die Erwartung, dass sich tatsächlich mit der Vergangenheit auseinandergesetzt wird. Davon ist in dem Text nichts zu entdecken. Vielmehr erweckt sie den Eindruck eines einfachen Schlussstrichs unter die Vergangenheit. So sagte dann auch der Vorsitzende der Sozialisten: „Es war politisch schwierig, die jetzige Regierung zu bilden, da die SPS und die DS Kräfte symbolisieren die Serbien vor und nach dem 5. Oktober 2000 (Anmerkung: an diesem Tag wurde Milosevic gestürzt) regierten, aber diese Erklärung beschließt formell, dass dieser symbolische Antagonismus der Vergangenheit angehört.“ (Quelle: B92 vom 19.10.08) Das die Erklärung so lange Zeit brauchte, soll nach Spekulationen einiger Zeitungsberichte zufolge auch nicht der Auseinandersetzung über die Vergangenheit geschuldet gewesen sein, sondern der Schwierigkeit beim Aushandeln der Posten in den Staatsbetrieben, die nach jeder neuen Wahl neu verteilt werden.