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Am 20. Juni lud das Politische Bildungsforum Thüringen zum Erfurter-Europa-Gespräch über die ‚Veränderte Türkei‘ ein. Die Veranstaltung war Teil der deutschlandweiten Vortragsreise des Referenten Professor Dr. Mustafa Nail M. Alkan innerhalb derer der Vortrag auch in anderen Städten wie Chemnitz und Potsdam präsentiert wurde. Ziel der Veranstaltung war es die Außenpolitik der Türkei in den Kontext des türkischen Selbstverständnisses zu stellen und so eine neue Basis für den Dialog und vor allem für mehr gegenseitiges Verständnis zu schaffen.
Begrüßung
Zunächst begrüßte Maja Eib, Leiterin des Politischen Bildungsforums Thüringen, die Gäste. In ihrer Begrüßung verwies sie auf die guten deutsch-türkischen Beziehungen auf akademischer, touristischer und vor allem wirtschaftlicher Ebene, zeigte aber auch auf, dass sich auf politischer Ebene die Beziehungen Deutschlands, der EU und der USA zur Türkei deutlich verschlechtert haben. Vor allem die deutsch-türkischen Beziehungen litten in den letzten Wochen unter der Problematik um den Luftwaffenstützpunkt Incirlik. Gleichzeitig zeige sich die Türkei in letzter Zeit weniger EU-freundlich und scheint sich nach neuen Alternativen multilateraler Bündnisse, wie etwa der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit oder Freihandelsabkommen mit den Golfstaaten umzusehen. Auch die divergierenden Wertvorstellungen stellen die Beziehungen der Türkei zu Deutschland und der EU auf den Prüfstand.
Nach Eib begrüßte auch Sven-Joachim Irmer, Leiter des Auslandsbüros Türkei der Konrad-Adenauer-Stiftung, die Gäste. Irmer lebt selbst in der Türkei und berichtete zunächst von seinen Erfahrungen, um vor allem die Eindrücke, die wir in Deutschland von der Türkei haben, richtig zu stellen. Er verwies dabei darauf, dass es dem Auslandsbüro durchaus möglich sei frei zu arbeiten, sogar gute Zusammenarbeit mit türkischen Journalisten bestehe. Auch habe Deutschland nach wie vor einen guten Ruf in der Türkei. So wollen junge Leute nach Deutschland und sehen Deutschland auch als Vorbild. Auf der anderen Seite sind Jugendliche politisch desinteressiert und verfolgen vor allem den Wunsch nach wirtschaftlichem Erfolg, welcher unweigerlich mit Deutschland und dem Westen verbunden ist.
Auch dürfe man, so Irmer, nicht vergessen, dass die Türkei trotz des Putsches nicht Afghanistan sei. Dennoch habe der Putsch eine gespaltene und traumatisierte Gesellschaft zurückgelassen und das Problem der Gülen-Bewegungen deutlich gemacht.
Bezüglich des politischen Verhaltens der Türkei sieht Irmer einerseits hohen politischen Druck, der auf der Türkei lastet und somit das Muskelspiel des Staates erklärt, andererseits sieht er die Türkei aber in Bezug auf rechtsstaatliche Aspekte in der Bringschuld.
Vortrag Professor Dr. Mustafa Nail M. Alkan
In seinem Vortrag eröffnete Alkan, Professor an der Gazi-Universität im Bereich internationale Beziehungen, drei Thesen. Erstens sei die Türkei in ihrem außenpolitischen Verhalten durch das sozio-kulturelle Erbe des osmanischen Reichs geprägt. Zweitens erklärt das neue Selbstbewusstsein der Türkei das außenpolitische Verhalten. Drittens sei die Türkei in ihrer Anbindung an Europa die zögernde Haltung der EU leid, sodass entsprechendes Verhalten generiert wird.
Mit dem sozio-kulturellen Erbe der Türkei geht einher, dass sich türkische Politiker, wie etwa Erdogan nicht für Fehltritte oder Beleidigungen entschuldigen und auch ungern kritisiert werden. Auch verbunden mit dem sozio-kulturellen osmanischen Erbe ist die vom westlichen Demokratieverständnis divergierende Auffassung demokratischer Werte. So seien viele heutige Probleme durch das 1945 aufgezwungene westliche Demokratieverständnis zu erklären. Mit der osmanischen Identität gehen weitere Probleme einher, denn diese ist nicht die einzige Identität, die die gesamttürkische, komplexe Identität ausmache.
Das Selbstbewusstsein der Türkei ist keine plötzliche Entwicklung, sondern begann bereits in den 1980er Jahren mit Turgut Özal, der das 21. Jahrhundert als das Jahrhundert der Türkei verstand. In diesem Kontext wurde der Islam Bindeglied der Türkei, aber die Türkei auch zunehmend selbstbewusster in ihrer Außenpolitik. Das Problem hierbei war jedoch die Nähe zu den Krisenherden der Region. Dieses Problem trägt sich auch in den Jahren 2002-2013 unter der AKP weiter. So versagte das Null-Probleme-Konzept, das problemfreie Beziehungen zu den Nachbarstaaten etablieren sollte. Was jedoch von diesem Konzept heute noch bleibt ist das Verständnis keine Vorzugspartner mehr in den außenpolitischen Beziehungen zu halten. Dies wird letztlich zur „gewollten Einsamkeit“, das heißt einer gewollten Isolation der Türkei von Nachbarstaaten.
Bezüglich der Anbindung an Europa und den Westen war diese historisch gesehen die einzige Bündnismöglichkeit. Bereits 1959 stellte die Türkei einen Mitgliedschaftsantrag für die EWG und 1963 wurde das Ankara Abkommen unterzeichnet. Und auch wenn 2005 Beitrittsverhandlungen zur EU eröffnet wurden, so ist dieser Prozess noch lange nicht abgeschlossen. Dieses Hinhalten bedinge das Verhalten der Türkei sich nach alternativen Partnern umzusehen und auch die Frustration mit der EU. Mit der Frustration gehe auch Unverständnis einher, wie der Partner Deutschland und die EU "das Land so schlecht behandeln" können. Besonders nach dem Flüchtlingsabkommen erwartete man eine Verbesserung der Beziehungen, so Alkan. Stattdessen, so der Vorwurf der Türkei, liegen Vertragsbrüche vor. Die versprochenen Fördergelder würden nicht zeitnah gezahlt und auch das Versprechen der Visafreiheit nicht erfüllt. Auch sei man von Deutschland bezüglich der mangelnden Solidarität Deutschlands und von der Armenien-Resolution enttäuscht gewesen, da bei letzterer Deutschland in den Jahren zuvor eine vollkommen gegensätzliche Position vertrat.
Die abschließende Frage ist nun, ob sich die Türkei vom Westen abwenden wird. Alkan geht hier von einem klaren ‚Nein‘ aus. Andere mögliche regionale Partner wie Russland kommen nicht in Frage und auch die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit stellt lediglich ein politisches Machtmittel gegen die EU und NATO dar. Gleichzeitig müssen aber EU und Westen verstehen, dass sich die Türkei in ihrem außenpolitischen Verständnis verändert hat. Sie sei aktuell EU-unwillig, sucht nach Alternativen und ist selbstbewusster, versteht sich als Regionalmacht, nicht (nur) als Brücke, und handelt entsprechend.
Diskussion
In der Diskussion wurden schließlich noch einige Fragen beantwortet. So wurde hier die Frage gestellt wie es mit den vertraglichen Kriterien des EU-Beitritts, das heißt die Achtung der Menschenrechte, besonders in Bezug auf die Wiedereinführung der Todesstrafe, aussähe. Alkan führt hier an, dass auch andere Staaten Auflagen nicht erfüllt hätten und dennoch weiter verhandelt oder sogar aufgenommen wurden. Die Türkei wolle nur eine Gleichbehandlung. Zur Todesstrafe führte er aus, dass er nicht davon ausgehe, dass sie wieder eingeführt wird; den Konsequenzen wäre man sich hier bewusst.
Des Weiteren wurde die Frage nach den Ursachen des wirtschaftlichen Erfolgs der Türkei gefragt. Hier führte Alkan an, dass vor allem türkische Investitionen in die Infrastruktur ausländische Investitionen zur Folge hatten. Es seien, so Alkan zuvor in seinem Vortrag, diese Entwicklung und der damit verbundene wirtschaftlichen Erfolge und die Reformierung des Gesundheitssystems, die den Erfolg und die Unterstützung Erdogans mit erklären.
Auch die Problematik Incirlik wurde in der Diskussion noch einmal angesprochen. Alkan interpretierte das Verhalten der Türkei ganz klar als ein Machtspiel, das darin begründet liege, dass die Türkei einerseits von der Armenienentscheidung stark enttäuscht war und andererseits mit dem Misstrauen Deutschlands bezüglich der Luftaufklärung unzufrieden sei. So erhalte die Türkei nur geschwärzte Luftbilder, aus Angst, dass diese Bilder auch PKK-Stellungen preisgeben, die dann von der Türkei angegriffen werden.
Letztlich wurde noch die Frage nach Spannungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen, religiösen Minderheiten und der Islamisierung des Landes aufgeworfen. Alkan führte hier an, dass keine Spannungen vorliegen. So können Christen in Kirchen praktizieren und auch die Aleviten erfahren durch die politische Öffnung keine Verfolgung. Es wäre sodann gut, dass nun auch Frauen mit Kopftuch studieren können. Irmer wirft hier jedoch ein, dass das Problem mit den Aleviten in gewissem Maß durchaus vorhanden ist und dementsprechend beobachtet werden muss.