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Eliten-Polarisierung
Es waren historische Monate in Tiflis: Erst wurde Georgien im Dezember 2023 EU-Beitrittskandidat, dann qualifizierte sich im März 2024 die georgische Fußballnationalmannschaft erstmals für die Europameisterschaft in Deutschland. Als hätten sie es vorhergesehen, veranstalteten die Berliner Philharmoniker im Mai ihr Europakonzert in Georgien. Diese Ereignisse hätten Brücken über die tiefen politischen Gräben schlagen können, die das Land seit Jahren spalten. Sie hätten Chancen bieten können, einen sachorientierten Diskurs zu beginnen und konstruktiv über Probleme und Lösungsansätze statt über Personen und Parteien zu streiten.
Tatsächlich war im Frühjahr 2024 zu beobachten, wie die politische Rhetorik weniger aggressiv wurde, persönliche Angriffe ausblieben, die Polemik aus der politischen Debatte wich. Dann gab es ein skurriles Déjà-vu: Die Regierungspartei des Georgischen Traums (GT) legte im April ein „Agentengesetz“ wieder vor, das noch im vergangenen Jahr nach massiven lokalen und internationalen Protesten hatte zurückgezogen werden müssen. Nun waren die Gräben wieder da und sie waren so tief wie noch nie seit der Unabhängigkeit Georgiens im Jahr 1991. Zudem verlängerten sie sich aus dem politischen in den gesellschaftlichen Raum. Und auch der Charakter der Polarisierung veränderte sich. Im Parlament wurde die verbale Debatte von handgreiflichen Auseinandersetzungen begleitet und auf der Straße wurde auf Proteste mit Polizeigewalt und Schlägertrupps reagiert. In dem Konflikt um das Agentengesetz wird die Polarisierung in Georgien manifest, er stürzt das ganze Land in eine existenzielle Krise, und es ist nicht klar, ob die Parlamentswahlen im Oktober diese Krise beenden werden.
Typologisch wird die Polarisierung in Georgien auch als „affektive Eliten-Polarisierung“ beschrieben, bei der es um eine „emotionale Opposition zwischen politischen Parteien in einem bestimmten politischen System“ geht. In der Tat gründet politische Polarisierung nicht notwendigerweise auf ideologischer oder sozialer Gegnerschaft. In stark polarisierten politischen Räumen wie dem georgischen basieren Konflikte häufig nicht auf ideellen Unterschieden, sondern gründen auf emotionaler Ablehnung. Dabei spielt eine Mentalität oder Identität, die durch Konfrontation geprägt ist, eine große Rolle. In der Realität drückt sich das dadurch aus, dass politische Akteure positive Gefühle gegenüber Mitgliedern der eigenen politischen Partei oder Gruppierung hegen, während sie gleichzeitig stark negative Empfindungen gegenüber Angehörigen von anderen Gruppierungen entwickeln. Dieses Phänomen führt zu ausgeprägten persönlichen beziehungsweise personalisierten Feindschaften sowie zu einer reduzierten Bereitschaft, Kompromisse einzugehen, geschweige denn zusammenzuarbeiten.
Tatsächlich ist es schwierig, klare ideologische Unterschiede zwischen georgischen Parteien auszumachen. Ihre Programmatik ist meist nur schwach ausgebildet, Parteiprofile fehlen, ebenso politische Identitäten. Es gibt auch keine nennenswerten Diskussionen darüber. Ein gutes Beispiel ist die Regierungspartei GT, die noch im Frühjahr 2023 der Parteienfamilie der Europäischen Sozialisten angehörte, mittlerweile aber den Rechtspopulisten von Viktor Orbáns Fidesz zuzuordnen ist. Die fehlende programmatische Unterscheidbarkeit der Parteien wird kompensiert durch eine holzschnittartige Rhetorik ihrer Protagonisten: eine der Hauptursachen für die Polarisierung im Land. Es geht vor allem um Krieg vs. Frieden oder um Russland vs. Europa.
Bemerkenswert ist dabei, dass sich die Mehrzahl der Wählerinnen und Wähler nicht polemische Konfrontation, sondern eine Debattenkultur wünscht, in der es um die sozioökonomischen Probleme des Landes geht (Arbeitslosigkeit, Infrastruktur, Gesundheitswesen), sowie einen konstruktiven politischen Wettbewerb, der idealerweise sogar in Koalitionsregierungen mündet. Daraus lassen sich zunächst zwei Dinge ableiten: Politische Polarisierung in Georgien beruht nicht notwendigerweise auf einer gesellschaftlichen Polarisierung und der politische Diskurs ist ein Elitendiskurs, der abgehoben und von der gesellschaftlichen Wirklichkeit sehr weit entfernt ist.
Die Polarisierung wird von ihren Protagonisten nicht als systemisches Problem anerkannt.
Ein weiteres Phänomen, das den Befund der affektiven Eliten-Polarisierung in Georgien stützt, besteht darin, dass die Polarisierung von den Protagonisten selbst nicht als ein systemisches Problem anerkannt, sondern als von außen induziert oder als notwendig betrachtet wird. In einer programmatischen Rede auf einem der Höhepunkte der Auseinandersetzungen um das Agentengesetz Ende April 2024 behauptete Bidsina Iwanischwili, der informelle Entscheidungsträger in der georgischen Politik: „Radikalismus, sogenannte Polarisierung und gelegentliche politische Turbulenzen, die unser Land und unsere Wirtschaft teuer zu stehen kamen in den vergangenen Jahren, sind von außen verursacht, in einer vollkommen künstlichen Art und Weise.“ Nata Koridze, die Chefredakteurin der unabhängigen und regierungskritischen Website civil.ge, beschreibt die Polarisierung dagegen als eine Krankheit, die Georgien durchmachen müsse, um „demokratisch zu gesunden“: „Wo Georgien im Moment steht, ist ‚Polarisierung‘ das Synonym für die Fähigkeit, gegen die Taten und Worte der regierenden Mehrheit zu protestieren, und kann nicht mehr als ein Defizit in der demokratischen Kultur eingestuft werden. Polarisierung, die sich ausdrückt im Protest gegen Vorschläge, die Georgien vom europäischen Weg wegführen, Menschenrechte und die Verfassung verletzen, ist vergleichbar mit einem hohen Fieber, das eine tödliche Infektion bekämpft. Es ist ein Zeichen dafür, dass der politische Organismus kämpft und noch lebt.“
Iwanischwili bettet in seiner Rede die von außen kommende Polarisierung in bizarre Verschwörungstheorien ein und verweist immer wieder auf eine „globale Kriegspartei“, die die Geschicke im Land zu lenken versuche. Diese Auffassung ist abwegig, denn die Polarisierung ist in Georgien recht deutlich zu lokalisieren, und es gibt intelligente Versuche, die Ursachen und Faktoren, die auf die Polarisierung Einfluss haben, zu analysieren. Koridzes Beschreibung hingegen ist vor allem emotional und gründet auf affektiver Gegnerschaft, bei der Polarisierung zu einem Instrument der politischen Auseinandersetzung wird.
Die großen Fernsehkanäle sind in erster Linie Sprachrohre ihrer politischen Klientel.
Schrumpfender politisch-medialer Raum
Polarisierung spielt sich in Georgien hauptsächlich in zwei sich überschneidenden Räumen ab: dem medialen und dem politischen Raum. Akteure eines radikalisierten Diskurses, der von Hassrede, persönlichen Angriffen, verunglimpfenden Anschuldigungen, Gerüchten und Verleumdungen geprägt ist, sind die führenden Politiker beider Seiten, Regierung und Opposition. Im August 2022 nannte der ehemalige Vorsitzende der größten Oppositionspartei den politischen Gegner eine „Partei der staatenlosen Kollaborateure“. Auf einer Pressekonferenz Mitte März 2023 sprach der damalige Vorsitzende der Regierungspartei in Bezug auf die Proteste, die das Agentengesetz (vorläufig) zu Fall gebracht hatten, von einer Kampagne „in bester Tradition des liberalen Faschismus“.
Von solchen Beispielen lassen sich derart viele finden, dass Freedom House in seinem Nations in Transit-Bericht bereits 2020 davon sprach, dass „Polarisierung und Radikalisierung der Politik und des medialen Raumes die neue Normalität des politischen Lebens in Georgien“ seien. Dieser destruktive Diskurs funktioniert nur deshalb, weil er von polarisierten und polarisierenden Medien aufgegriffen beziehungsweise sogar eingefordert wird. Die großen Fernsehkanäle sind in erster Linie Sprachrohre ihrer politischen Klientel in einem sehr engen Sinne. Das gilt für die von der Regierung teilweise oder vollständig kontrollierten privaten und staatlichen TV-Sender (TV Imedi, Post TV, Rustavi 2, Georgischer Öffentlicher Rundfunk) genauso wie für die der Opposition nahestehenden Privatsender (TV Mtavari, TV Pirveli, TV Formula). In politischen Sendungen oder Talkshows wird nicht miteinander gestritten, sondern übereinander hergezogen. Dabei gleicht die medial-politische Polarisierung mitunter einem Katz-und-Maus-Spiel: „Wir laden sie ein, aber sie kommen nicht“, sagen Journalistinnen von Oppositionssendern über Regierungspolitiker. „Wir würden ja kommen, aber sie laden uns nicht ein“, heißt es von Oppositionspolitikern über Regierungssender.
Dieses negative Zusammenspiel von Politik und Medien hat schwerwiegende Folgen für das demokratische System: „Politische Polarisierung höhlt das Vertrauen in öffentliche Institutionen aus, sie beschädigt den politischen Prozess, beeinflusst negativ die wirtschaftliche und soziale Entwicklung sowie die gesellschaftlichen Beziehungen“, heißt es in einem Beitrag von ISET, dem Politikinstitut der Internationalen Wirtschaftsschule der Staatlichen Universität in Tiflis. Diese Entwicklung korrespondiert mit einem seit Jahren dramatisch schrumpfenden politischen Raum, in dem eine sachorientierte Debatte über drängende gesellschaftliche, soziale oder sektorale Themen (Umwelt, Bildung, Gesundheit, Kultur) weitestgehend abwesend ist. Darunter leidet im Prinzip jede und jeder – mit Ausnahme der politischen Elite.
Im Angesicht der konstatierten Gefahr für die georgische Demokratie entwickelte ISET 2023/2024 den Media (de)Polarization Index als einen Versuch, die politische Polarisierung durch eine mit Instrumenten des maschinellen Lernens vorgenommene Analyse der medialen Polarisierung zu messen. Dabei werden Faktoren untersucht, die die Polarisierung im Land entweder erhöhen oder senken, wie der Ausbruch der Pandemie 2020 oder Russlands Invasion der Ukraine im Februar 2022 – beides Ereignisse, die eine vorübergehende politische Konsolidierung im Land zur Folge hatten. Der Index trägt zweifellos dazu bei, das Verständnis für die Ursachen der Polarisierung in Georgien zu erhöhen. Die These jedoch, dass Polarisierung reduziert oder sogar überwunden werden kann, indem man sich auf einen unbestrittenen Konsens in der Gesellschaft sowie unter den politischen und institutionellen Akteuren konzentriert und dass die europäische Integration Georgiens einen solchen Konsens bilden kann, ist angesichts des Konfliktes um das Agentengesetz, bei dem es genau darum geht, wie die zerstrittenen Akteure sich diese Integration vorstellen (beziehungsweise ob sie sie überhaupt wollen), infrage zu stellen.
Ein Wahlsieger in Georgien denkt nicht daran, einen Kompromiss oder gar eine Koalition einzugehen.
Nullsummenspiele
Die aktuelle politisch-mediale Polarisierung findet in Georgien in einem parteipolitischen Raum statt, der von einer Logik des Nullsummenspiels dominiert wird. Ein Wahlsieger denkt nicht daran, Kompromisse oder gar Koalitionen einzugehen, vielmehr muss der Wahlverlierer vollständig aus der Politik verschwinden, er muss marginalisiert oder sogar kriminalisiert werden. Die politischen Umbrüche in Georgien 1991, 2003/2004 und 2012 verliefen jeweils eruptiv, sie glichen Coups, Revolutionen, Umstürzen, die das Gegenteil von geordneten Machtübergaben waren. Die politischen Gegner wurden, wie der abgewählte Präsident Saakaschwili 2012, ins Exil gedrängt beziehungsweise landeten nach ihrer Rückkehr im Gefängnis. Diese Logik ist nicht nur im Zusammenhang mit Wahlen zu beobachten. Das Muster der affektiven Eliten-Polarisierung verhindert oder erschwert es massiv, dass Parteibündnisse oder andere Formen politischer Zusammenschlüsse entstehen.
Dabei hilft neben der typologischen Beschreibung der zeithistorische Kontext für die Einordnung. Es gibt Versuche, die Wurzeln der gegenwärtigen politischen Polarisierung in Georgien in den Entwicklungen Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre zu suchen und auf die Spaltungen der georgischen Unabhängigkeitsbewegung zurückzuführen. Stephen Jones, einer der führenden angloamerikanischen Georgien-Experten, nennt vier Faktoren, die die nationale Bewegung gegen Ende der Sowjetunion untergruben:
- persönliche Konflikte in Gruppierungen mit sehr ähnlichen Weltanschauungen;
- autoritäre Tendenzen innerhalb dieser Gruppierungen, die um machtvolle politische Führungspersonen gebildet wurden;
- eine aggressiv-revolutionäre Taktik in der politischen Auseinandersetzung (ein regelfreier Kampf um die Macht);
- eine „von oben“ initiierte Bildung von Parteien, bei der soziale Interessen und eine von unten kommende gesellschaftliche Lobby für bestimmte politische Anliegen keine Rolle spielten.
Die meisten dieser Faktoren sind auch heute noch gültig und sie bilden den Boden für eine seit 2012 zutiefst bipolar strukturierte politische Landschaft, die Georgien sowohl parteipolitisch-institutionell als auch diskursiv in einem permanenten Krisenmodus leben lässt. Dieser wiederum stürzt die Bevölkerung in eine tiefe Apathie und demotiviert sie nachhaltig, politisch aktiv zu sein oder zu werden. Das politische Leben in Georgien wird seit mehr als zwölf Jahren von zwei großen Parteien dominiert: der aktuellen Regierungspartei des Georgischen Traums und der ehemaligen Regierungspartei, der Vereinigten Nationalbewegungen (VNB). Hinter ihnen stehen zwei ikonische politische Persönlichkeiten: der dritte Präsident Georgiens Micheil Saakaschwili und der Oligarch Bidsina Iwanischwili. Beide sind die ausschließlichen Entscheidungsträger in ihren Parteien, ohne dies einzugestehen oder ein Mandat dafür zu besitzen: Saakaschwili befindet sich seit Ende 2021 wegen vermeintlichen Machtmissbrauchs in Georgien im Gefängnis und Iwanischwili ist eigentlich eine Privatperson, die erst seit Dezember 2023 als Ehrenvorsitzender seiner Partei wieder ein Amt innehat, das ihn dann aber auch gleich bevollmächtigte, den Ministerpräsidenten zu bestimmen. Beide Parteien und die dahinterstehenden Persönlichkeiten haben sich in einer zunehmend bizarren Form den politischen Raum in Georgien angeeignet. Bei den letzten drei Parlamentswahlen (2012, 2016, 2020) entfielen zwischen 75 und 95 Prozent der Stimmen auf GT und VNB, obwohl sich eine überwältigende Mehrheit der Georgier und Georgierinnen eigentlich ein Ende dieser toxischen Bipolarität wünscht. Gleichzeitig halten sie das Land in einer Geiselhaft, für die politische Polarisierung das essenzielle Instrument ist.
Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass – so antagonistisch sie sich gegenüberstehen – Iwanischwili und Saakaschwili mitsamt ihren Parteien einander brauchen, dass der Konflikt für beide überlebenswichtig ist. Mit der Dämonisierung der VNB und Saakaschwilis sowie einer Referenz auf das autoritäre Erbe gegen Ende seiner zweiten Amtszeit oder – umgekehrt – der Etikettierung von Iwanischwili und GT als „Russen“ oder „Russischer Traum“ sollen Wählerinnen und Wähler mobilisiert und Macht erhalten oder erlangt werden. Und noch etwas ist wichtig: Es darf keine politischen Alternativen geben.
Tertium non datur
2023 führte die Konrad-Adenauer-Stiftung zusammen mit georgischen und niederländischen Partnern eine Studie durch, bei der gefragt wurde, warum es in Georgien seit Jahren nicht gelungen ist, die parteipolitische Bipolarität zwischen GT und VNB aufzubrechen – trotz eines zunehmenden Verlangens von Wählerinnen und Wählern nach einer oder mehreren alternativen politischen Kräften. Seit 2016 hat es immer wieder Anläufe zu Parteigründungen gegeben, die sich explizit oder implizit als „dritte Kraft“ zu etablieren versuchten. Einige dieser Experimente starteten mit vielversprechenden Voraussetzungen wie prominent-populären Führungspersönlichkeiten (The State for People), Büros in den Regionen und parlamentarischer Repräsentation (European Georgia, eine Abspaltung der VNB), finanziellen Ressourcen (Lelo) oder Unterstützung von Medien (Girchi). Nach einer kurzfristigen Euphorie, die selten länger als einige Wochen dauerte, gelang es jedoch keinem dieser Projekte, die anfängliche Popularität in nachhaltige Wahlerfolge umzumünzen, obwohl die Stimmung in der Bevölkerung eigentlich einen guten Resonanzboden dafür geboten hätte. Die Studie, die vor allem auf Sekundärforschung und Fokusgruppen in den georgischen Regionen fußt, nennt mehrere Gründe für den Misserfolg der Parteigründungen, etwa das Fehlen einer klaren ideologischen oder politischen Identität, eine schwache Adressierung sozioökonomischer Probleme im Land, geringe Transparenz, schlechte Kommunikation mit Wählerinnen und Wählern und fehlende innerparteiliche Demokratie.
Die Menschen in Georgien machen neben Politikern und Medien auch Russland für die Polarisierung verantwortlich.
„Themen kümmern sie (die Parteien) überhaupt nicht. Keiner hat ein Interesse daran. Sobald sie an der Macht sind, werden sie so wie die davor.“ „Sie (die Parteien) reden untereinander, sie kommunizieren nicht mit uns, den Wählern.“ „Lasst mich eine Ähnlichkeit konstatieren: Was allen (politischen Parteien) gemeinsam ist, ist das Fehlen von Verlässlichkeit.“ So verheerend die Urteile aus den Fokusgruppen über die georgischen Parteien sind, bilden sie zugleich eine präzise Fehlerbeschreibung. Die großen Fragen, auf die auch die Studie keine konkreten Antworten zu geben vermag, obwohl sie operative Empfehlungen zu formulieren versuchte, lauten: Wie können die konstatierten Fehler in eine positive Agenda überführt werden? Was ist notwendig, um ein parteipolitisches Projekt erfolgreich zu machen? Und letztlich: Wie kann die Dysfunktionalität des parteipolitischen Systems in Georgien behoben werden?
Russland – kontrollierte Destabilisierung
Die beschriebenen internen Herausforderungen, vor denen das politische System in Georgien steht, werden durch externe Faktoren erschwert, die die Polarisierung befördern und vertiefen. Eine Umfrage von 2022 ergab, dass Georgier und Georgierinnen neben Politikern (87 Prozent) und den Medien (82 Prozent) auch Russland (83 Prozent) für die Polarisierung in ihrem Land verantwortlich machen. Erneut lässt sich dies am Agentengesetz anschaulich beschreiben: Anfang April 2024 führte der Georgische Traum in allen Umfragen mit großem Abstand, die Opposition war uneins und zersplittert, es fehlten Gesichter und die Zuversicht, die Regierungspartei bei den Parlamentswahlen im Oktober ernsthaft herausfordern zu können, war gering. Die Wahlen hätten ein Spaziergang für die Regierung sein können. Mit der Wiedervorlage des Gesetzes und den wochenlangen Protesten dagegen veränderte sich die Situation grundlegend. Viele Menschen waren alarmiert, die Wahlen galten plötzlich als ein Referendum über die Zukunft des Landes und die Opposition war entschlossen, zu gewinnen. Wenn innenpolitisch für den Georgischen Traum keine Notwendigkeit bestand, das Gesetz einzuführen, was war dann der ausschlaggebende Grund für diese Entscheidung? Viele Beobachter vermuten, dass es eine Intervention Russlands gegeben und der Kreml die georgische Regierung zu diesem Schritt gedrängt hat, wofür es mehrere Indizien gibt: Erstens wurden ähnliche Gesetze in den vergangenen Monaten in Abchasien, Bosnien (Republika Srbska) und Kirgistan eingebracht. Zweitens kopierte die Regierung in Tiflis neben dem Agentengesetz weitere politische Schritte (Verabschiedung eines Offshore-Gesetzes; Ankündigung von Verfassungsänderungen, die „LGBT-Propaganda“ unter Strafe stellen; Aufstockung der Goldreserven), die Putin in Russland in den vergangenen Jahren unternommen hat. Drittens gibt es deutliche Parallelen zu einem ähnlichen Szenario in Armenien im Jahr 2013: Nachdem die armenische Regierung über Jahre mit der EU über ein Assoziierungsabkommen verhandelt hatte und bereit war, dieses im November auf einem Gipfel der Östlichen Partnerschaft gemeinsam mit der Ukraine, Georgien und der Republik Moldau zu unterzeichnen, wurde der damalige armenische Präsident Serzh Sargsjan im September 2013 nach Moskau zitiert, wo ihm Putin erklärte, Armenien habe kein Abkommen mit der EU zu unterzeichnen, sondern der von Russland dominierten Eurasischen Wirtschaftsunion beizutreten, was dann auch so erfolgte. Ähnlich wie im Falle von Armenien 2013 will Russland heute nicht, dass Georgien mit der EU ab 2025 Beitrittsverhandlungen führt, und versucht, dies mit der Einführung des Agentengesetzes zu verhindern.
Während Russland gegenüber Armenien vor elf Jahren noch unverhohlen und mit offenem Druck operierte, ist das Vorgehen mittlerweile viel subtiler: Willfährige Regierungen sind von Russland abhängig, hauptsächlich durch Korruption, und werden dann zu Entscheidungen im Sinne des Kremls gedrängt. Iwanischwili, der De-facto-Entscheider in Georgien, ist hier ein illustres Beispiel: Er hat sein Vermögen in den 1990er-Jahren in Russland gemacht und floh Anfang der 2000er-Jahre nach Georgien, als Putin begann, seine Macht über die Oligarchen in Russland zu konsolidieren. Obwohl viele von ihnen (Fridman, Abramowitsch, Wekselberg und andere) versuchten, sich vom Kreml zu distanzieren, gelang es ihnen nie, sich den Anweisungen des Regimes Putins vollständig zu entziehen. Es gibt keinen Grund anzunehmen, so eine Analyse des European Council on Foreign Relations, dass sich dies im Fall von Iwanischwili anders verhält.
Innenpolitisch polarisiert das Agieren dieser vom Kreml indirekt kontrollierten Regierungen, was wiederum zu politischer Destabilisierung führt, wie im Falle der wochenlangen Proteste in Georgien. Durch die innenpolitische Schwächung wird die Regierung noch anfälliger für russische Einflussnahme. Dieses Vorgehen wird als „kontrollierte Destabilisierung“ beschrieben und von Russland in vielen Ländern eingesetzt. Polarisierung, die zu einer Dysfunktionalität des politischen Systems führt, spielt dabei eine Schlüsselrolle. Sie ist aber nur die Spitze des Eisbergs: Mit breit gestreuter Desinformation, Aufwiegelung von ethnischen Minderheiten und polarisierenden Narrativen („der Westen will Georgien in den Krieg ziehen“) bedient sich Russland in Georgien eines umfangreichen Instrumentenkastens. Während Polarisierung innenpolitisch den georgischen Parteien zum Machterwerb oder Machterhalt dient, nutzt Russland sie subversiv, um Abhängigkeiten zu schaffen und Kontrolle zu gewinnen. Die Entwicklungen in Georgien sind dafür ein Beispiel wie aus dem Lehrbuch.
Georgische Charta
Als Nachfolgestaat der Sowjetunion und in unmittelbarer Nachbarschaft von Russland, das 20 Prozent des georgischen Territoriums besetzt hält, hat Georgien schwache und anfällige demokratische Fundamente. Angesichts der prekären Situation vor den Parlamentswahlen am 26. Oktober hat die georgische Präsidentin Salome Surabischwili eine Initiative gestartet, die sie „Georgische Charta“ nennt. Surabischwili war 2018 als Kandidatin der Regierungspartei zur Präsidentin gewählt worden, hatte sich dann aber vom Georgischen Traum abgewandt, als dessen euroskeptische Agenda offenkundig und mit dem Agentengesetz auch wirkungsmächtig wurde. Mit der „Georgischen Charta“ schlägt sie vor, das Land nach den Wahlen für eine begrenzte Zeit von einer Expertenregierung führen zu lassen, die sich auf die Umsetzung der Empfehlungen der EU konzentriert, wonach Beitrittsverhandlungen mit Brüssel aufgenommen werden könnten und es Neuwahlen gäbe. Die Idee ist, dass diese Übergangszeit den politischen Parteien im Land Gelegenheit gibt, Programme und Profile zu entwickeln und sich personell so aufzustellen, dass sie einen sachorientierten Wahlkampf führen können, der nicht auf plakativer Propaganda oder dem manipulativen Einsatz administrativer Ressourcen, sondern auf einem fairen Parteienwettbewerb beruht und den georgischen Wählerinnen und Wählern eine Auswahl an echten politischen Alternativen bietet. Die Initiative, die von allen Oppositionsparteien unterstützt wird, soll Georgien auf den europäischen Weg zurückbringen und den russischen Einfluss im Land zurückdrängen. Sie wäre ein erster großer Schritt in Richtung „De-Polarisierung“ und könnte als solcher die Funktionalität des politischen Systems und somit die demokratischen Fundamente des Landes nachhaltig stärken.