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Nach zwei Legislaturperioden als Staatspräsident konnte Sargsyan nicht noch einmal für das höchste Staatsamt antreten. Er selbst hatte 2014 eine umfassende Verfassungsreform initiiert, auf deren Basis insbesondere das Parlament sowie das Amt des Ministerpräsidenten gegenüber dem Staatspräsidenten gestärkt werden sollten. Schon damals lag bei seinen Kritikern die Vermutung nahe, dass Sargsyan die Verfassungsänderung nur nutzen wolle, um durch eine Amtsrochade nunmehr als Ministerpräsident weiterhin die entscheidende politische Institution zu bleiben, obwohl er genau dies am 12. April 2014 expressis verbis dementiert hatte. Demnach wollte er sich nach Ablauf der Legislaturperiode als Präsident von der aktiven Politik verabschieden.
Es kam anders! Ohne Gegenkandidat ließ er sich vor einigen Tagen zum Ministerpräsidenten wählen. Die aufgebrachten Armenier fühlten sich belogen und fokussierten allen Protest auf diese Personalie. Mit einigen Protesten war wohl gerechnet worden. Aber es scheint so, als hätten nicht nur der neue Ministerpräsident, sondern viele Parlamentsmitglieder die außerparlamentarische Opposition unterschätzt.
Wenn auf dem „Platz der Republik“ im Zentrum der Hauptstadt Eriwan mehr als 200.000 Menschen demonstrieren, glaubt man, das ganze Land habe sich versammelt. Die Bilder ließen erahnen, dass da kaum noch Platz war zwischen den einzelnen Demonstranten, räumlich, aber offenkundig auch politisch. Hier schlägt das politische und gesellschaftliche Herz der kleinen Kaukasusrepublik. Um den Platz herum und in unmittelbarer Nähe befinden sich Ministerien und wichtige staatliche Behörden. Aber die Proteste blieben nicht auf die Hauptstadt Eriwan beschränkt. Weitere Städte im Land wurden von Protestaktionen erfasst, so auch in der nördlichen, wirtschaftlich wichtigen Provinzhauptstadt Gyumri.
Schon seit mehreren Tagen verbarrikadierten die Demonstranten zeitweise alle Zugänge zu den Gebäuden. In den noch zugänglichen Straßen im Stadtzentrum hupten die Autos im Dauerton: „Eriwan summt und mit der Hauptstadt das ganze Land“ hieß es. Die Demonstranten machten immer wieder deutlich, ihren Protest friedlich vortragen zu wollen.
Anerkannter Anführer der Demonstrationen war Nikol Pashinyan, Vorsitzender einer kleinen Oppositionspartei namens „Ziviler Vertrag“, die zum Parteienbündnis „ELQ“ gehört und der über diese Verbindung Mitglied in der Nationalversammlung ist. Am Samstag erschien der kurz vorher gewählte Ministerpräsident überraschend auf einer Kundgebung und bot ein Vermittlungsgespräch für den nächsten Tag an. Dieses allerdings war schon nach wenigen Minuten beendet mit Sargsyans Ankündigung, er werde als rechtlich gewählter MP „selbstverständlich“ nicht zurücktreten. Mit Blick auf die sich immer weiter ausweitenden Proteste erinnerte er Nikol Pashinyan lediglich daran, dass derartige Proteste vor zehn Jahren in Eriwan ausgesprochen gewaltsam endeten und sogar Todesopfer gefordert hätten.
Diesen „Hinweis“ konnte man durchaus auch als Drohung verstehen. Und in der Tat verliefen die Proteste spätestens seit vergangenem Samstag auf einem schmalen Grat zwischen friedlich und gewaltsam, nachdem mehr als 500 Demonstranten verhaftet worden waren, u.a. auch Nikol Pashinyan und zwei weitere Parlamentsabgeordnete. Die Polizeistationen waren überfüllt, das öffentliche Leben kam fast zum Erliegen. Schulen, Universitäten und sogar eine Reihe von Regierungsbehörden arbeiteten nicht mehr. Aber angesichts der großen Menschenmassen blieb es weitestgehend gewaltfrei – ein großer Erfolg der Protestbewegung.
Demonstranten aus allen gesellschaftlichen Gruppen und Lagern
Im Laufe des Sonntag und insbesondere am Montag zeigten sich auf den Demonstrationen viele Intellektuelle, Jugendliche, ja sogar hochrangige Vertreter der Apostolischen Kirche, letztere obwohl deren oberster Vertreter, der Katholikos, sich eher zurückhaltend und profillos zu den Protesten geäußert hatte, sehr zum Unmut der armenischen Bevölkerung, die sich in den sozialen Netzwerken äußerte. Bemerkenswert war die auffällige Zurückhaltung der offiziellen Medien, die in der ganzen Zeit der Proteste diese, wenn überhaupt, als Randerscheinung lediglich kurz erwähnten.
Der eigentliche Wendepunkt könnte der Umstand gewesen sein, dass sich immer mehr Angehörige der Armee und der Sicherheitsdienste den Demonstranten an-schlossen! Das hatte Armenien in den letzten 30 Jahren nicht mehr erlebt. Aufgrund der besonderen sicherheitspolitischen Lage der Kaukasusrepublik spielen diese Kräfte immer eine herausragende Rolle. Der Dauerkonflikt mit Aserbaidschan wegen Berg Karabach und die bis heute nicht gelösten Probleme im Verhältnis zur Türkei führten dazu, dass im sicherheitspolitischen Denken der politisch Verantwortlichen in Armenien eine Präsenz russischer Truppen im Land als unerlässlich gilt.
Innenpolitik berührt in Armenien immer sicherheitspolitische Erwägungen
Russische Truppen stehen im Land, bewachen u.a. die Grenze zum NATO-Mitglied Türkei. Schon der Verdacht eines möglichen „Maidan“ könnte zu unübersehbaren Konsequenzen führen. Und am Dienstag, dem 24. April wollen - wie seit Jahren üblich - die Armenier des Massenmords an ihren Vorfahren im Osmanischen Reich gedenken. Die zeitliche und vielleicht gar logistische Vernetzung dieses Gedenkens mit den aktuellen innenpolitischen Ereignissen hätte wohl weitere „Sprengkraft“ in die Demonstrationen gebracht. Das Gedenken an diesen Massenmord vor mehr als 100 Jahren ist das wichtigste und alles überlagernde Narrativ armenischer Erinnerungskultur. Hier treffen sich mit Regierung, Opposition, Zivilgesellschaft und der enorm einflussreichen armenischen Diaspora auch alle gesellschaftlichen Schichten des Landes. Meldungen über Demonstrationen und Sympathiekundgebungen für die aktuellen Proteste gegen Sersch Sargsyan von Armeniern in der amerikanischen und französischen Diaspora verbreiteten sich wie ein Lauffeuer in den sozialen Netz-werken.
Amtsverzicht Sersch Sargsyans war ein Gebot der Vernunft
Vor diesem Hintergrund war der heutige Amtsverzicht des gewählten Ministerpräsidenten, der dem Kurs des Landes seit mehr als zehn Jahren ganz wesentlich seinen Stempel aufgedrückt hatte, ein Gebot der Vernunft. Als dessen Nachfolger soll nach noch nicht bestätigten Meldungen dessen bisheriger Stellvertreter Karen Karapetyan zur Wahl in der Nationalversammlung vor-geschlagen werden. Karapetyan war bereits von September 2016 bis Mitte April 2018 Ministerpräsident.
Chancen für eine nachhaltige Verfassungsreform
Die Diskussion um die Verfassungsreform wurde bisher weitestgehend von der Personalie Sersch Sargsyan dominiert. Dessen höchst widersprüchlichen Aussagen die eigene Rolle betreffend sowie die schroffen Standpunktwechsel hatten eine objektive Beurteilung auch nicht unbedingt befördert – eher im Gegenteil. Fast schon grotesk mutete es an, als auf seine Initiative hin kürzlich ein Gesetz das Parlament passierte, das es dem künftigen Ministerpräsidenten erlaubt, mit Blick auf dessen erweiterte Kompetenzen auch den bisherigen Amtssitz des Staatspräsidenten zu nutzen. „Sersch“ wollte noch nicht einmal umziehen!
Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass die neue Verfassung deutlich ambitionierter ist, als dass es ausreichen würde, sie auf diese Diskussion zu reduzieren. Gerade die Rolle und die Befugnisse der parlamentarischen Opposition würden deutlich gestärkt werden, um nur ein Beispiel zu nennen.
Armenien wahrt alle Chancen, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zum weiteren Durchbruch zu verhelfen
Obwohl sich die Proteste der letzten Tage - die massivsten und umfassendsten seit über 30 Jahren - an der Verfassungsreform entzündeten, gibt es Grund zur Hoffnung, dass die Armenier lediglich die Art und Weise des bisherigen Politikstils in ihren kritischen Fokus genommen haben. Das Land hat mit dieser Verfassungsreform auf die besondere sicherheitspolitische Situation und die aus ganz pragmatischen Gründen erfolgte Mitgliedschaft in der Eurasischen Union bei gleichzeitigem Streben nach engerer Anbindung an die Europäische Union reagiert. All diese Komponenten sollten bedacht werden, wenn in Armenien die Innenpolitik hohe Wellen schlägt.