Country reports
Auch sechs Monate nach den Massendemonstrationen gegen Studiengebühren am Parlamentssitz in Kapstadt und den Ausschreitungen am Regierungssitz in Pretoria halten sporadische Proteste die Hochschullandschaft des Landes weiterhin in Atem und weiten sich auf andere Politikfelder aus. Regelmäßige Universitätsschließungen und gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Studierenden und der Polizei sind immer wieder zu beobachten. Die Zerstörungen an Universitätseigentum belaufen sich mittlerweile auf umgerechnet knapp 20 Millionen Euro. Zeit für eine Zwischenbilanz.
Die #MustFall-Protestwellen
Als Beginn der landesweiten Studierendenproteste gilt der März 2015, wo unter dem Hashtag #RhodesMustFall an der Universität Kapstadt für ein „dekolonialisiertes“ Bildungssystem protestiert wurde. Als symbolisches Opfer wurde daraufhin das Denkmal des britischen Kolonialisten und Rassentheoretikers Cecil Rhodes auf Druck der Studierenden vom Campus entfernt. Die zweite große Protestwelle nahm in der Besetzung des Verwaltungsgebäudes der Universität Johannesburg im Oktober 2015 seinen Anfang und richtete sich gegen die geplante Erhöhung von Studiengebühren. Innerhalb weniger Tage solidarisierten sich Studierende weiterer Universitäten unter dem Hashtag #FeesMustFall. Wochenlang blieben die größten Universitäten des Landes geschlossen und Abschlussprüfungen mussten ins nächste Jahr verschoben werden.
Der Protest weitete sich aus und richtete sich verstärkt auch gegen die Regierung. Es kam in Johannesburg und in Pretoria zu Massenmärschen auf das ANC-Hauptquartier bzw. den Regierungssitz. In Kapstadt wurde während der halbjährlichen Haushaltsrede des Finanzministers das Parlamentsgebäude besetzt und musste von Polizeieinheiten geräumt werde. Ende Oktober 2015 eskalierte der Marsch von über 15.000 Studierenden auf den Regierungssitz in Pretoria, als hunderte Studierende versuchten den Palast zu stürmen. Die Sondereinsatztruppen der Polizei setzten Wasserwerfer, Tränengas und Gummigeschosse ein. Vom Einsatz scharfer Munition wurde berichtet, offiziell wurde dies aber nicht bestätigt. Die brutale Reaktion der Polizei weckte Erinnerungen an die Studierendenproteste während der Apartheidszeit. Noch am selben Nachmittag wandte sich Staatspräsident Zuma per Fernsehansprache an die Studierenden und ordnete eine Rücknahme der Gebührenerhöhungen durch die Universitäten an.
Die Prognose der Regierung, damit zukünftigen Protesten entgegengewirkt zu haben, bewahrheitete sich jedoch nicht. Es ging den Studierenden vielmehr um Grundsätzlicheres, so wurde nun „freie Bildung“ für alle gefordert und generell die Unzufriedenheit mit dem politischen Regime zum Ausdruck gebracht. An unterschiedlichen Universitäten des Landes werden seitdem kontextspezifische Themen aufgegriffen und führen weiterhin regelmäßig zu Stilllegungen des Universitätsbetriebs und zu größeren Polizeieinsätzen. Im März 2016 wurde nach Ausschreitungen an Südafrikas zweitgrößter Universität, der ehemals traditionell „weißen“ Universität Potchefstroom, ein Verwaltungsgebäude in Brand gesteckt. Es entstand ein Schaden von umgerechnet 10 Millionen Euro. Der Campus blieb für vier Wochen geschlossen.
In den letzten Monaten stand zunehmend die in Südafrika noch immer nicht überwundene Rassenfrage („race“) im Fokus der Proteste. Vor dem Hintergrund der generell abnehmenden sozialen Kohäsion in Südafrika ist diese Ideologisierung der Proteste besonders besorgniserregend. Nach den neuesten Studienergebnissen des KAS-Partners Institute for Justice and Reconciliation (IJR) halten 61 Prozent aller Südafrikaner die Beziehungen zwischen den ethnischen Gruppen derzeit für gleich oder schlechter als noch zu Apartheidsende. Mehr als zwei Drittel der Befragten geben zudem an, „wenig oder gar kein Vertrauen“ zu Menschen anderer Hautfarbe zu haben. Beunruhigend ist, dass dieser Prozentsatz im Vergleich zu vorherigen Studien stetig zunimmt. Haben weiße und schwarze Studierende 2015 noch Seite an Seite gegen Studiengebühren protestiert, werden nun unter dem Hashtag #WhitesMustFall zunehmend vermeintliche Privilegien der weißen Bevölkerung Südafrikas infrage gestellt. Auslöser der Proteste ist hauptsächlich die Sprachpolitik führender Universitäten. An einigen wird noch heute hauptsächlich in Afrikaans unterrichtet, der Sprache des ehemaligen Apartheidsystems, die noch von ca. 13 Prozent der Bevölkerung gesprochen wird. Englisch wird zumeist nur simultan übersetzt, was als „ghost whispering“ bekannt ist und die schwarzen Studierenden vor große Herausforderungen stellt. Zudem stehen angeblich „eurozentristische“ Lehrpläne sowie das Personal, das sich noch immer zumeist aus weißen Lehrenden zusammensetzt, in der Kritik. Vor allem an den traditionell afrikaanssprachigen Universitäten im Hinterland Südafrikas kam es in letzter Zeit zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen weißen und schwarzen Studierenden, welche die alten Narben der südafrikanischen Apartheid wieder spürbar werden ließen. Gleichzeitig versammelten sich landesweit aber auch schwarze und weiße Studierende, die vor den Toren der Universitäten gemeinsam gegen Rassismus beteten. Hieran zeigt sich, dass der in Südafrika unter allen Volksgruppen tief verankerte Glaube ein zunehmend verbindendes Element darstellen kann.
Zunehmende parteipolitische Unterwanderung: ANC vs. EFF
Hatten 2015 die Proteste noch weitgehend als spontaner Aufstand begonnen, der jegliche Anwerbungsversuche politischer Parteien deutlich zurückwies, so hat sich dies mittlerweile geändert. Über den Jahreswechsel, die Universitätssommerpause nutzend, gelang es dem ANC über seine Hochschulstrukturen zunehmend den Protest zu beeinflussen und damit zu beruhigen. In Folge dessen kam es zu verstärkten Spannungen zwischen der #FeesMustFall-Bewegung und den ANC-nahen Studierendenvertretungen. Diese Phase der Spannung nutzte wiederum die Studierendenorganisation der im Jahr 2014 neu gegründeten linkspopulistischen Partei „Economic Freedom Fighters“ (EFF), um sich aktiver in die Proteste einzubringen. Bislang erfuhr die EFF vor allem durch die inszenierte Missachtung von (u.a. parlamentarischen) Regeln insbesondere bei jungen, arbeitslosen Wählern sowie bei Studierenden viel Unterstützung. Zunehmend mobilisierten nun einzelne „Anführer“, jeweils mit eigener versteckter politischer Agenda, die Studierenden. Die Protestkultur veränderte sich abermals, die breite Masse der Studierenden wurde nicht mehr erreicht. Störaktionen und Gewalt einzelner Gruppen nahmen zu.
Vor dem Hintergrund der Unterwanderung der Studierendenproteste durch die EFF bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen dies auf das Wahlverhalten bei den anstehenden Kommunalwahlen am 3. August 2016 haben wird. Es wird vermutet, dass neben einer höheren Wahlbeteiligung etwaige Stimmenverluste des ANC im studentisch-urbanen Wählermilieu eher der EFF und nicht der größeren Oppositionspartei DA zugutekommen könnten.
Die kontinuierliche Vernachlässigung des Bildungssektors seit 1994
Die seit dem Soweto-Schüleraufstand von 1976 größten Jugendproteste Südafrikas haben sichtlich an der Oberfläche des eingerosteten ANC-Machtgefüges gekratzt. Nach über 20 Jahren Regierungsführung durch den ANC sind viele der erhofften Bildungsreformen ausgeblieben. Noch immer verteilen sich bei einem Bevölkerungsanteil von knapp 80 Prozent nur 45,8 Prozent der Universitätsabschlüsse auf die schwarze Bevölkerungsmehrheit. Die extrem hohe Abbruchquote unter schwarzen Studierenden ist nur ein Zeichen einer seit Ende der Apartheid verfehlten Bildungspolitik. Regelmäßig schneidet das südafrikanische Schulsystem in Rankings als eines der schlechtesten weltweit ab. Dadurch gelangen Massen unvorbereiteter Schulabsolventen an die Universitäten, ein späterer Studienabbruch hinterlässt viele Studierende schon in jungen Jahren hochverschuldet. Kürzlich wurde von der Regierung selbst eine Studie veröffentlicht, die besagt, dass die Belange Jugendlicher nach dem Ende der Apartheid vernachlässigt wurden. Unter anderem befänden sich über 50 Prozent der Jugendlichen zwischen 20 und 24 Jahren weder in Arbeit, Schule oder Ausbildung. Das staatliche Stipendiensystem sei ausgelastet und überfordert.
Die ungeklärte Frage der Hochschulfinanzierung: Auf dem Weg zu „freier Bildung“?
Mit der Rücknahme der Gebührenerhöhung für 2016 wurde nun eine grundsätzliche Entscheidung in der Frage der Hochschulfinanzierung lediglich verschoben. Schon jetzt ist unklar, wie der aktuelle Fehlbetrag von 200 Millionen Euro finanziert werden soll. Nach der Verkündung des massiven Staatsbudgetdefizits durch den südafrikanischen Finanzminister Anfang des Jahres, sollten sich auch jegliche Pläne nach „freier Bildung“ erledigt haben. Es sei denn, der ANC verabschiedet sich endgültig von der Realpolitik und verteilt weiterhin Geschenke, die sich das Land nicht leisten kann. Hochschulminister Nzimande (gleichzeitig Generalsekretär der Kommunistischen Partei Südafrikas) macht jedoch weiterhin keinen Hehl daraus, dass „freie Bildung“ als Ziel erhalten bleiben soll. Vor dem Hintergrund, dass die südafrikanischen Universitäten nur zu ca. 50 Prozent vom Staat bezuschusst werden, sind die Einnahmen durch Studiengebühren jedoch essentiell zur Aufrechterhaltung eines qualitativ hochwertigen Lehrbetriebs.
Vorschläge für eine zukünftige Finanzierung gibt es in der aktuellen politischen Debatte reichlich: sie reichen von Zwangsabgaben wie einer „wealth tax“, welche die Vermögenden des Landes in die Hochschulfinanzierung mit einbinden soll (Minister Nzimande), bis hin zu einer als „education tax“ getarnten Zwangsabgabe von 5 Prozent auf Unternehmensgewinne bzw. der Nationalisierung von Minen und Banken (EFF). Man kann gespannt sein, auf welche Pläne sich die Regierung Ende des Jahres einigen wird.
Fazit: Re-Politisierung der Studierenden zunächst begrüßenswert
Auch wenn die Proteste in Umfang, Intensität und Gewalt national variieren, ist ihre Gemeinsamkeit, dass Studierende ihren politischen Einfluss wahrnehmen und gehört werden wollen. Studierende sämtlicher Universitäten schafften es, innerhalb kurzer Zeit einen beachtlichen Teil des Landes zu politisieren. Diese neu zu beobachtende Politisierung der Studierenden im ganzen Land ist zunächst begrüßenswert, es besteht aber die ständige Gefahr, dass die Proteste nicht im Rahmen von Diskursen und Debatten ausgetragen werden, sondern zunehmend mit Gewalt.
Hierbei könnte auch die voreilig zurückgenommene Gebührenerhöhung durch den Staatspräsidenten ein negatives Signal für kommende politische Auseinandersetzungen in Südafrika gesendet haben: weniger Diskussion, mehr (gewaltsamer) Protest erscheint lohnenswert. Vor dem Hintergrund des allgegenwärtigen Gewaltkontextes in Südafrika könnten zukünftige Proteste leicht entgleiten. Zudem ist die südafrikanische Polizei für gewalttätige Demonstrationen nicht ausreichend vorbereit. Erst letzte Woche warnte der Rektor der Rhodes-Universität im Eastern Cape davor, dass es nicht mehr lange dauern könnte, bis es ein erstes Todesopfer an den Universitäten gäbe. Einen Tag später wurde die Universität vorübergehend geschlossen und alle Veranstaltungen abgesagt, darunter auch eine KAS-Veranstaltung zur Rolle der Universitäten in der aktuellen Situation.
Es ist davon auszugehen, dass die Studierendenproteste Südafrika im Jahr der Kommunalwahlen weiterhin begleiten werden, bis Ende 2016 die nächste Runde der Gebührenfrage eingeläutet wird. Wenn bis dahin die Regierung keinen befriedigenden Plan zur Finanzierung bzw. Transformation der südafrikanischen Hochschullandschaft vorlegt, werden ähnliche Massenproteste wie Ende 2015 erwartet. Zudem bleibt abzuwarten, ob die Proteste z.B. auch auf die große Masse der arbeitslosen Jugendlichen im Land übergreifen und sich dadurch weitere Dynamiken entwickeln.
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